Korn und Kompositionen
Korn und Kompositionen
Das Kornhaus in Thun hat eine bewegte Geschichte und einige Mysterien vorzuweisen. Während seines über 250-jährigen Bestehens hat es einige Male seine Gestalt geändert – und nun sind einmal mehr umfassende Umbauarbeiten im Gange.
Text: David Heinen | Fotos: Riechsteiner Fotografie, Pascal Zaugg
Während der Bildhauer früher hauptsächlich Vorlagen für seine Plastiken skizzierte, entstanden ab 1987 eigenständige kreative Zeichnungen.
Auch heutzutage sind in der Schweiz noch viele ehemalige Kornhäuser anzutreffen. Das wohl älteste steht in der Gemeinde Diessenhofen im Kanton Thurgau; errichtet wurde es Ende des 13. Jahrhunderts im Auftrag des Klosters Sankt Katharinental. Eines der imposantesten ist dagegen in näherer Umgebung angesiedelt: das Anfang des 18. Jahrhunderts erbaute grosse Kornhaus von Bern. Sicher weniger stattlich, doch kaum weniger interessant ist das Thuner Kornhaus an der Schwäbisgasse. Die erste Erwähnung eines entsprechenden Gebäudes in jener Gegend stammt aus dem Jahr 1521. Gesichert ist, dass 1762 im Auftrag des Thuner Spitalamts ein Neubau erstellt wurde, für den die beiden Werkmeister Johann Rudolf Stähli und Conrad Storp verantwortlich zeichneten – zumindest steht es so auf der Infoplakette am Haus. Ob dies wirklich zutrifft, soll an dieser Stelle noch offenbleiben. Die Geschichte des Hauses lässt nämlich viel Raum für Spekulation.
Das Kornhaus ändert seine Gestalt
Seit 15 Jahren ist das Unternehmen Wyttenbach Innendekorationen im Kornhaus einquartiert, und Markus Wyttenbach machte sich damals gleich an die Renovation des Anbaus. Bereits sein Vorgänger hatte ein Möbel- und Teppichfachgeschäft und verkaufte in jenem Gebäudeteil die Teppiche ab der Rolle, wofür riesige Teppichgestelle notwendig waren. Als diese beim Umbau entfernt wurden, fiel der Anbau fast in sich zusammen, da die Gestelle eine stabilisierende Funktion innegehabt hatten. Der Anbau wurde deswegen mehrheitlich entfernt und in enger Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege und dem Fachausschuss neu aufgebaut. Von der Berntorgasse aus lässt sich der dabei entstandene elegante Übergang von alt zu neu sehr gut bestaunen. Dies ist aber nicht die einzige Weise, in der Markus Wyttenbach die Erscheinung des ehrwürdigen Gebäudes geprägt hat und immer noch prägt: Seit bald zwei Jahren sind auch im Kornhaus selbst umfassende Umbauarbeiten im Gange. In der ersten Etappe wurde ein neues Treppenhaus gebaut, um dem Brandschutz Genüge zu tun. Das ist inzwischen fertig, und wenn man nun durch die Ausstellungsräume von Wyttenbach Innendekorationen schlendert, kann man das imposante neue Treppenhaus bestaunen, das sich als Kubus durch das ganze Kornhaus erstreckt. Im ganzen Gebäude sind historische Elemente wie die Deckenbalken und die alten Wände zu erkennen, die in einem spannenden Kontrast zu den modernen Einrichtungsgegenständen stehen. In der zweiten Bauetappe wird nun das Dach saniert und die beiden oberen Geschosse zu Wohnungen umgebaut. Bis im Februar 2023 sollten dann diese umfangreichen Umbauten abgeschlossen sein. All diese aufwendigen Projekte werden in direktem Austausch mit der kantonalen Denkmalpflege ausgeführt – das ist Markus Wyttenbach sehr wichtig. Das Kornhaus ist ein Baudenkmal, dessen alte Bausubstanz gewürdigt werden muss. Es verträgt sicherlich moderne Elemente wie das Treppenhaus oder den Anbau, aber sie müssen in einem guten Verhältnis zu den historisch bedeutsamen Grundstrukturen stehen. Diese Einstellung spiegelt Markus Wyttenbachs berufliche Herkunft wider: Seine Ursprünge liegen im Sattlerhandwerk. Mit verrosteten Werkzeugen, einer 30-jährigen Sattlernähmaschine und einem uralten Bus gründete er nach der Lehre 1990 sein eigenes Unternehmen. Damals konnte er noch viele Aufträge des Militärs ergattern, doch ihm wurde bald klar, dass das Sattlerhandwerk kaum eine Zukunft hat, und er bildete sich in verschiedensten Bereichen weiter. Seine Wurzeln als Handwerker sind ihm nach wie vor wichtig, und so werden bei Wyttenbach Innendekorationen nicht einfach nur aussergewöhnliche Möbel verkauft, sondern auch eigene Unikate hergestellt und Reparaturen angeboten.
Auch heutzutage sind in der Schweiz noch viele ehemalige Kornhäuser anzutreffen.
Erscheinung des Gebäudes
Einige architektonische Besonderheiten fallen wohl auch Laien ins Auge. Da wäre zuerst die Laube. Was vermutlich eher überrascht: Die Laube stammt nicht vom Originalbau, sondern wurde erst 1980 bei einer Renovation errichtet. Vielleicht wollte man damit die historische Erscheinung des Gebäudes noch stärker betonen – eine Entscheidung, die einige Geschichtsforschende heute eher bedauern. Zusätzlich sind da zwei weitere augenfällige Merkmale: Einerseits wurde das Gebäude zum Teil im Riegelbau erstellt, anderseits hat es ein imposantes sogenanntes Krüppelwalmdach vorzuweisen. Der Riegelbau – auch Fachwerkbau genannt – ist eine äusserst traditionelle Bauweise und war in unseren Breitengraden sehr verbreitet. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um einen Skelettbau, bei dem die Decken nicht von tragenden Wänden gestützt werden, sondern von hölzernen vertikalen Stützen und horizontalen Trägern – eben den sogenannten Riegeln. Die dabei entstehenden Zwischenräume sind mit Mauerwerk oder einem mit Lehm verputzten Holzgeflecht ausgefüllt. Wenn man ältere Aufnahmen des Kornhauses betrachtet, fällt jedoch sofort auf, dass keine Riegel zu sehen sind. Tatsächlich wurden sie bei Umbauten freigelegt – sie gehören also zum ursprünglichen Bau, waren aber lange Jahre verdeckt. Der Gebäudeteil unter dem Riegelbau war auch früher schon gemauert. Der etwas befremdliche Name Krüppelwalmdach ist darin begründet, dass diese Dachform wie beim klassischen Walmdach auf allen Seiten geneigte Dachflächen vorweist, diese Dachflächen auf der Giebelseite jedoch nicht vollständig ausgebildet, also «verkrüppelt» sind.
Und wie sieht es nun eigentlich mit dem wahren Alter des Gebäudes aus? Als Markus Wyttenbach das Haus von seinem Vorgänger übernahm, bekam er von ihm auch einen alten, handgefertigten Ziegelstein überreicht, den dieser bei Renovationsarbeiten sichergestellt hatte. Darauf ist eine Jahreszahl eingraviert: 1699! Natürlich wäre es möglich, dass für den Bau des Kornhauses alte Ziegel verwendet worden sind, doch dies war eigentlich nicht üblich und widersprach dem Ethos der Dachdecker. Ein weiteres Mysterium stellen die Grundmauern dar. Sie weisen völlig unterschiedliche Materialien auf. Vielleicht wurden also bestehende Mauern mit neuen erweitert. Insgesamt zeigt sich, dass das Kornhaus in Thun viel Raum
für Mutmassungen bietet, und einige seiner Geheimnisse werden wohl nie aufgeklärt. Zumindest eines scheint jedoch sicher zu sein: Im Kornhaus wurde wirklich Korn gelagert – Markus Wyttenbach fand nämlich bei der Sanierung des Daches alte Getreidereste im Speicher.