Das Kleinbauernhaus – Zeuge einer vergangenen Lebensart
Das Kleinbauernhaus – Zeuge einer vergangenen Lebensart
An der Staatsstrasse 30 in Hilterfingen nahm die Seger Architekten AG ein wichtiges Unterfangen in Angriff: die Sanierung eines über 100 Jahre alten Kleinbauernhauses. Dieser Gebäudetyp war früher sehr verbreitet in der Thunerseeregion und zeugt von einer ganz bestimmten Lebensart der ländlichen Schweiz. Durch die detailgetreue Instandsetzung kann nun diese Zeit aufs Neue erfahren werden.
Text: David Heinen | Fotos: zvg
Die Architektur des Gebäudetyps folgt einer klaren Funktion, weshalb die Kleinbauernhäuser alle dieselbe Grundstruktur aufweisen und identische Raumaufteilungen haben. Das augenfälligste Merkmal ist die Aufteilung der Gebäude in einen Ökonomieteil und einen Wohnbereich. Die Bewohnenden versorgten sich zu grossen Teilen selbst, doch ihre Ländereien waren zu klein, um ausschliesslich von der Landwirtschaft zu leben. Deswegen waren sie auf Zusatzverdienste angewiesen, die sie in grösseren landwirtschaftlichen Betrieben als Knechte beziehungsweise Mägde oder in handwerklichen Berufen generierten. Die Angehörigen des sogenannten Kleinbauerntums hatten entsprechende Anforderungen an ihre Behausungen. Der Ökonomieteil ist immer gegen Norden ausgerichtet; dort ist der kälteste Bereich, und durch die dortige Lagerung des Heus wird das Gebäude isoliert. Im Erdgeschoss des Ökonomieteils befindet sich ein Stall für die wenigen Nutztiere und ein Futtergang, von wo aus sie gefüttert werden. Im oberen Stockwerk liegt das Heu, das wiederum durch Öffnungen in den Futtergang verfrachtet wird. Gegen Süden sind die Fassaden immer offen, und ein freies Treppenhaus verbindet die Wohnungen miteinander. Die Balkone dienen nicht wie heute dem Freizeitvergnügen; die Laubenzone wurde vielmehr genutzt, um die Wäsche aufzuhängen oder landwirtschaftliche Produkte zu trocknen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts konnten immer mehr Angehörige des Kleinbauerntums von ihren Nebenerwerben leben und gaben das selbstständige Bauern auf. Mit ihrer Lebensart verschwand auch der entsprechende Gebäudetyp.
Foto ca. 1960, Nutzung teilweise als Baugeschäft.
Funktionen im Wandel der Zeit
In der Region gab es früher sehr viele solche Gebäude, doch Umbauten zerstörten ihren ursprünglichen Charme fast vollständig. So sieht man ihnen als Fachperson zwar noch an, dass sie zu dem Typ gehören, doch die Grundstrukturen wurden weitgehend beseitigt. Früher gab es kaum Nachfrage nach solchen Häusern, was die umfassenden Umbauten erklärt. Doch nach und nach wurde Authentizität zu einem begehrten Gut. Das Bewusstsein dafür, dass solche Gebäude erhalten werden sollten, setzte sich immer mehr durch, und so kommen wieder vermehrt Projekte wie das an der Staatsstrasse 30 zur Realisation.
Das vom Denkmalschutz als «erhaltenswert» eingestufte Gebäude präsentierte sich inzwischen in einem desolaten Zustand.
Das Haus in Hilterfingen wurde um das Jahr 1900 gebaut und gehört damit zu den eher späteren Ausführungen dieses Typs. Wer dafür verantwortlich zeichnete, ist heute nicht mehr bekannt. Aus heutiger Sicht ist es zwar an äusserst begehrter Lage gebaut, doch sollte es nach dem oben Geschriebenen klar sein, dass es sich um keine vermögenden Leute gehandelt haben kann. Obwohl auch damals teilweise bereits Wohnungen vermietet wurden, ist es sehr gut möglich, dass ursprünglich in den drei Wohnungen verschiedene Generationen einer Familie lebten – doch mit Sicherheit lässt sich das heute nicht mehr sagen. In den letzten 100 Jahren wurde sehr wenig an dem Gebäude verändert. Selbstverständlich waren immer wieder Unterhaltsarbeiten vonnöten, doch grosse Umbauten blieben glücklicherweise aus, und so entspricht der bestehende Aufbau noch dem Original. Die Sanierungen wurden wohl kaum von Fachpersonen ausgeführt; so folgen beispielsweise die Farbanstriche nicht einer zum Gebäude passenden Gestaltung. Wohl um die Mitte des vergangen Jahrhunderts zog ein Baugeschäft in das Gebäude ein: die Hans Portmann Bau AG. Portmann war ein in der Region sehr bekannter und umtriebiger Baumeister. Obgleich das Gebäude nun natürlich nicht mehr als Bauernhaus genutzt wurde, folgte die Verwendung doch noch gewissermassen der ursprünglichen Logik. So richtete Hans Portmann im Ökonomieteil einen Werkhof ein, und im Futtergang befand sich die Lastwagengarage. Die drei Wohnungen dagegen nutze er alle als Büroräumlichkeiten. Nach dem Baugeschäft übernahm dann die Gemeinde das Gebäude. Es folgten verschiedene Verwendungen; so war bis im August des letzten Jahres in einer der Wohnungen ein Bed and Breakfast einquartiert, das NEB-Thun. Auf den 31. Januar 2021 wurde die Liegenschaft schliesslich im Baurecht an Martin und Yvonne Seger aus Hilterfingen verkauft.
Der direkte Vergleich: Das Haus vor (links) und nach der Sanierung
Zurück zu den Wurzeln
Nun wurde also die erste Totalsanierung in Angriff genommen, und die war dringend geboten: Das vom Denkmalschutz als «erhaltenswert» eingestufte Gebäude präsentierte sich inzwischen in einem desolaten Zustand. Eine der Auflagen der Gemeinde war, dass ins Gebäude Gewerbe integriert wird – man wollte den Ökonomieteil nicht leer lassen oder zu Wohnungen umfunktionieren. Teil des Projekts der Seger Architekten AG war das Vorhaben, im Ökonomieteil ihr Büro einzurichten, und sie konnte sich schliesslich gegen mehrere interessierte Gewerbetreibende durchsetzen. Für Martin Seger bedeutet dies eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Vor 30 Jahren hatte er hier von der Gemeinde bereits Räumlichkeiten gemietet und damit seine Laufbahn gestartet. Die Wahl dieses Objekts lag einerseits also sicher an der Verbundenheit mit dem Gebäude, schliesslich hatte hier ja alles seinen Anfang genommen. Doch Martin Seger kennt auch die Gemeinde sehr gut, lebt seit der Geburt hier. Zusätzlich hat er auch ein Faible für solche Gebäude und mit seinem Team grosse Erfahrung in der Sanierung von erhaltenswerten und geschützten Bauten.
Die Bewahrung der Strukturen ist mitunter das Wichtigste bei solchen Projekten. So richtet sich die Farbgebung und die Wahl der Materialien nach dem über 100-jährigen Vorbild. Dazu untersuchte ein Restaurator das Gebäude und bestimmte unter anderem die zu verwendenden Farben. Generell wurde versucht, möglichst viel zu erhalten. Gerade die Lauben mit den Brüstungen und den Eckständern zeichnen sich durch liebevollen Dekor im Schweizer Laubsägestil aus. Davon konnte das meiste übernommen und wieder instandgesetzt werden. Wo dies nicht möglich war, wurden die Holzelemente – nicht wie heutzutage üblich mit CNC-Maschinen – von Hand ausgeschnitten und rekonstruiert. Gerade dabei ist es wichtig, dass man die Ungenauigkeiten erkennt und das Ganze nicht zu sauber und steril daherkommt. Natürlich wäre es mit der CNC-Maschine günstiger, doch so verfliegt der ursprüngliche Charme.
Die Bewahrung der Strukturen ist mitunter das Wichtigste bei solchen Projekten. So richtet sich die Farbgebung und die Wahl der Materialien nach dem über 100-jährigen Vorbild.
Die Struktur erhalten bedeutet nicht nur, keine Wände einzureissen, sondern auch, dass man die Raumaufteilung beibehält. So befinden sich beispielsweise die Sanitärräume der drei Wohnungen am selben Ort wie im Originalgebäude. Natürlich musste die ganze Haustechnik, also die Elektrik, das Sanitäre usw., ersetzt werden, und es wurden Brand- und Schallschutzdecken eingebaut. Die Sanierung folgte dabei einem straffen Zeitplan: Im August wurde mit dem Umbau begonnen. So konnte das NEB-Thun noch die Sommersaison ausnutzen. Ende Jahr war das Büro bezugsbereit. Die Wohnungen werden auf Ende März fertig. Die Kosten belaufen sich dabei auf gut eine Million Franken.
Dem Gebäude soll man die Geschichte ansehen – das war dem Architekturbüro ein grosses Anliegen. Wer die Staatsstrasse entlang fährt, kann nun selbst begutachten, dass dieses Vorhaben geglückt ist. Es ist sicher richtig und wichtig, wenn vermehrt solche Projekt ausgeführt werden. Denn diese Gebäude sind nicht nur wegen der architektonischen Gestaltung erhaltenswert, sondern vor allem auch, weil sie ein Zeugnis der Lebensweise vergangener Epochen darstellen.