Bestehendes erweitern, ohne die Harmonie zu stören
Bestehendes erweitern, ohne die Harmonie zu stören
Das Knickwalmdach in der Art bernischer Campagnen ragt in den Himmel, eine halb- runde Veranda kennzeichnet die Hauptfront. Die Villa an der Jungfraustrasse und der umliegende Garten beeindrucken Besuchende mit ihrem wunderschönen Erscheinungsbild. Doch es ist auch das Innenleben, welches diesen Zeitzeugen aus dem Jahr 1925 so besonders macht. Altes und Erhaltenswertes wird hier gepflegt und mit modernen Elementen ergänzt – und dies in allen Bereichen…
Text: Anja Rüdin | Fotos: Anja Rüdin, Jürg Schmocker
Das Thun der 1920er-Jahre befand sich im Wandel, denn durch die Bahnhofsverlegung veränderte sich das Stadtbild entscheidend. Auch die Bautätigkeit verlagerte sich und so entstanden unter anderem westlich des Bahnhofs viele Neubauten, beispielsweise auch die Villa an der Jungfraustrasse.
Diese wurde damals vom Grossvater einer heutigen Bewohnerin erbaut. Er besass ein Baugeschäft und errichtete hier ein Heim für seine Familie. Seit dem Bau war das Haus immer in Familienbesitz. In der Zwischenzeit gehört die Liegenschaft den acht Bewohnerinnen und Bewohnern.
In einem sechsjährigen Planungs- und Umbauprozess wurde aus dem Einfamilienhaus ein gemeinsames Zuhause für vier Ehepaare. Ziel des Projektes war es, das Haus in vier gleichwertige Eigentumswohnungen sowie einen grossen Gemeinschaftsbereich zu verwandeln. Durch einen neuen Anbau und gewisse Umbauarbeiten im Haus selbst konnte dieses Vorhaben realisiert werden. So wurde das alte Haus samt Anbau zu einem Sinnbild für schönes, verdichtetes Bauen. Gleichzeitig legten die Bewohner und Bewohnerinnen grossen Wert darauf, den Charakter des Hauses zu erhalten und diesen an manchen Stellen erst wieder sichtbar zu machen.
Ein Zeitzeuge mit Charakter
Die massive Bauweise aus vergangenen Zeiten beeindruckt auch heute noch. Besonders weil massive Parkett- und Terrazzoböden oder Verzierungen des Reformbarocks bei heutigen Bauten kaum mehr Platz finden. Umso mehr legten die beteiligten Personen beim Umbau ihrer Villa Wert darauf, die Qualitäten des Hauses zu belassen und geschickt hervorzuheben. Mit viel Liebe zum Detail wurden zum Beispiel Dachbalken, Teile der Einrichtung oder alte Türschlösser im Stil vergangener Zeiten belassen oder nachgebaut.
Ein Ziel des Umbaus war es zudem, gewisse Eingriffe der 1950er-Jahre rückgängig zu machen und die alte Substanz des Hauses wieder zum Vorschein zu bringen. So wurden die Stuckaturen im heutigen Gemeinschaftsraum sichtbar und der Erker wieder uneingeschränkt in den Wohnraum integriert. Die originalen Futter, Fenstersimse, Bodenleisten und Böden wurden restauriert und wo nötig rekonstruiert.
Auch ohne viel Dekoration würde man sich unter den Gipsdecken und auf den alten Holzböden einfach wohl fühlen, denn eines steht fest: «So ein altes Haus hat einfach Charakter». Genau diesen galt es zu schützen, weshalb das Haus auch von der Denkmalpflege als «erhaltenswert» eingestuft wurde. Folglich konnte das Haus nicht abgerissen und ein Neubau auf das Grundstück musste so geplant werden, dass er den Vorgaben der Strukturzone S1 entsprach.
Bestehendes erhalten, Neues ergänzen
Anstatt alles zu ersetzen und zu modernisieren, wurden so viele Elemente des Hauses wie möglich erhalten. Statt die alten Sonnenstoren durch neue, praktischere Modelle zu ersetzen, wurden diese restauriert. Es sind diese kleinen Details, die dem Haus einen ganz besonderen Charme geben.
Auch das neu gebaute Treppenhaus wurde so geplant, damit es augenscheinlich zum Haus dazugehört. Von aussen wurde es an den Stil der Fassade angepasst, innen erstrahlt es aber in modernem Glanz. So stellt es eine Verbindung vom Alten zum Neuen dar – und dies wortwörtlich, denn es führt direkt in den neuen einstöckigen Eingangsbereich, welcher das alte Haus mit dem neuen Anbau verbindet.
Neben dem Umbau im Inneren des Hauses haben sich die vier Parteien auch Gedanken zum Umschwung gemacht. Aus einem eher trostlosen Nierenbecken-Teich wurde durch eine Neuanordnung der bereits vorhandenen Platten ein idyllisches Biotop, welches zur Steigerung der Artenvielfalt im Garten beiträgt. Gleiches gilt für die Blumen und Gräser auf der Trockenwiese. Die Samenmischung wurde mithilfe von «Mission B» zusammengestellt.
Eine Zeitreise von 100 Jahren…
Wer sich durch den gemeinsamen Eingang vom Haus in den neuen Holzanbau begibt, legt eine Zeitreise von 100 Jahren zurück. Dieser zeitliche Abstand zeigt sich auch im Inneren des Neubaus, wo natürliche Farben und klare Strukturen vorherrschen. Denn eines war den Bewohnern und Bewohnerinnen klar: Der Anbau soll keine Kopie des alten Hauses sein.
Vielmehr wurde das Design des Neubaus von den Materialien des Hauses inspiriert. Der Anbau besteht aus Holz und auch im Inneren wurde mit Holzwänden, -böden und Gipsdecken gearbeitet. Und wenn sich einer der Bewohnerinnen und Bewohner des Neubaus nach dem alten Charme des Hauses sehnt, stehen die Türen in der Gemeinschaftswohnung im Erdgeschoss immer offen.
So wurde das alte Haus samt Anbau zu einem Sinnbild für schönes, verdichtetes Bauen.
Die Gemeinschaft im Fokus
Der Um- und Anbau dieses Hauses aus den 1920er-Jahren hatte natürlich den Zweck, die Qualitäten des Gebäudes hervorzubringen und zu erhalten. Doch erst dieser Umbau ermöglichte den eigentlichen Wunsch des Zusammenlebens. Das ehemalige Einfamilienhaus ist heute das Zuhause von vier Ehepaaren. Obwohl jedes Paar eine eigene, kleine Wohnung hat, pflegen sie in der grossen Gemeinschaftswohnung im Erdgeschoss das Zusammenleben. Die perfekte Kombination aus Eigenem und Gemeinschaftlichem also.
Zuvor lebten alle vier Parteien in Einfamilienhäusern oder grösseren Wohnungen. Die Kinder waren ausgeflogen, der Platz eigentlich zu gross und irgendwie fehlte etwas. Der Wunsch, wieder in einem familienähnlichen Gefüge zu leben, stellte die Motivation dar, dieses Wohnprojekt zu realisieren. Schon der anspruchsvolle Neu- und Umbau des Hauses bot den zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen die Möglichkeit, die neue Gemeinschaft zu erproben und zu festigen.
Alle Entscheide werden grundsätzlich immer im Konsens gefällt. War man sich nicht einig, wurde der Entscheid vertagt. Es hat sich gezeigt, dass zu einem späteren Zeitpunkt mit der nötigen Distanz neue und kreative Lösungen gefunden werden konnten. Das Gemeinsame wird täglich in vielen Bereichen gelebt. So wird häufig zusammen gekocht und gegessen oder der Garten gepflegt. Die Gemeinschaft teilt sich ein Auto, eine Waschmaschine, ein Bügelbrett und so weiter. Via App kann bei Bedarf das Auto, der Gemeinschaftsraum mit grosszügiger Küche, das Gästezimmer oder die Sauna reserviert werden.
Dank dem gemeinschaftlichen Wohnen können sich diese acht Menschen jederzeit austauschen, unterstützen und motivieren. Diese gemeinsamen Erlebnisse machen das Zusammenleben im Haus so besonders. Es wird so wenig wie notwendig geregelt, dafür wird Flexibilität und Grosszügigkeit gelebt – ein Übungsfeld, das sie immer wieder neu bereichert. Alle acht sind sich einig, diese Wohnform bringt für sie nur Vorteile und kann auch anderen nur wärmstens weiterempfohlen werden!