Mit dem Tierarzt unterwegs auf dem Lande
Mit dem Tierarzt unterwegs auf dem Lande
Haustiere werden direkt in der Tierarztpraxis Lauenen in Thun untersucht. Nutztiere hingegen erhalten Besuch im eigenen Stall. Staunen erlaubt: Als der Schreibende um 07.45 Uhr bei der Tierarztpraxis eintrifft, ist bei Ruedi Moser bereits seit einer Stunde Hochbetrieb. Er hat heute Frühdienst, seine Kollegin und die Kollegen sind inzwischen auch eingetroffen, Cornel Boog hat bereits einen Termin hinter sich. Nonstop werden jetzt Telefonanrufe entgegengenommen.
Text & Fotos: Thomas Bornhauser
Aha, si isch stierig? Mir chöme am Namittag verby», «Zwöi Färline narkotisiere zum Kaschtriere? Ja, das geit hüt, das isch e churzi Sach», «E Sprütze für d’Chatz, di glych wie letschts Mal?» oder «Das chönnte Lüüs sy, am Schwanz, mir chöme verby», ist da zu hören. Chantal Augenstein, Urs Thalmann und Cornel Boog decken Ruedi Moser sozusagen mit den Anfragen ein und mit den voraussichtlich benötigten Medikamenten. Der Koordinator trägt die Infos von Hand in ein grosses Buch ein. Gegen 08.00 Uhr lassen die Anrufe nach: Die Bauern – die Tierärzte sind mit allen per Du – wissen, dass sie für Besuche früh nachfragen müssen.
Anhand seiner Eintragungen legt Ruedi Moser den Tagesablauf jener Tierärzte fest, die auswärts auf Tour gehen müssen. «Kleintiere kommen zu uns nach Thun in die Praxis, bei Gross- und Nutztieren gehen wir in die Ställe», erklärt er. Für Cornel Boog geht es heute Vormittag nach Höfen, Amsoldingen, Zwieselberg, Wimmis und nach Stocken. Was aber, sollte die «Bibel» von Ruedi Moser einmal abhanden gekommen sein? «Das passiert mit Sicherheit nicht, und wenn doch, hätten wir alle prima Gedächtnisse», lacht er.
Man geniesst durch dieses Fenster einen freien Blick zum Brunnen, zu den Hecken, zum nahen Waldrand und zu Jauns steilen Matten.
Gegen 08.30 Uhr fahren wir los. Das Auto von Cornel Boog ist voll und ganz auf die Bedürfnisse der Bauern und deren Tiere ausgerichtet, vollgestopft mit Medikamenten und Geräten. Will heissen: Fahrer und Beifahrer sitzen relativ aufrecht im Auto, um es einmal diplomatisch auszudrücken. Im Laufe der Anfahrt nach Höfen gibt es einen ersten Crashkurs zum Thema Nutztier-Medizin. Ausdrücke fallen wie «Aströmspülungen», «Trächtigkeit», «Fruchtbarkeitsdienst», «Gebärmutterspülung», «Eisprungkontrolle», «Pansen und Netzmagen», respektive «Blätter- und Labmagen». Es ist auch zu erfahren, dass eine Kuh «aufblähen» kann, was für das Tier lebensgefährlich ist. Der Tierarzt muss in diesem speziellen Fall eine Sonde stecken, damit Gase aus dem Pansen – an sich eine Gärkammer vor dem Wiederkäuen – entweichen können. Und wie kann eine Kuh aufblähen? «Weil sie zu viel blähendes Futter gefressen hat, Klee zum Beispiel, oder weil ein Apfel in der Speiseröhre steckt», sagt der Tierarzt».
Die Verdauung in Schwung gebracht
Einige Minuten später sind wir bei Bernhard Brügger im Mettenbühl. Ich bin von der Schönheit der Landschaft überwältigt – Stockhorn inklusive. Bauer und Veterinär begrüssen sich, Cornel Boog zieht sich um, montiert seine Stiefel (Zwischenbemerkung: Später sollte ich merken, weshalb sich Stiefel eignen, die man nur abzuspritzen braucht – meine Sportschuhe lassen noch Tage später erahnen, wo sie einmal waren). Tags zuvor ist eine Kuh besamt worden, Cornel Boog will prüfen, ob der Eisprung inzwischen stattgefunden hat oder ob «nachbesamt» werden muss, was der Fall ist, sodass ein neuerlicher Kontrollbesuch in 24 Stunden in die Agenda eingetragen wird. Bernhard Brügger erzählt von einer Kuh, die am Morgen nichts gefressen hat, aber an Durchfall leidet. Das Tier wird vom Spezialisten mit dem Stethoskop untersucht. Er diagnostiziert eine Vormagenstörung. Um die Kuh zum Fressen und so den Verdauungsprozess in Schwung zu bringen, erhält sie eine Spritze. «So, jetzt wollen wir einmal sehen, ob es nur Geringfügiges ist oder ob weitere Abklärungen notwendig sind; wenn sie auf die Spritze anspricht, wird sie bald zu fressen beginnen.» Kaum gesagt, zeigt die Kuh Appetit.
Die Tierarztpraxis Lauenen Thun
Zehn Tierärzte und fünf tiermedizinische Praxisassistentinnen stellen den Betrieb am Spittelweg 2 in Thun sicher. Folgende Dienstleistungen werden angeboten: innere Medizin, Chirurgie (wie zum Beispiel Kastration), Röntgen, Impfungen, Ultraschall, Zahnbehandlungen, Akupunktur, Labor (Blut, Harn, Kot) und Chiropraktik. Haus- und Kleintiere werden in der Praxis behandelt. Spezialisiert ist das Ärzteteam bei Nutztieren auf innere Medizin, Gynäkologie, künstliche Besamung und Geburtshilfe, Bestandesbetreuung und bakteriologische Milchuntersuchungen. Wenn immer möglich werden Eingriffe im Stall durchgeführt, komplizierte Operationen im Tierspital Bern. Der «Aktionsradius» der Tierärzte umfasst in etwa das Amt Thun, von Wimmis bis Burgistein und von Sigriswil bis Heimenschwand. Im Sommer kommen noch viele Alpbetriebe hinzu, wie zum Beispiel im Justistal.
Tierärzte gesucht
Zufall: 24 Stunden nach unserem Treffen mit Cornel Boog wurde der Beruf des Tierarztes im Regionaljournal auf DRS1 thematisiert, weil immer weniger diesen Beruf studieren und erlernen wollen. Hauptgrund: die Arbeitszeiten und -einsätze eines einzelnen Tierarztes mit eigener Praxis, die keinen «8-to-5-Job» ermöglichen. Das gilt insbesondere auch während der Nacht und an Wochenenden. Eine mögliche Alternative sei, so ein Spezialist während der Sendung, die Idee von Gemeinschaftspraxen, damit die unregelmässigen Arbeitszeiten auf mehrere Leute verteilt werden können. Wie bei der Tierarztpraxis in Thun…
In Amsoldingen werden wir von Sonja und Peter Indermühle erwartet. Hier muss eine Kuh auf Trächtigkeit, eine weitere künstlich befruchtet und eine Ziege auf Unwohlsein untersucht werden. Fazit: Priska ist trächtig – eine Kuh trägt im Schnitt 280 Tage –, Dinka wird es wohl demnächst und die mittlerweile achtjährige Ziege bekommt eine Vitaminspritze, da am Vortag eine Untersuchung durch Diana Camenzind ergeben hat, dass vermutlich nichts Gravierendes vorliegt. Sollte die Ziege in den nächsten Tagen aber keine Veränderung ihres Zustands zeigen, müssten weitergehende Tests durchgeführt werden.
Joghurts mit Ziegenmilch
aus Amsoldingen
Stichwort Ziege: Sonja Indermühle verarbeitet Ziegenmilch selber zu Joghurts, Butter und Ziger. Diese Produkte werden u.a. von Daniel und Sandra von Gunten auf dem Berner Märit angeboten. Auch «Geissenwanderungen» hat die initiative Bäuerin schon unternommen, um die Schönheit der Gegend zu zeigen. «Allerdings vorerst mit Familienangehörigen, nicht kommerziell. Aber die Wanderungen sind sehr gut angekommen.» Was wohl nichts anderes heisst, als dass diese Idee möglicherweise ausgebaut werden könnte.
Online überwachter Kuhstall
Auf der Weiterfahrt nach Wimmis werden in Zwieselberg «Medikamente abgeworfen», wie sich Cornel Boog ausdrückt. Übrigens: Unser Wagen findet die zum Teil abgelegenen Bauernhöfe wie von Geisterhand gesteuert, dem Fahrer sind alle Wege und jegliche Abkürzungen bekannt.
Als wolle er sich entschuldigen, dass heute Vormittag ausschliesslich Besuche bei Milchproduzenten mit ihren Kühen anstehen, erzählt Cornel Boog von seinem Vormittags-Einsatz tags zuvor: Geburt von Zwillingen, Entfernen von Hörnern bei einem Stier, der unter einer gefährlichen Stirnhöhlenentzündung litt, bei einem Pferd eine Speiseröhrenverstopfung lösen – und auch der Nachtdienst hatte es in sich.
Nicht ganz alltäglich präsentiert sich die Betriebsgemeinschaft Niesen in Wimmis von Daniel und Oskar Schmid sowie Adrian Lehnherr (sein Vater arbeitet im Angestelltenverhältnis): Der Hof zählt über 80 Kühe, für welche die Tierarztpraxis jede Woche einen sogenannten «Fruchtbarkeitsdienst» sicherstellt. Imposant hier vor allem das Melkkarussell, das von GEA-Spezialisten grösstenteils in Australien gefertigt wurde: In nur einer Stunde werden im Nonstop-Verfahren bis zu 80 Kühe gemolken, bei einer normalen Melkmaschine dauert es pro Tier samt Putzen des Euters sechs bis sieben, von Hand bis zu zehn Minuten, wobei Letzteres kaum mehr Anwendung findet.
Zwei weitere Besonderheiten sind hier zu beobachten, derweil sich Cornel Boog mit acht Damen beschäftigt, die in Reih und Glied geduldig auf seinen Besuch warten und die Untersuchung ohne mit den Wimpern zu zucken über sich ergehen lassen, wobei der Tierarzt nach jeder «Konsultation» seinen überlangen Plastikhandschuh auswechselt. Zum einen gehen die Kühe zur Pedicure, wo ihre Klauen abgeschliffen werden – dabei scheint es in unmittelbarer Nähe durch wegfliegende Partikel richtiggehend zu schneien –, zum anderen sind überall Kameras zu sehen, um die Kühe 24/7 online überwachen zu können, vor allem während der Nacht.
Der Lebenskreis schliesst sich
Und damit auch dies festgehalten worden wäre: «Stierig/brünstig» werden die Kühe frühestens drei Wochen nach einer Geburt. Tierarzt Boog empfiehlt jedoch eine mindestens fünfwöchige Wartezeit. «Stierig» sind die Kühe nur einen Tag – manche sogar nur ein paar Stunden – alle drei Wochen. Ein guter Bauer merkt das an ihrem Verhalten, so dass Zeugungshelfer Boog zum Einsatz kommt, falls nicht vom Stier übernommen …
Auch bei unserer fünften Station, bei Hansueli und Monika Rupp in Stocken, ist ein grosser Laufstall zu sehen, auch hier erledigt der Veterinär Routinearbeiten.
In diesem Bericht haben wir vor allem über positive Einflüsse eines Tierarztes gelesen, die Kehrseite der Medaille ist jedoch das Abschiednehmen. Kindern kann man erklären, dass man ein Tier von den Schmerzen erlösen muss, was sie verstehen, wenn auch unter Tränen. Viel schwieriger ist es, wenn ein alter, einsamer Mensch von seinem langjährigen Weggefährten Abschied nehmen muss: «Mit dem Tier stirbt auch ein Teil des Menschen selber.»
Cornel Boog
Wer glaubt, das sei ein holländischer oder flämischer Name, irrt: Innerschweiz, Luzern. 1978 in Liestal/BL geboren. Cornel Boog ist in Hölstein/BL auf einem Bauernhof aufgewachsen, deshalb der frühe Wunsch, Tierarzt zu werden. Er hat von 1998 bis 2003 am Tierspital Bern studiert, 2004 seine Dissertation geschrieben – in der Pferdeklinik des Tierspitals. Nach Stationen in Gunzwil/LU und Säriswil/BE ist er seit 2013 bei der Tierarztpraxis Lauenen, seit bald zwei Jahren auch als Teilhaber. Cornel Boog wohnt in Steffisburg. Mit Anja verheiratet, Tochter Rahel ist fünf Jahre alt, Meret 2½. Hobbies: Schwingen (früher als aktiver Kranzschwinger), Skifahren und Jassen.