Gefährdetes Juwel

Gefährdetes Juwel

Gefährdetes Juwel

Die Blauflügelige Ödlandschrecke ist ein fliegendes Juwel: Mit ihren aussergewöhnlichen Flügeln legt sie einen spektakulären Auftritt hin; gleichzeitig hat sie aber, ebenfalls dank ihrem Aussehen, auch die Kunst der Tarnung perfektio- niert. Nichtsdestotrotz gilt das Tier des Jahres 2023 als gefährdet.

Text: Laura Spielmann  |  Fotos: zvg 

Meisterin der Tarnung

Die Körperfarbe der Blauflügeligen Ödlandschrecke unterscheidet sich von Tier zu Tier, denn sie passt ihre Farbe dem Untergrund an, auf dem sie aufwächst und lebt. So entsteht eine enorme Farb- und Mustervariation: Sie reicht von fein bis gröber marmoriertem Graubraun über helles Grau bis fast zu Schwarz; aber auch ocker- und rotbraune oder gelbliche Färbungen sind möglich. Weil sie so gut mit ihrer Umgebung verschmelzen kann, ist die Blauflügelige Ödlandschrecke Meisterin der Tarnung – für die Tiere überlebensnotwendig. Sie drücken sich auf den Boden und bleiben bewegungslos. Erst bei unmittelbar drohender Gefahr fliegen sie los. Das plötzliche Aufblitzen der blauen Flügel erschreckt und verwirrt den Angreifer, was der Blauflügeligen Ödlandschrecke Zeit verschafft. Dieses Überraschungsmoment ist zwar kurz, aber lang genug, um davonzufliegen und sich ein paar Meter weiter wieder unsichtbar zu machen.


Charakteristische Flügel

Die Vorderflügel des Insekts haben zwei bis drei dunkle Querbinden, die Hinterflügel sind leuchtend blau gefärbt und weisen deutliche dunkle Querbinden auf. Sie machen das Tier unverwechselbar und sind gleichzeitig ein Farbtupfer in seinem Lebensraum, der eher karg und grau ist. Die fantastische Blaufärbung der Hinterflügel bekommt man allerdings nur selten zu Gesicht, und wenn, dann auch nur für einen sehr kurzen Augenblick. Denn die Blauflügelige Ödlandschrecke fliegt nur selten und bleibt meist getarnt. So lassen sich ihre Flügel nur im Sprung oder im Flug bewundern.

Die Länge der Tiere beträgt zwischen 5 und 30 Millimeter – je nach Entwicklungsstadium und Geschlecht, wobei die Männchen kleiner sind als die Weibchen. Im Vergleich zu den langen Flügeln sind die Sprungbeine eher kurz, aber dafür kräftig. Interessant zu erwähnen ist auch, dass die Schienen der Hinterbeine ebenfalls bläulich gefärbt sind. Der Thorax (Brustabschnitt) ist kräftig, das Abdomen (Hinterleib) dagegen eher schlank.

Bei stabilen Lebensraumbedingungen bleiben die Tiere ortstreu.

Lebensraum und -weise

Das Insekt ernährt sich hauptsächlich von kleineren Pflanzen, aber es frisst zum Teil auch Aas. Als Lebensraum bevorzugt das Tier des Jahres 2023 sonnig-warme, trockene und karge Ödlandflächen. Sein Verbreitungsgebiet reicht von Nordafrika über Westeuropa bis Südschweden. In der Schweiz ist die Blauflügelige Ödlandschrecke vor allem im Wallis und im Tessin anzutreffen. In den nördlicheren Gebieten lebt sie nur an wärmebegünstigten Stellen. Man findet das Insekt also beispielsweise in Kiesgruben, auf Flussschotterflächen, in Felsensteppen, entlang von Eisenbahnlinien oder in lückig bewachsenen Wiesen und Weiden. Die dort vorhandene lockere Krautschicht ist wichtig, denn sie schützt die Tiere und deren Larven vor übermässiger Erwärmung und Austrocknung.

Die Blauflügelige Ödlandschrecke ist wenig wanderfreudig – nur Bewegungen bis 300 Meter sind belegt. Bei stabilen Lebensraumbedingungen bleiben die Tiere ortstreu. Sie sind ausserdem sehr gut an das Leben auf dem Boden angepasst. So bewegen sie sich fast ausschliesslich gehend, obwohl sie durchaus auch gute Flieger sind. Ihre Kletterfähigkeiten beschränken sich auf das Übersteigen kleinerer Hindernisse und Gegenstände. Doch die Tiere sind Meister im Weitsprung: Mit ihren stark ausgebildeten Sprungbeinen und ihrer beeindruckenden Muskelkraft können sie das 50-Fache ihrer Körperlänge springen.

Die Blauflügelige Ödlandschrecke produziert leise, kaum hörbare Laute. Sie ist ausserdem in der Lage zu singen. Im Unterschied zu manch anderen Schrecken zeigt sie kein Balzverhalten. Stattdessen suchen die Männchen die Umgebung aktiv nach Weibchen ab. Haben sie eines gefunden, kann es allerdings zu einem kurzen Zirpen kommen. Dann bewegen sie sich zum Weibchen hin und besteigen dieses. Ein paarungswilliges lässt es geschehen, ein paarungsunwilliges dagegen wehrt das Männchen ab. Nach der Paarung legt das Weibchen rund 120 Eier in lockeren, sandigen oder erdigen Boden mit schütterer Vegetation, indem es seinen Hinterleib, ausgestattet mit einem Eiablageapparat, tief in die Erde bohrt. In der kalten Jahreszeit sterben die erwachsenen Individuen, doch die zuvor gelegten Eier überwintern. Die Larven schlüpfen in der Schweiz gegen Ende April oder Anfang Mai des Folgejahres. Sie durchlaufen vier bis fünf Entwicklungsstadien und passen sich mit jeder Häutung farblich dem Untergrund an. Die Larven sehen den erwachsenen Tieren ähnlich, besitzen aber noch keine Flügel und sind kleiner. Ausgewachsene Tiere findet man ab Juni; aktiv sind sie bis November.


Gefährdetes Insekt

Die Blauflügelige Ödlandschrecke steht als Tier des Jahres 2023 von Pro Natura für die Vergänglichkeit der Naturparadiese und ist Botschafterin für die Biodiversitätskrise. Das Insekt macht auf den Verlust trockenwarmer, artenreicher Lebensräume in unserer Landschaft aufmerksam. Denn es hat mit Lebensraumverlusten zu kämpfen, und seine Zahl ist stark rückläufig. Die Blauflügelige Ödlandschrecke ist deswegen in ganz Europa geschützt und wird in der Roten Liste der Schweiz als gefährdet eingestuft. Konkrete Gründe dafür sind unter anderem die Nutzungsintensivierung, die Zersiedlung, das Auffüllen von Kiesgruben und das Verbauen von Erosionshängen. Ferner ist die Vorliebe des Insekts für karge, für die Landwirtschaft wenig lohnende Auenlandschaften eine Ursache. Auch wenn die Zerstörung der Flusslandschaften sowie die Intensivierung der Landwirtschaft und der Landnutzung die Blauflügelige Ödlandschrecke stark bedrohen, so profitiert sie doch zumindest teilweise von der Klimaerwärmung. Denn die wärmeren Temperaturen begünstigen grundsätzlich die Entstehung ihres Lebensraums – ohne zielgerichtete Pflege verschwinden diese neuen Lebensräume jedoch wieder. Damit die Lebensräume des Insekts erhalten und die Bestände gesichert werden können, sind gezielte Massnahmen nötig. Kiesgruben, Bahnareale oder anderes Ödland mögen Ersatz bieten, aber auch diese Flächen sind vergängliche Naturparadiese und müssen gezielt gepflegt werden, damit sie für die Tiere bewohnbar bleiben. Noch wichtiger aber wäre es, die ursprünglichen Lebensräume des Insekts zu schützen. Denn der Rückgang der Blauflügeligen Ödlandschrecke könnte schwere Folgen haben, da sie Teil vieler Kreisläufe der Natur ist.

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