Otto Tschumi – Surreale Welten: Ausstellung im Schloss Spiez

Otto Tschumi – Surreale Welten: Ausstellung im Schloss Spiez

Otto Tschumi – Surreale Welten: Ausstellung im Schloss Spiez

Die diesjährige Sommerausstellung im Schloss Spiez ist dem Berner Maler, Zeichner und Grafiker Otto Tschumi (1904–1985) gewidmet. Als einer der bedeutendsten Vertreter des Schweizer Surrealismus schuf er einen tiefgründigen Kosmos in leuchtender Farbigkeit und voller surrealer Traumgebilde, die Raum schaffen für die Fantasie. In seinen poetischen Bildfindungen scheint nicht selten sein untrüglicher Humor durch.

Text: Therese Bhattacharya-Stettler, Dominik Tomasik | Fotos: zvg

tto Tschumi stammte aus einfachen Verhältnissen, wie er selbst sagte. Der Vater verdiente den Lebensunterhalt mit einem Pferdefuhrwerk, während die Mutter als Näherin arbeitete. Er wurde am 4. August 1904 in Bern geboren (amtlich in Bittwil BE), hier verbrachte er seine Jugend. Schon mit sechs Jahren benötigte er eine Sehhilfe, unter der er in seiner Kindheit sehr zu leiden hatte. Später nutzte Tschumi seine Beeinträchtigung zu seinem Vorteil und setzte zeitlebens die markante Brille als auffallendes Attribut in seinen zahlreichen Selbstbildnissen ein. Nach Abschluss der Primarschule kamen weitere Probleme, zumal die Berufswahl Tschumi vor ein Dilemma stellte. So schrieb er später: «Ein Kind eines Camionneurs darf nicht Maler werden.» Er versuchte sich zunächst als Heizungstechniker, Architekt, Chemigraf und Lithograf, bis er schliesslich als Grafiker Fuss fasste. Er selbst bezeichnete sich als Autodidakten, wobei er bis 1925 Kurse an der Berner Gewerbeschule beim Künstler Ernst Linck nahm. Seine Leidenschaft für zeitgenössische Kunst stiess bei Kollegen auf Unverständnis: «Man hält mich wieder nicht für normal. Im Abendakt schütteln die Leute den Kopf, weil ich von Picasso und Klee begeistert bin.» Werke von Klee konnte er bereits 1919 in der Kunsthalle-­Ausstellung in Bern sehen; dort ergab sich 1922 auch die Gelegenheit, Werke von Picasso kennenzulernen.

Tschumi entwickelte schon früh seine ei­gene unverwechselbare Bildsprache – mit grosser Einbildungskraft zeichnete er zu Beginn nicht nur dichte, kubistisch anmutende Stadtansichten, sondern bereits auch fantasievolle, verspielte Blätter für diverse Zyklen.

Erstmals konnte er 1925 eines seiner Werke ausstellen – an der XVI. Nationalen Kunstausstellung im Kunsthaus Zürich. Im selben Jahr reiste er nach Paris, wo der Künstler Serge Brignoni lebte – den er schon aus der Jugendzeit kannte. Hier hatten kurz zuvor eine Handvoll Literaten und einige Maler am 15. Oktober 1924 ein erstes von André Breton formuliertes Manifest unterschrieben – der Pariser Surrealismus war geboren. Zu dessen Merkmalen gehörte die Sichtbarwerdung des Unbewussten, nachdem Sigmund Freud um die Jahrhundertwende die Psychoanalyse begründet und sich intensiv mit Traumdeutungen beschäftigt hatte. Dieses für den Surrealismus massgebliche Prinzip des Unbewussten war für Tschumis Werk von nachhaltiger Bedeutung, zumal er damit seinen eigenen Stil entwickelte, den er bis zum Schluss stetig zu perfektionieren wusste.

Nach seiner Rückkehr arbeitete Tschumi in Bern zunächst wieder als Grafiker. Doch die Sehnsucht nach der Ferne führte ihn 1930 erneut nach Paris sowie 1931 nach München und 1933 nach Berlin, wo er sich mit dem deutschen Expressionismus konfrontiert sah.

Zurück in Bern lernte er die Tänzerin Beatrice Gutekunst (1901–2000) kennen. Die Tochter des Kunsthändlers Richard Gutekunst begleitete ihn fortan bis an sein Lebensende. Nach einem Zwischenhalt in London übersiedelten sie 1936 nach Paris. Die allgemeine Atmosphäre der Stadt, insbesondere die Kunst ihrer Zeitgenossen, war für das kreative Ehepaar anregende Inspirationsquelle. Hier lebten neben Brignoni auch andere namhafte Schweizer Künstler wie Alberto Giacometti oder Kurt Seligmann. In Hans Arp, Max Ernst und Salvador Dalí fand Tschumi weitere Geistesverwandte, deren Schaffen ihn beflügelte. Wenn er sich auch von ihren Aktivitäten fernhielt, so bestärkten sie Tschumi doch darin, sich der unbändigen Kraft der Fantasie hinzugeben – und das auf eigenen Wegen.

Von der Kunst leben konnten Tschumis lange nicht; Otto hatte nach dem Tod seines Grossvaters eine kleine Erbschaft gemacht, und Beatrice hatte unter anderem Gelegenheit, als Tänzerin aufzutreten. Auch als die damals renommierte Pariser Galerie Jeanne Bucher 1937 Tschumi eine erste Einzel­ausstellung ermöglichte, wurden nur zwei Werke verkauft.

Kurz vor Einmarsch der deutschen Wehrmacht bestiegen Tschumis zusammen mit Brignoni im Juni 1940 den allerletzten Zug zurück in die Schweiz, wo sie sich zuerst im Tessin, später in Bern niederliessen.


«Ein Surrealist aus innerer ­Notwendigkeit» 

So umschrieb ihn 1961 der damals neue Leiter der Kunsthalle Bern, Harald Szeemann, als er ihm dort gleich eine Ausstellung ­widmete. Tschumi wandte sich vermehrt von den gelegentlich noch auftretenden geometrischen Formen ab, um seine ganze surreale Fantasiewelt ausleben zu können: Traumgebilde und Wunderwesen bevölkern zusehends seine Bildwelt, während Verfremdungen und fantastische Perspektiven sein bildliches Vokabular erweitern.

Der Surrealismus hatte als Strömung bereits die Schweiz erfasst. Neben Ausstellungen in Zürich (1929) sowie in Luzern (1935) verbanden sich Kunstschaffende zu Künstlervereinigungen wie 1937 zur «Allianz», für deren Ausstellung Tschumi Werke zur Verfügung stellte. Trotzdem lag Tschumi nichts ferner, als sich in eine Schublade einordnen zu lassen.

Tschumi war als Künstler ein Einzelgänger, der unermüdlich an seinem sehr eigenständigen, poetischen «Tschumi-Surrealismus» arbeitete. Dabei deckte sich die Experimentierfreude der Surrealisten mit Tschumis Anspruch, sich gründlich mit unterschiedlichsten Materialien und Gestaltungsmitteln auseinanderzusetzen. Er war ein Meister in Form und Farbe, der an technischer Perfektion kaum zu überbieten war. 

 Seine Unabhängigkeit zeigte sich nicht nur im Einsatz bildnerischer Techniken, sondern besonders auch in seiner Themenwahl. Neben Selbstbildnissen, figürlichen Darstellungen und Stillleben ist es vor allem die Tierwelt, die ihm ans Herz gewachsen war; so setzte er Pferde, Vögel, Stiere und besonders gerne Katzen ins Bild, denen er immer wieder schwungvolle Porträts widmete.

Vergnügen bereiteten ihm Metamorphosen aller Art: menschliche Gestalten, abstrakte Pflanzengebilde, die wie merkwürdige ­Architekturen in geheimnisvoll-poetischen Traumlandschaften wachsen, skurrile Gesichter, reale Formen, die in surreale Formen zerschmelzen. Stets wartet der unermüd­lich Schaffende mit einfallsreichen Überraschungen auf. Dabei scheinen der Ideenreichtum und die Erfindungslust einem inneren Drang des Künstlers zu entspringen.

«Arrivieren und Geldverdienen haben mich nie interessiert, dafür habe ich meist fleissig gearbeitet. Vor allem einen tüchtigen Ackergaul vor mir gehabt. Die Phantasie.»

Schiffsmotive 

Seit er 1942 Melvilles «Moby Dick» illustriert und 1952 die Schiffsfahrt in die USA erlebt hatte, nahmen Bilder mit Schiffen und Booten einen wichtigen Platz in Tschumis Werk ein. Die Amerikareise mit all den neuen Eindrücken war ohnehin ein Wendepunkt in Tschumis Leben, und das Schiffsmotiv wollte ihn nicht mehr loslassen. Wie schon in seinen Szenen mit Friedhöfen lotet er mit seinen Häfen, Dampfern und Schiffswracks auch die trübe Metapher der Vergänglichkeit des Menschen in der Welt aus.

Wenn auch Tschumi in seinen Traumbildern nach versunkenen Schiffen und abgeschiedenen «Gottesackern» suchte und über den Tod reflektierte, ereilte ihn dennoch immer wieder eine gewisse Unbeschwertheit. Sein vielschichtiger und spielerischer Umgang bei seinen Bildfindungen war für ihn gewissermassen existenziell. Durch das Zusammenfügen all der wesensfremden Dinge schaffte er Platz zum Assoziieren, wobei oft eine ausgeprägte Ironie aufblitzt. Letztere hat er wiederholt auch in Texten bewiesen, etwa wenn er seine Erfahrungen in Tagebüchern beschrieb: «Immer geht’s den gleichen Gang, vorwärts, und schlussendlich muss alles sterben. Das ist doch traurig.»

Der bekannte Berner Galerist Eberhard W. Kornfeld, der dem Künstler regelmässig Ausstellungen widmete, brachte 1972 das Phänomen Tschumi auf den Punkt: «Ein Werk, surreal im wahrsten Sinne des Wortes, über der Realität stehend, aber damit eine neue Realität schaffend. […] Kunst, die ewig jung zu sein scheint, keiner Dok­trin verpflichtet ist und die keine Verpflichtung eingeht, es sei denn die der künstlerischen Perfektion, im Formalen wie im geistig Hintergründigen.» Diese ewige Jugend wird diesem Werk so schnell nicht abhandenkommen, und das ist nicht nur für Tschumi tröstend. Als fantasierender Out­sider schuf er mit seinen poetisch-ironischen Tönen einen eigenständigen Stil, der ihm bis heute einen bedeutenden Platz im Schweizer Surrealismus gesichert hat.

Wandbild im Schulhaus Dürrenast 

Zur Vielfalt von Otto Tschumis Schaffen gehören auch diverse öffentliche Auftragsarbeiten wie Wandbilder (Eidgenössische Oberzolldirektion, Bern) oder Mosaike (Gymnasium Neufeld, Bern). 1958 wirkte Tschumi auch in der Region Thun. Für das Schulhaus Dürren­ast schuf er ein 6 × 10 Meter grosses Wandgemälde, das bis heute das Treppenhaus schmückt. Neben einer Szene beim Eingang mit dem Minnesänger und Spiezer Schlossherrn Heinrich von Strättligen konnte er auch hier am Thunersee das Schiffsmotiv nicht ausser Acht lassen:   «Das Thema war bald gegeben: Dürrenast, Hafen des Thunersees und auch Asyl der alten Dampfschiffe […] Also kam dieser leise gegen sich selber wiegende Dampfer in den Entwurf. Für mich hätte ich am liebsten selber einen dieser zum Sterben verurteilten alten Dampfer als Wohnsitz gekauft.» Otto Tschumi

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