Spieglein, Spieglein an der Wand...

Spieglein, Spieglein an der Wand...

Spieglein, Spieglein an der Wand...

Mit seinen Arbeiten geht der Thuner Künstler Paul Le Grand der Fragestellung von Wahrnehmung und Interpretation der sogenannten Realität auf den Grund. Er hat deshalb das Spiegelglas zum bevorzugten Material für seine Werke ausgewählt und lässt dadurch neue Dimensionen entstehen und auch hinterfragen. 

Text: Christine Hunkeler  |  Fotos: Christian Helmle, Christine Hunkeler 

Paul Le Grand ist in Thun aufgewachsen und hat die offizielle Schule und auch das Gymnasium hier besucht. Für ihn war aber klar, dass er nicht studieren wollte, und er hat sich bei der Ecole Supérieure d’Arts Visuels in Genf beworben. Paul Le Grand hat es gerade in der aktiven Phase der 68er-Bewegung nach Genf geschafft, und während dieser Zeit war viel Diskutieren über die aktuelle Bewegung unter Gleichgesinnten in zahlreichen Beizen angesagt. Aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch aus Interesse an unterschiedlichen Arbeitswelten stand Paul Le Grand lange Zeit im Spannungsfeld zwischen Kunst und zahlreichen unterschiedlichen Jobs: Tätigkeiten wie Theater-Beleuchter, Dachdecker, Maler, Chauffeur, Gärtner und Lektor befruchteten seine Arbeit als Künstler. 1979 ist er nach einem zweijährigen Zwischenhalt in Bern nach Thun zurückgekehrt, wo er eine Familie gründete. Paul Le Grand ist Vater von zwei erwachsenen Kindern.

1988 hat Paul Le Grand das Louise Aeschlimann und Margareta Corti-Stipendium der Bernischen Kunstgesellschaft für sein Schaffen erhalten. Es ist das bedeutendste private Kunststipendium des Kantons Bern. Von der Stadt Thun erhält Paul Le Grand für sein künstlerisches Wirken im In- und Ausland den mit 10000 Franken dotierten Kunstpreis 2017. Die Preisverleihung ist öffentlich und findet am 3. November im KKThun statt.

Georg L. Dolézal war von 1975 bis 1999 Direktor des Kunstmuseums in Thun und hat zu seiner Zeit eine Ausstellung zum Thema «Junge Thuner Künstler» ins Leben gerufen. Für Paul Le Grand war dies der Auslöser, richtig in die Kunstszene einzusteigen. In Thun entwickelte sich in der Folge die sogenannte «Mühligruppe», die in den ehemaligen Thuner Mühle-Gebäuden, wo früher Korn zu Mehl verarbeitet wurde, eine Heimat fand. Diese Künstlergemeinschaft setzte sich aus Reto Camenisch, Hanswalter Graf, Paul Le Grand, Ruedi Guggisberg, Wilfried von Gunten, Christian Helmle, Jakob Jenzer und Peter Willen zusammen und hatte regelmässig gemeinsame Ausstellungen an verschiedenen Orten. Die Thuner Künstlerszene war zu diesem Zeitpunkt noch klein, aber langsam wurde ausserhalb registriert, dass sich in der Thuner Kunstszene Interessantes tat. Irgendwann hatte sich die Gruppe überlebt, und es folgte der Drang nach Emanzipation. Jeder Künstler folgte nun seinem eigenen Weg. Von grosser Bedeutung für die Kunstszene in Thun war die Nachfolgerin Dolézals, Madeleine Schuppli, welche bis ins Jahr 2007 Direktorin des Kunstmuseums war. Sie brachte frischen Wind in die Thuner Kunstszene und es kamen Ausstellungen nach Thun, die nicht nur national, sondern auch international Bekanntheit erlangten.

Es waren die Land Art und die abstrakten Expressionisten wie der US-Amerikaner Walter de Maria und der bulgarische Künstler Christo, welche eine grosse Faszination auf Paul Le Grand ausübten. Seit 1980 stellt Paul Le Grand seine Werke in Innen- und Aussenräumen aus. Eine seiner ersten Installationen hat er auf der grossen Matte im Hüneggpark in Hilterfingen mit dem Namen «Landufer» platziert. Die metallenen Zäune wirkten wie eine virtuelle Höhenkurve mitten im Park. 

Ein Floss aus Glas, welches er in den 80er-Jahren an der Bächimattpromenade am Aarekanal in Thun installiert hatte, wurde leider nach nur zehn Tagen durch ein schlimmes Unwetter zerstört. Bis heute beteiligt sich Paul Le Grand schweizweit an zahlreichen Ausstellungen. Auch im Raum Thun sind einige seiner Arbeiten zu sehen. 

Paul Le Grand geht mit seinen Arbeiten der Fragestellung von Wahrnehmung und Interpretation der sogenannten Realität auf den Grund. Er setzt sich tief mit dem Thema Identität auseinander und auf spielerische Weise lotet er die Wechselbeziehung zwischen Oberfläche und Wesenheit aus. Mit seinen Überlegungen untersucht er das Phänomen der Spiegelung und stellt eigentlich die Interpretation der Wahrnehmung in Frage. Deshalb hat er in den 90er-Jahren das Spiegelglas zum bevorzugten Material für seine Arbeiten ausgewählt. Ein Spiegel ist ein zweidimensionaler Gegenstand, der aber aufgrund seiner Spiegelung unmissverständlich auf die dritte Dimension verweist und somit zum Träger des bewegten Bildes wird. Wenn wir vor einem Spiegel vorbeilaufen oder in einen Spiegel blicken, so verändert jede kleinste Bewegung auch das im Spiegel sichtbare Bild. So wird mit jedem neuen Blick auch eine neue Perspektive wahrnehmbar. Jedes Bild, welches wir in einem Spiegel beobachten, ist in diesem Moment ein Unikat und kann nicht festgehalten werden, ausser wir fangen diesen Moment, der aufs Endlose betrachtet wie ein Hauch von Nichts wirkt, mit der Kamera ein. Letztendlich aber: Was bleibt von einem Spiegelbild, wenn der Spiegel zerbricht? 

Mit der Kunstarbeit «Narziss» hat Paul Le Grand die Wasseroberfläche eines Teiches als Spiegelung verwendet. Er hat zwei Stelen, die sich gegenüberstehen, in diesen Teich gestellt. Diese beiden Abgüsse von jungen Buchenstämmen, in welche je ein farbiges Glaselement eingelassen ist, stehen, so wie sie in den Teich platziert wurden, im Dialog zueinander. Wenn man ins Glaselement schaut, sieht man nicht sich, sondern wird auf etwas anderes in der Umgebung hingewiesen.  Paul Le Grand hat sich zu diesem Thema ausführliche Gedanken gemacht: Wenn Narziss im Teich sein Spiegelbild bewundert und auf dieses fixiert ist, kann er durch die Oberfläche des Wassers nicht auf den Grund des Teiches schauen und ist auch nicht in der Lage, die vielen weiteren Dinge, die sich im Wasser spiegeln, wahrzunehmen. Er sieht nur sich, respektive sein Spiegelbild oder so was wie einen «Zwillingsbruder». Was ist aber, wenn Narziss seine Aufmerksamkeit nicht auf sein Spiegelbild im Teich lenkt, sondern auf den Vogel, der soeben über den Teich fliegt, oder die Baumkronen des gegenüberliegenden Ufers, die sich im Wasser spiegeln? Der Wasserspiegel wird so zu einem alles umfassenden dreidimensionalen Film in Echtzeit. 

Bei einem weiteren Werk, dem «Treppentaucher», wurde in einem Treppenhaus ein Spiegel montiert. Wenn wir die Treppe hochlaufen, können wir durch eine Spiegelebene auftauchen, wenn wir die Treppe runterlaufen, tauchen wir durch die Spiegelebene unter. Jedenfalls solange unser «Zwilling» sichtbar im Spiegel zu sehen ist. Mit der ganzen Spiegelthematik will Paul Le Grand Vordergründiges hinterfragen und mehr auf das Dahintersehen aufmerksam machen.

Damit Paul Le Grand seine Werke umsetzen kann, arbeitet er seit dreissig Jahren mit dem Metallbauer Hans Peter Stauffer zusammen. Erste Ideen visualisiert Paul Le Grand in Skizzen. Einige verschwinden in der Schublade, bei anderen wird über die technische Umsetzung und eine mögliche Materialisierung nachgedacht. Aufgrund dessen fertigt Paul Le Grand zum Teil Modellskizzen der Arbeit, respektive Raummodelle für deren Platzierung an. Ein nächster Schritt sind dann technisch vermasste Skizzen. Mit dem Metallbauer zusammen werden im Anschluss die Machbarkeit überprüft und Fragen zu Technik oder zur Statik und die Herstellungsabläufe geklärt. Die Metallarbeiten werden dann sinngemäss ausgeführt. Eine Standardisierung bei den Werken von Paul Le Grand gibt es nicht; hinter jeder Arbeit steht ein eigener Entwicklungsprozess.

Bei der Frage, wer Paul Le Grand als Mensch eigentlich ist, antwortet er, dass ihm Gleichgewicht und Harmonie viel bedeuten. Gegensätze faszinieren ihn, ihn interessiert es, sie in ein Gleichgewicht zu bringen. Dadurch öffnen sich neue Horizonte, wie er sagt. Der Aufenthalt in der Natur gibt Paul Le Grand für seine Arbeit mehr, als es die Technik vermag. In der Natur kann er wesentliche Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln, die er in seinen Arbeiten umsetzen kann. Er mag Beiläufiges, Längerfristiges, Dinge, die da sind, die etwas zu sagen haben, aber nicht so in den Vordergrund gerückt sind, dass man sie überhaupt sehen muss. Wir können uns das vorstellen wie zum Beispiel früher auf dem Schulweg. Unzählige Male sind wir vielleicht an einem Objekt vorbeigelaufen, haben es zwar wahrgenommen, ihm aber keine Bedeutung beigemessen. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, erlangt dieser Gegenstand Bedeutung. 

Und was zeigt ein Spiegel, wenn wir nicht hineinschauen?

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