Sophie Calle Regard incertain

Sophie Calle Regard incertain

Sophie Calle Regard incertain

Das Kunstmuseum Thun zeigt erstmalig eine umfangreiche Ausstellung zur französischen Künstlerin Sophie Calle. Die Ausstellung ist eine Kooperation mit dem Fotomuseum Winterthur und wurde dort mit anderem Fokus bereits im Sommer 2019 gezeigt. In Thun sind diesen Herbst acht Werkgruppen zu sehen, die einen umfangreichen Einblick in das Schaffen der Fotografie-Ikone geben.  

Text: Elsa Horstkötter   |  Fotos: zvg

Sophie Calle zählt zu den wichtigsten lebenden Konzeptkünstlerinnen Frankreichs. Seit über 35 Jahren zieht sie mit ihren Ausstellungen weltweit ein breites Publikum an. Das mag daran liegen, dass ihre Arbeiten sich um die drei grossen Themen Leben, Liebe und Tod drehen. Es mag auch daran liegen, dass ihre Kunst häufig verspielt und sehr oft voyeuristisch ist. Oder daran, dass man sich in ihren Arbeiten immer auf zweifache Art posi- tionieren kann, nämlich entweder als derjenige, der das Bild betrachtet, oder als derjenige, der betrachtet wird. Sicher ist, dass uns Sophie Calles Fotografien, Filme und Texte berühren. Sie treffen in uns einen Nerv, weil sie sich über die verhandelten zwischenmenschlichen Themen nie wirklich vom Zeitgeist entfernen. In der Schweiz ist Sophie Calle zum ersten Mal in einer Einzel- ausstellung zu sehen. 


Siebenjährige Weltreise in jungen Jahren

Geboren 1953 in Paris, arbeitet Sophie Calle in ihrer Jugend in Bars und bricht früh zu einer siebenjährigen Weltreise auf. Auf dieser Reise entdeckt sie ihre Liebe zur Fotografie und hält das, was sie beobachtet, in Bildern fest. Diese Reisedokumen- tationen zeigen bereits das künstlerische Interesse, das sie bis heute beibehalten hat. Es ist eben diese verspielte und voyeuristische Art und Weise Personen, Situationen und deren Geschichten zu bannen. So läuft sie beispielsweise in Kalifornien Passanten nach und fotografiert sie in regelmässigen Abständen. Nach ihrer Rückkehr folgt sie einem Mann aus Paris sogar bis nach Venedig, hängt sich an ihn wie ein Detektiv. Es entsteht daraus eines ihrer frühen Schlüsselwerke «Suite vénitienne» (1980): Zahlreiche Fotos, begleitet von tagebuchähnlichen Texten, die nicht nur die Methoden ihrer Be- schattung, sondern auch ihre eigenen Gefühle dabei beschreiben, belegen ihre Detektivarbeit. Es zeigt sich darin die mittlerweile für Calles Schaffen so bezeichnende Verschmel- zung von investigativen Methoden, fiktionalen Konstrukten und Abbildungen des realen Lebens sowie der Konstruktion des eigenen Ichs. In einem anderen Projekt lässt sie sich beispielsweise als Zimmermädchen anstellen, um frisch hinterlassene Hotelzimmer zu dokumentieren. 

Nie eine Kunstschule besucht

Obwohl das Œuvre von Sophie Calle handwerklich weit über autodidaktisches Fotografieren hinausreicht, hat die Künstlerin nie eine Kunsthochschule besucht. In Konzeptkunst, Installationen, Fotografien und Texten geht sie den Übergängen von Realität zu Fiktion, von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung nach. Üblicherweise bedingen sich die verwendeten Medien, das heisst, ein Foto wird nur mit Text verständlich, ein Text nur mit zugehörigem Bild.

Eine der zentralen Arbeiten in Thun, «Voir la mer» (2011) präsentiert uns Menschen, die vor dem Meer stehen. Sie drehen uns zuerst den Rücken zu, teilweise mit hängenden Schultern, teilweise als Gruppe, manchmal jung, manchmal alt. Der begleitende Text erzählt davon, dass es Bewohner Istanbuls sind. Alle leben sie am Meer und sehen jenes doch in Sophie Calles Arbeit das erste Mal. Die Künstlerin hält diese spezielle Begegnung fest. Als Betrachter nehmen wir die Arbeit in verschiedenen Stufen wahr. Erst verschliesst sie sich durch die Rückenansicht. Durch den Text begreifen wir die Szenerie, deuten plötzlich Schulterhaltung, Armposition und sogar das Meer anders, studierender, empathischer. Wir verbinden uns mit dem Gefühl, das erste Mal das Meer zu sehen, verknüpfen es mit eigenen Erinnerungen und gleichen ab, was unsere Erfahrung mit dem Gesehenen zu tun hat. Sehen wir die Person von vorne und entdecken Tränen in den Augen, trifft uns das beinahe weniger stark. Es ist beinahe zu explizit. 

«Kaum eine andere Künstlerin schafft es, durch so starke, in der eigenen Privatsphäre bestehende Themen, biografisch so viel preiszugeben und gleichzeitig nichts zu verraten. Stattdessen erfahren wir in jedem Bild etwas über uns und sind überrascht von unserer eigenen Empathiefähigkeit»

Wie lange kann man sich an einen Augenblick erinnern? 

Das Werk «La dernière image» (2010) ist ganz anders faszinierend und trifft doch ebenso wie «Voir la mer» mitten ins Herz. Hier fragt Sophie Calle ehemals Sehende, die durch ein bestimmtes Ereignis plötzlich erblindet sind, nach dem, was sie zuletzt gesehen haben. Als Künstlerin rekonstruiert sie diese Erinnerung wiederum als Fotografie und portraitiert zugleich den Erinnernden. Wir fragen uns sofort, ob derjenige wirklich dieses Bild im Kopf hatte. Wie sich diese Erinnerung anfühlt und was die ganze Situation für einen selbst bedeuten würde. Mit der Frage nach Erinnerungen an Gesehenes, das über das Wort, im Text sichtbar gemacht wird, setzen sich auch die Werke «Que voyez-vous?» (2013), «Les tableaux dérobés» (1994–2013) und «Last seen» (1991) auseinander, die sich alle drei auf einen der weltweit spektakulärsten Kunstraube beziehen (1990, Isabella Stewart Gardener Mu- seum, Boston). Sophie Calle befragt darin unter anderem Kuratoren und Aufsichtspersonal nach deren Erinnerung an die gestohlenen Bilder und nach ihrem Umgang mit der Leerstelle, den diese Bilder hinterlassen haben. 

Sophie Calle war und ist ihrer Zeit voraus

Lange vor Social Media und Reality-Shows erlangt Sophie Calle grosse Aufmerksamkeit mit der Blosslegung menschlicher Makel im vermeintlich unbeobachteten Moment. Betrachter zeigen sich über die Wir- kungsdauer von 35 Jahren gleichermassen konstant angetan wie auch ergriffen abgewandt, sind fasziniert von ihrem Voyeurismus und ihrem Talent, den Alltag zu entlarven. Gleichzeitig erschreckt man bei dieser Deutlichkeit, diesem Vorhalten eigener Fehler im Umgang mit neuen Medien und Privatsphäre, mit dem eigenen Nichteinhalten von Konventionen, in Augenblicken, in denen wir eigentlich davon ausgehen, dass niemand uns zusieht. 

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