Der besondere Puppenwagen und das letzte Geflecht

Der besondere Puppenwagen und das letzte Geflecht

Der besondere Puppenwagen und das letzte Geflecht

Wenn Therese Leutwyler und Werner Turtschi in ihrem Atelier an der Neufeldstrasse in Thun am Flechten sind, dann kann man kaum realisieren, wie rasch aus den Flechtpflanzen etwas entsteht: Ob Kinderwagen, eine Wand oder sogar ein geflochtener Sarg – beim Flechten gibt es keine Grenzen.

Text & Fotos: Heinz Schürch

Uralt ist die Korbflechterei. Seit Menschengedenken wird sie auf der ganzen Welt ausgeübt. So wurden beispielsweise die Reste eines gefertigten Korbes im Nahen Osten gefunden, der ungefähr 10000 Jahre vor Christi Geburt geflochten wurde. «Für mich ist der Ursprung im ureigenen menschlichen Denken zu suchen. Denn bereits vor Tausenden von Jahren überlegten sich die Menschen, dass sie zum Beispiel beim Sammeln in der Natur mit Schalen weiterkommen. Also fertigten sie sich aus natürlichen Materialien solche Behälter an», sagt Therese Leutwyler auf die Frage, wo sie denn ihrerseits den Ursprung des Flechtens sehe. Die Jahrtausende vergingen – der natürliche Ursprung ist geblieben: «Geflochtenes braucht kein weiteres Material wie einen Nagel oder eine Schraube. Denn ganz natürlich und mit der richtigen Technik ausgeführt und mit vielen Möglichkeiten entsteht Geflochtenes», ergänzt Therese Leutwyler, währenddem sie gerade einen Korb entstehen lässt.


Faszination der Vollendung

«Ich bin am Abend so kreativ müde von meiner faszinierenden Arbeit, dass ich ein völlig ruhiger Mensch bin», sagt Werner Turtschi zu seiner Berufung und erarbeitet gleichzeitig im Auftrag für einen Kunden eine Sichtschutzwand. Während er mit kaum nachvollziehbaren Bewegungen die Wand entstehen lässt, ergänzt Turtschi: «Das Schönste ist für mich, jeweils nach der Vollendung des Werkes zu sehen, dass hier wieder etwas Einzigartig-Vollendetes entstanden ist.» Der 58-jährige Korbflechter war während seines Lebens nicht dauernd in seinem Beruf tätig. Lange arbeitete er auch im Bereich Drogentherapie. Bis es ihn vor einigen Jahren wieder in sein Ursprungshandwerk zurück zog. Allerdings nicht nur in die gelernte Berufung, sondern zurück in den Lehrbetrieb: Denn bei der traditionellen Flechterei Leutwyler hat er damals die Ausbildung absolviert.


Der «Rüedu» im Familienbetrieb

Bei Theres Leutwyler erkennt man bereits den Boden des dunkelbraunen Korbes, den sie soeben zu flechten angefangen hat. Die Flechterei hat bei Leutwylers Tradition. Der Ursprung führt auf ihren Grossvater zurück, welcher 1917 das Geschäft aufbaute. Heute ist Therese aus der dritten Generation am Ruder: «Ich war immer schon der Rüedu der Familie und interessierte mich für unser Handwerk», lacht die 54-jährige und ergänzt: «Deshalb wurde ich zur Flechterin und habe unsere Familientradition weitergeführt.» Doch die Zeiten wurden härter, die industriellen Mitbewerber kamen mit Produkten auf den Markt, welche ganz billig hergestellt wurden. Natürlich sei es vielfach nicht einfach, doch Therese Leutwyler kann auf eine gute Stammkundschaft zählen. Mitunter war dies auch der Grund, dass sie mit Werner Turtschi gemeinsam arbeitet: «Jeder von uns hat seine eigenen Kunden, doch wir können gemeinsam die Infrastruktur benutzen», sagt sie zum heutigen Konzept. Und man merkt, dass die zwei bestens harmonieren – wissentlich vor allem deshalb, weil beide von ihrem Beruf uneingeschränkt fasziniert sind.


Grenzenlose Kreativität

Geflochtenes aus Wasserhyazinthen, Weide oder Hasel: So vielfältig das Flechtmaterial ist – ebenso vielfältig ist die im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlose Kreativität. «Besonders in Erinnerung bleibt mir der Auftrag einer Mutter, welche für ihr behindertes Mädchen, das im Rollstuhl sass, einen geflochtenen Puppenwagen wünschte. Ich habe diesen so angefertigt, dass er in den Rollstuhl passte. Das Mädchen war so rührend begeistert. Das hat mich beeindruckt», erinnert sich Therese Leutwyler. Und bei Werner Turtschi ist es das letzte Geflecht, welches eine seiner besonderen Arbeiten ist, nämlich die geflochtene Urne, welche er im Einklang mit den Bedürfnissen des Kunden herstellt. Doch es geht sogar noch weiter: Im oberen Stock der Werkstätten an der Neufeldstrasse befinden sich sogar geflochtene Särge.


Einheit der Vielfalt im Museum

Den beiden Herzblutflechtern kann man nicht nur über die Schultern blicken, sondern im einzigartigen Flechtmuseum die Zeitepochen und die Kreativität des Flechtens erleben. Dieses Jahr steht die Ausstellung unter dem Motto «Einheit in der Vielfalt». Denn die unterschiedlichsten Flechtmaterialien, Flechttechniken, Formen und deren Verwendungszwecke ergeben eine faszinierende und bunte Vielfalt. Das Museum ist an jedem 4. Wochenende von April bis Oktober von 13.00 bis 17.00 Uhr geöffnet. Weitere Infos unter www.flechtereien.ch 


Höchste Thunerin schwelgt in Flechtereien

Einen spontanen Museums- und Werkstattbesuch absolvierte kürzlich auch die höchste Thunerin, Stadtratspräsidentin Sandra Ryser-Liebi. Notabene als sie von diesem Bericht erfuhr, schwelgte sie in ihre Jugendzeit zurück: «Ich hatte ganz viele geflochtene Sachen. Unter anderem einen Puppenwagen», sagt sie und zeigt uns stolz das entsprechende Foto von damals.

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