Bergzauber und Wurzelspuk – Ernst Kreidolf und die Alpen
Bergzauber und Wurzelspuk – Ernst Kreidolf und die Alpen
In seinen Bildern besticht Ernst Kreidolf mit einfühlsamem Blick und fast wissenschaftlicher Genauigkeit. Das Schloss Spiez zeigt bis am 8. Oktober 2017 in seiner Sonderausstellung Werke des Schweizer Künstlers Ernst Kreidolf (1863 – 1956), die seine facettenreiche Gestaltung des Alpen-Motivs veranschaulichen.
Text: Sibylle Walther | Fotos: zvg
Während der Bildhauer früher hauptsächlich Vorlagen für seine Plastiken skizzierte, entstanden ab 1987 eigenständige kreative Zeichnungen.
Naturnahe Kindheit
Als Sechsjähriger kommt Ernst Kreidolf zu seinen Grosseltern ins thurgauische Tägerwilen. Der Grossvater sieht in ihm den lang ersehnten Erben für das hoch über dem Bodensee gelegene kleine Bauerngut. Vorerst fasziniert von seiner neuen Umwelt, wo Tiere, Insekten und Pflanzen seine täglichen Ausflüge zu spannenden Entdeckungsgängen machen, fühlt er sich bald einsam und unverstanden. Die Erwartungen des Grossvaters lasten auf dem schmächtigen Jungen, der viel lieber zeichnet, als auf dem Feld zu arbeiten. So wird ihm die Natur zur Verbündeten. Stundenlang beobachtet er Vögel, Grashüpfer und Schmetterlinge, kennt ihren Lebensraum und ihre Gewohnheiten. Von diesem riesigen Fundus leben die Figuren seiner zahlreichen Bilderbücher. So kommt es wohl, dass seine Protagonisten zuweilen als «umwerfend in ihrer märchenhaften Natürlichkeit beziehungsweise natürlichen Märchenhaftigkeit» bezeichnet werden.
Endlich in München
Der Sprung in die Welt der Kunst gelingt Kreidolf 1883, nachdem er eine Lithographenlehre in Konstanz, wo seine Eltern und Geschwister leben, absolviert hat. Er zieht nach München, in eine für ihn gänzlich neue und anregende Umgebung. Der Alltag jedoch ist hart: Tagsüber studiert er vorerst an der Kunstgewerbeschule, dann an der Akademie; nachts verdient er sein Brot als Lithograph durch das Anfertigen von Werbung oder von Verbrecherporträts. Sechs Jahre hält er diesen Rhythmus durch, dann wird er krank. Überarbeitet zieht er sich nach Partenkirchen, einem damals noch unberührten Dorf in den bayerischen Voralpen, zurück. Hier entstehen nahezu romantisch anmutende Alpenbilder: Überwältigend dargestellt ist die Natur, klein und unbedeutend der Mensch. Hier findet Kreidolf wieder die nötige Zeit und Musse, sich der Natur zuzuwenden, sich der «Welt im Kleinen», die ihn als Kind so fasziniert hatte, zu widmen. Dank einer zufälligen Entdeckung und der darauffolgenden Publikation der Blumen-Märchen 1898 findet Kreidolf einen Weg aus der Krise. Zurück in München, entstehen weitere fünf Bilderbücher. Als Erneuerer dieser Gattung im deutschsprachigen Raum wird er nun gefeiert. Die Tafelmalerei gibt Kreidolf dennoch trotz des neuen Erfolges nicht auf.
Winter- und Sommermärchen in den Alpen
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzt dem intensiven Kunstleben in der bayerischen Hauptstadt vorerst ein jähes Ende. Ernst Kreidolf, der in engem Kontakt mit der Schweizer Kunstszene steht, verlässt München 1917 und lässt sich in Bern nieder. Diesen Ortswechsel will er nutzen und sich wieder intensiv der Tafelmalerei zuwenden. Die Zeit lädt zu ernsten Themen ein. Doch es kommt anders, zumindest vorerst. So weilt Kreidolf zunächst im Winter 1917 zur Kur in St. Moritz. Die dort vorgefundenen Schneemassen sind so eindrücklich, dass seine Phantasie der märchenhaften Szenerie nicht widerstehen kann und die ersten Skizzen für «Ein Wintermärchen» entstehen. Halb Märchen, halb Traumerlebnis, erzählt die Geschichte von den drei Zwergen auf Wanderschaft, dem geheimnisvollen Schneegetier, dem sie im Wald begegnen, dem freudigen Wiedersehen mit Schneewittchen und den ausgelassenen Wettkämpfen. Der friedliche Umgang der beiden Zwergenvölker steht jedoch im Zentrum der Erzählung.
Zurück in Bern, wird Kreidolf von seinem Ruf als Blumenmärchenmaler wieder eingeholt. Im Frühjahr 1918 bestellt die Schweizerische Graphische Gesellschaft Bilder «mit Alpenblumen». Kreidolf macht sich auf den Weg nach St. Moritz, um dort zuerst botanisch präzise «Portraits» der ausgewählten Arten anzufertigen. Später skizziert er im Berner Oberland, auf der damals schon beliebten Schynige Platte. So geniessen die Anemonen den weiten Blick über den Brienzersee, dem sie zum Gruss ihre Blütenblätter zusenden. Doch die Alpenblumenmärchen vermitteln nicht nur unbeschwerte Fröhlichkeit, traurige und zeitbedingte Ereignisse haben ebenso ihren Platz in der Darstellung des Blumenkosmos: Ein junges Blümchen stürzt in die Schlucht, Adonis unterliegt im Kampf dem von Zeus geschickten Eber, Eisenhüte, Rittersporn und Germer führen ein riesiges Heer mit trommelnden Heuschrecken an. Das Nachsehen hat die Arnika, die sich um die Verletzten kümmert. Nun widmet sich Kreidolf dennoch ernsten Themen, die er ebenfalls in seinen «Biblischen Bildern» thematisierte. Eine Gesellschaftskritik, ähnlich wie jene, die sein früh verstorbener Freund Albert Welti mit «Die Fahrt ins 20. Jahrhundert» 1899 entwarf, gelingt ihm mit dem Blatt «Die Legende».
Ernst Kreidolf war kein Verniedlicher, der alles Bedrohliche ausblendete und sich ausschliesslich dem Netten und Positiven zuwandte. Vielmehr hatte er mit seiner neuen Märchensprache in dieser von politischen und sozialen Umwälzungen geprägten Zeit Bilder gefunden, die vom Urvertrauen in die Natur und deren heilsamer Kraft erzählen. Als diese Stimme blieb er der Nachwelt bis heute erhalten.