Harte Arbeit im Paradies
Harte Arbeit im Paradies
Älpler, welche die Sommermonate damit verbringen, das Vieh zu sömmern und Alpkäse herzustellen, haben gleichzeitig einen Traumjob und eine tägliche Schinderei. Das Leben ist hart auf 1800 Metern über Meer – aber es könnte wohl auch nicht schöner sein. Davon hat sich der Reporter bei mehreren Besuchen auf der Alp Oberburgfeld oberhalb von Beatenberg selbst überzeugen können.
Text: Urs Bretscher | Fotos: Urs Bretscher, zvg
Es ist eine faszinierende Landschaft, die wir auf knapp 1700 Meter über Meer erreichen, wo der Asphaltbelag des Bergsträsschens kurz vor dem Flachstück bei der Chüematte zu Ende ist. Ab hier herrscht auch offiziell ein allgemeines Fahrverbot – bloss Mountain Bikes sind noch toleriert.
Einige Gatter müssen geöffnet und wieder geschlossen werden, bevor wir durch lichten Arven- und Tannenwald, durch eine wunderbare Flora hindurch und vorbei an gelegentlichen Felsbrocken die Alp Unterburgfeld erreichen. Auf einer Lichtung ist eine Herde Guschtis unterwegs – einjährige Rinder. Die Tiere machen das, was zu erwarten ist: sie fressen Gras, aber sie merken nicht, wie dekorativ, wie arrangiert, die ganze Szene wirkt. Einfach schön!
Im Hohwald hat sich vieles geändert in den letzten Jahren: Die Alpweiden dienen den zahlreichen Paragliding-Piloten aus Interlaken als Startrampe für Tandemflüge, die oft von asiatischen Touristen gebucht werden. Der Flug von hier oben hinunter auf die Höhenmatte ist zu einer der grossen Attraktionen von Interlaken für die Gäste aus aller Welt geworden, und das merken wir beim Hinauffahren. Zahlreiche Minibusse kommen uns auf ihrer Rückfahrt entgegen.
Doch bald lassen wir die grosse, weite Welt hinter uns zurück. Die Bergschaft Burgfeld besteht aus den beiden Alpen Unterburgfeld und Oberburgfeld. Das Gebiet liegt direkt unterhalb des Burgfeldstandes, einem 2063 Meter hohen Gipfel zwischen Niederhorn und Gemmenalphorn. Das Gemeindegebiet von Beatenberg erstreckt sich weiter ostwärts bis zum Grünenbergpass, wo sich ein «Dreiländereck» mit Habkern und Eriz befindet. Neben dem Burgfeld hat die Gemeinde vier weitere Bergschaften: Gemmenalp, Holzflüh, Kummeli und Schopf-Seefeld. Historisch begründet ist, dass Beatenberg in die drei Burgerbäuerten Schmocken im Westen, Spirenwald in der Ortsmitte und Waldegg aufgeteilt ist.
Wir befinden uns jetzt in einer der abgelegensten Regionen des Niederhorns. Der Burgfeldstand erhebt sich als eher flacher Gipfel etwa halbwegs zwischen Niederhorn und Gemmenalphorn. Das ganze Gebiet im Bereich der Waldgrenze ist ein fantastisches, abwechslungsreiches Wandergebiet. Zahlreiche gut signalisierte Wanderwege durchziehen den Spirenwald oberhalb des Känzelis; das Felsband über dem Dorf Beatenberg ist von weitherum gut sichtbar. Hier oben wähnt man sich oftmals in einem Urwald: abgelegene Waldstücke, Alpmatten, aber auch Lichtungen oder Tobel erfreuen denjenigen, der den Blick und das Sensorium für diese Landschaft hat. Von der Abbruchkante oberhalb des Justistals bis zum Skilifttrasse im Hohwald führen Kilometer durch eine der schöneren Landschaften des Oberlandes. Wer das Niederhorn nur von der Gondel aus kennt, der hat etwas verpasst. Hirsche, Steinböcke, sogar ein Bär sind hier schon gesichtet worden. Kein Wunder – es ist im Sommer ein Heidelbeer-Paradies. Man sollte sich also nicht wundern, wenn man an den unglaublichsten Orten auf parkierte Autos trifft…
Die Tiere machen das, was zu erwarten ist: sie fressen Gras, aber sie merken nicht, wie dekorativ die ganze Szene wirkt.
Mondlandschaft
Weiter gegen Osten, aber immer noch im Gemeindegebiet von Beatenberg, wird es noch wilder, noch verlassener und unwegsamer, aber auch noch pittoresker. Unterhalb der Sieben Hengste liegt das «Seefeld» genannte Karstgebiet, mit skurrilen Felsformationen, Hochmooren, Urwald und stundenlangem, einsamem Wandern auf ungefähr 1700 Metern über Meer. Die Wanderwege sind gut unterhalten, und eine dieser mehrstündigen Wanderungen ohne Aussicht auf eine Bergbeiz ist eines der vielen Abenteuer, welche im Kanton Bern noch immer zu finden sind.
Auf dem Weg zum Grünenbergpass überquert man auch die Bergmatten der östlichsten der fünf Bergschaften von Beatenberg, Schopf-Seefeld genannt. Hier türmen sich auf der anderen Seite des Übergangs ins Eriz die gewaltigen Felsmassen des Hohgant. Der Grünenbergpass soll seit Urzeiten durch einen Säumerpfad erschlossen sein: Die Rede geht, bereits die Römer hätten ihn genutzt, um den enormen Umweg um den Thunersee zu vermeiden. Wer sich überlegt, zum Beispiel mit der Bahn aufs Niederhorn zu reisen und von dort über die ganze Breite des Niederhorn-Massivs zum Pass und weiter bis nach Habkern zu wandern, der muss fitte Beine haben. Er lässt sich auf eine attraktive Tagestour ein und sollte genügend Tranksame und Zwischenverpflegung mitnehmen.
Speziell im Frühling, lange vor dem Alpaufzug, erfreuen grossartige Bergmatten den Wanderer. Oberhalb der Waldgrenze stossen die Krokusse schon im April durch die in der Frühlingssonne schmelzenden Schneereste. Ist die ganze Alpenflora Anfang Juni in vollem Blust, bleibt man während einer Wanderung immer wieder stehen, weil die Üppigkeit und Vielfalt dieser Wiesen derart beeindruckend sind. Doch im Juni kommen zuerst die Zäune, und dann kommt das Vieh!
Alleskönner
Eine Alpwirtschaft zu betreiben ist ein extremer Organisations- und Koordinationsjob. Wer auf einer Wanderung die Kühe friedlich grasen sieht, der kann sich kaum vorstellen, was alles erledigt sein muss, damit das Idyll auf der Alp möglich wird. Genau betrachtet, wächst nicht einmal das Gras von alleine.Denn natürlicherweise gäbe es in dieser Höhe keine Wiesen; der Wald ist der stärkste Partner in der Alpenflora, er würde alles überwuchern. Die Flächen der heutigen Alpweiden sind denn in den allermeisten Fällen auch gerodet, und unsere Vorfahren taten das vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Wir haben heute, in der Zeit des Überflusses, Mühe mit der Vorstellung, dass der Alpenraum bis vor vielleicht 100 Jahren seine Bewohner nur schlecht zu ernähren vermochte. Jede kleinste Möglichkeit, zusätzliche Nahrungsmittel zu gewinnen, musste genutzt werden. Beim Vieh ging es wohl die längste Zeit eher um die Milch denn um das Fleisch. Milch ist ein hervorragendes Nahrungsmittel mit zahlreichen wertvollen Inhaltsstoffen – nicht zuletzt ein Lieferant der so wichtigen Proteine.
Und Milch entsteht, wirtschaftlich gesehen, aus Gras, weshalb um jeden Quadratmeter Weideland gekämpft werden musste. Davon können die Älpler heute noch berichten: sie stecken einen beachtlichen Aufwand in das Säubern der Waldränder, von wo aus das Verganden der Alpweiden beginnt. Wie alles andere gehört das Erhalten der Weidefläche zum Aufgabengebiet der Sennen; ohne diesen Aufwand wären sie wohl innert weniger Generationen verschwunden.
In der Bergschaft Burgfeld verfügen rund 25 Bauernbetriebe über Kuhrechte, dürfen damit ihr Vieh jeden Sommer auf die Alp bringen und partizipieren am Ertrag in Form
eines Prozentsatzes vom gesamten Käse. Ein medienwirksamer Chästeilet wie im Justistal findet hier nicht statt, wohl aber Ende Saison ein Alpabzug mit den sauber gestriegelten, mit Blumen geschmückten Kühen.
Mit dem Stellen der Zäune beginnt in der Regel der Alpsommer. Anfang Juni wird das Vieh ins Unterburgfeld transportiert, wo es einige Wochen bleibt, je nach Wetter und Wachstum des Grases. Vom frühen Juli an werden dann die etwas höher gelegenen Weiden im Oberburgfeld genutzt. Die beiden Älpler hausen jetzt ebenfalls hier oben, in ganz bescheidenen Verhältnissen in
einem Nebenraum der Käserei – allerdings mit Terrasse und Panorama. Die Guschtis, die ja noch nicht gemolken werden, lässt man Tag und Nacht auf ihren Weiden. Das sind teilweise grössere Waldlichtungen, immer durch Zäune abgetrennt. Die milchgebenden Kühe dagegen verbringen die meiste Zeit des Tages mit Wiederkäuen im Stall, werden dann aber für die Nacht hinaus auf die Weiden getrieben. Wieso das? Während des Tages quälen die Fliegen und Bremsen die armen Tiere derart, dass man zum nächtlichen Weiden übergegangen ist.
Es kann natürlich passieren, dass sich ein Tier schwer verletzt. «Wenn ein Tier während längerer Zeit an der gleichen Stelle steht, allenfalls auch mit lautem Muhen, dann ist meistens etwas Schlimmes passiert», so Markus, einer der beiden Älpler im letzten Sommer. «Eines der Guschtis hatte sich im steilen, felsigen Gelände ein Bein gebrochen. Dazu gibt es strenge Vorschriften; wir müssen sofort den Tierarzt anfordern. Dieser kam gleich mit dem Helikopter, weil die Chance, dass das Tier nicht mehr gerettet werden kann, hier oben leider gross ist. Er musste es denn auch mit einem Schuss töten; dann nahmen sie den Kadaver mit dem Heli gleich mit». Das Beispiel zeigt, wie es in den Bergen nicht nur idyllisch ist, sondern auch eine harte Realität mit finanziellen Konsequenzen gibt: das Risiko in einem solchen Fall liegt nicht bei der Alpgenossenschaft oder den Älplern, sondern beim Eigentümer des Tieres.
Käse, jeden Tag
Markus und Michel, 2018 das Team im Burgfeld, haben einen stark strukturierten Tagesablauf, der von der täglichen Aufgabe des Verarbeitens der anfallenden Milch bestimmt wird. Auf beiden Alpen gibt es einen einfach eingerichteten, aber sauberen und zweckmässigen Raum zum Käsen. Unter dem Kessi wird mit Holz geheizt – es braucht zwei Feuer, weil in einem zweiten Kessel auch immer heisses Wasser für das unabdingbare, ständige Putzen bereitstehen muss. Damit nur die richtigen Bakterien (die Milchsäurebakterien, welche in die frische Milch gegeben werden) überleben, muss das Putzwasser eine Temperatur von mindestens 63 Grad haben. Elektrischen Strom gibt es hier oben nur in kleinen Mengen: von einem Generator neben dem Haus, der das Rührwerk über dem Käsekessi antreibt.
Drei Laibe fallen pro Tag an. Sie müssen im Käselager im Unterburgfeld täglich mit Salzwasser gebürstet werden, eine Arbeit, welche von Tag zu Tag mehr wird. Markus ist gelernter Käser; seit Jahren kann er im Sommer unbezahlte «Ferien» nehmen, um auf der Alp hier oben zu sein. «Mir gefällt das extrem, das einfache Leben, die Verantwortung für den ganzen Alpbetrieb, das Draussen-Sein. Aber es kann auch sehr hart sein. Ein Sommer wie 2018, mit den vielen Schönwetter-Tagen, klar ist das wunderbar. Aber es gibt auch
viele Nebeltage in dieser Höhe!».
Nachdem der frische Käse in der Form ist und die Pumpe die Schotte in den Tank auf dem Transporter leitet, ist Kaffeepause. Es ist etwa 10 Uhr morgens, die Luft ist frisch, die Fernsicht aussergewöhnlich, die Wanderer sind noch nicht hier oben – das ist der Moment für den ersten heissen Kaffee. Michel bringt heisses Wasser, es gibt Nescafé mit frischer Nidle. Rahm. Schön dick. Der Drang, den Finger hinein zu stecken und abzuschlecken wie damals als kleine Kinder, er ist unwiderstehlich, gleich wie die erste Tasse Kaffee sofort nach einer zweiten ruft. Die schönste Kaffeepause im Leben!
Die Schotte – der wässerige Rest der geschiedenen Milch, nachdem die Käsemasse mit dem Tuch herausgehoben worden ist – wird mit dem Transporter ins Unterburgfeld hinuntergebracht, wo sie den drei Alpschweinen, welche auch noch zum Inventar gehören, ins Futter gemischt wird. So können alle beim Käsen anfallenden Milchbestandteile genutzt werden. Alpschwein ist eine Delikatesse, welche zahlreiche Metzgereien um den Thunersee herum gelegentlich anbieten.
Dreieinhalb Tonnen Alpkäse fallen pro Saison im Burgfeld an, die nach den Kuhrechten verteilt werden. Adolf Schmocker hat Anrecht auf rund eine Tonne pro Jahr. «Das ist eine ganze Menge Käse», meint er dazu. «Die kann eine Familie auf keinen Fall alleine essen. Aber es ist auch nicht ganz
einfach, den Verkauf zu organisieren!». Schmocker verkauft auf seinem Hof im äussersten Westen von Beatenberg direkt an interessierte Leute, dazu ist sein Alpkäse im Detailhandel im Dorf erhältlich. Einige Läden am See unten, wie zum Beispiel die Landi in Interlaken, haben den Burgfelder Alpkäse gelegentlich im Sortiment.
Wie kommt Alpkäse aber zu seinem unverwechselbaren Aroma? Käser Markus weiss das – es sind in der Tat die zahlreichen Kräuter auf den Bergmatten, welche die Kühe zusammen mit dem Gras fressen. Weil der Mix auf jeder Alp ein anderer, eigener ist, unterscheiden sich auch die Alpkäse ein bisschen; mit Käse aus Grossproduktionen, wie Emmentaler oder Greyerzer, haben sie allerdings kaum etwas gemeinsam. «In der frischen Alpenmilch gibt es durch die Saison hindurch immer wieder leichte Geschmacksnuancen, weil sich die Vegetationsmischung auch mit der Jahreszeit wandelt», so Markus im Gespräch beim Kaffee auf der Alp Oberburgfeld.
Schönes, hartes Leben
Und so scheint nach jedem Regen die Sonne, und es kommt nach jedem Sommer der Herbst. Für Markus und Michael heisst das zurück ins Leben B – zurück in den normalen Beruf, zur Familie und vielleicht auch in den Alltagsstress. «Ich freue mich jedes Mal, wenn mich Frau und Kinder besuchen, hier im Oberburgfeld», meint Markus, der mit seiner Erwerbssituation sehr zufrieden ist; er schätzt sich glücklich, dass er sich mit seinem Arbeitgeber auf die paar Monate unbezahlten Urlaub im Sommer hat einigen können. Dieser Urlaub allerdings ist harte Arbeit, manchmal wochenlanges Zähne-Zusammenbeissen im kalten, feuchten Nebel, der den Menschen zur Depression treiben kann.
Das war natürlich 2018 anders, ganz anders. Die Älpler vom Burgfeld, gleich wie ihre Chefs um den Präsidenten der Bergschaft, Adolf Schmocker, waren sich durchaus bewusst, dass es in diesem trockensten Sommer der Geschichte an nicht manchem Ort Europas so viel geregnet hatte wie im Berner Oberland. Zwar war auch hier das Gras weniger fett als sonst, und auch hier machten sich die Bauern Sorgen wegen der Qualität des Winterfutters. Aber es hätte viel schlimmer kommen können.
Herbst heisst nicht nur Rückblick und Zukunftsprojekte, sondern es heisst auch Aufräumen. Die beiden Alpbetriebe im Burgfeld müssen wintersicher gemacht werden; die Zäune müssen wieder weg und in den Ställen, welche jetzt zum Materiallager werden, verstaut werden. Ende September ist Alpabzug: das Vieh ist sauber gestriegelt, und mit Blumen geschmückt geht es an die zweistündige Wanderung hinunter nach Beatenberg. Dort nehmen die Eigentümer ihre Tiere wieder in den eigenen Stall, einer nach dem andern, bis nur noch wenige Rinder und Kühe übrig sind – diejenigen von Adolf Schmocker, der dort zu Hause ist, wo er herkommt. In der Schmocke, dem westlichsten Ortsteil von Beatenberg.