Der Bergkristall der Berner Alpen

Der Bergkristall der Berner Alpen

Der Bergkristall der Berner Alpen

Das Gasteretal ist ein sagenumwobenes, verwunschenes, wildes und erstaunlich wandelbares Tal bei Kandersteg im Berner Oberland. Es ist auch einer der liebsten Rückzugsorte von Kanderstegs berühmtestem Sohn, Altbundesrat Adolf Ogi. In «Lieblingsorte: Dölf Ogi im wildromantischen Gasteretal» nimmt er Sie mit auf eine philosophische Meditation über die Kraft und Schönheit der Natur, über ein Tal, dessen wechselhafte Geschichte viele Jahrhunderte zurückreicht, und über die Menschen, die symbiotisch in und mit diesem Kraftort leben.

Text: Alain Diezig  |  Fotos: Robert Bösch, Dr. Andrea Fischbacher

Wenn es einen Landstrich gibt in der Schweiz, der untrennbar mit dem Namen einer bekannten Schweizer Persönlichkeit verknüpft ist, dann ist das das Gasteretal und Altbundesrat Adolf Ogi. Die Verbindung der beiden ist schon nahezu ikonisch. Ins Gasteretal führte Ogi 1993 den Gesamtbundesrat und im Jahr 2000 den damaligen UNO-Generalsekretär Kofi A. Annan. In diesem Tal liegt auch die sagenumwobene Quelle der berühmten Bergkristalle, die Ogi als Politiker zu verteilen pflegte. Wie Adolf Ogis Cousin Hermann Ogi verrät, führt der Altbundesrat immer noch stets ein Exemplar mit sich. Das hat ihm der erfahrene Strahler, Lokalhistoriker, Dorfchronist und Sachbuchautor eingeschärft, denn «der richtige Stein tut jedem gut».

Wo diese Kristallklüfte nun denn genau liegen, bleibt natürlich streng geheim. Kein Geheimnis ist aber, dass Dölf Ogi dem Gasteretal auch nach dem Ende seiner aktiven politischen Karriere weiterhin sehr zugetan ist. «Lieblingsorte: Dölf Ogi im wildromantischen Gasteretal» ist nicht nur ein Wanderführer durch dieses ganz erstaunliche Tal; es zeigt Ogi von einer nachdenklichen, philosophischen Seite, die auch Menschen, die seine politische Karriere aufmerksam verfolgten, unbekannt sein dürfte. 

«Ein Zauber liegt über dem Gasteretal», sagt Adolf Ogi. «Es ist mein Lieblingstal, bestehend aus Stein und Wasser, Wind und Wetter. Hier wachsen seltene Pflanzen, darunter etwelche Primärpflanzen, und hier wohnen viele bedrohte Tierarten. Die Auenwälder werden immer wieder von der Kander geflutet, aus den senkrecht sich erhebenden Kalkfelsen fallen, stürzen, rieseln Wasserläufe, nach Gewittern und im Frühling sturzbachartig, im Herbst zögerlich. Dasselbe Tal, von dem ich meine, jeden Meter zu kennen, zeigt sich mir bei jedem Besuch wieder anders, manchmal ganz anders. Und immer von Neuem zauberhaft.»

Das Gasteretal bei Kandersteg im Berner Oberland ist tatsächlich ein Tal wie kaum ein anderes. Es wird bereits seit undenklicher Zeit genutzt. Schon die Römer kannten das Tal – der Name «Gasteretal» leitet sich vom Lateinischen «castra» ab, was unter anderem «Lager» bedeutet. Tatsächlich stand auf dem Burghügel bei Selden eine solche Festungsanlage, die von Legionären genutzt wurde – und da die Römer oftmals schon bestehende Wege benutzten, darf man vermuten, dass die Menschen das Tal schon lange davor bewohnten oder mindestens durchquerten. 1374 findet sich dann auch die erste schriftliche Erwähnung des Tals als Durchgangsort auf der Handelsroute vom Mittelmeer nach Zentraleuropa.

«Wir sind als Gesellschaft durchaus in der Lage, auch mit sensiblen Landschaften umzugehen und zu diesen ganz speziell Sorge zu tragen.»

Hier darf die junge Kander noch mäandrieren, wie es ihr beliebt, und schlägt darum gelegentlich überraschende Läufe ein. Im Gasteretal kann man einen Fluss erleben, wie er früher war – bevor die grossen Gewässerkorrekturprojekte des 19. und 20. Jahrhunderts die Schweizer Flüsse und Ströme kanalisierten, zähmten und zivilisierten. Als Kind versuchte Adolf Ogi zusammen mit seinem Vater, die Ufer der Kander im Gasteretal aufzuforsten und so den Flusslauf zu stabilisieren. Wenn aber die Kander im Gasteretal stark anschwillt, ist sie kräftig genug, um auch grosse Bäume mitzureissen. Selbst die Hängebrücke bei Selden ist nicht sicher vor dieser Urgewalt und wurde schon mehrmals beschädigt. Eine Wanderung durch das Bachbett der Kander im Gasteretal ist immer auch eine Art Zeitreise, denn «dank der kanalisierten Flussläufe durch stabile, schnurgerade Flussbette sind wir uns heute gar nicht mehr an die zerstörerische Gewalt des Wassers gewöhnt. Ich erinnere mich gut, wie das früher war und welchen Segen die Bach- und Flusskorrekturen für Mensch und Tier darstellten», meint Ogi.

Die Geschichte des Gasteretals ist aber auch eine Geschichte der Menschen, die seit vielen Jahrhunderten in und mit diesem Tal leben. Noch vor nicht allzu langer Zeit war das wilde Tal sogar ganzjährig bewohnt – so lebte etwa Adolf Ogis Grossmutter Margrit Ogi-Künzi in ihrer Jugend ganzjährig in Selden. Dies ist heutzutage nicht mehr möglich; zu gefährlich sind die Winter im von hohen, steilen Felswänden umringten Trogtal. Aus diesem Grund wird im Oktober auch die einzige Zufahrtsstrasse geschlossen. Im Sommer aber kehrt wieder Leben ein, denn im Gasteretal existieren noch Spuren der uralten halbnomadischen Lebensweise, die den Völkern des Alpenraums einst eigen war. So gibt es hier noch die altehrwürdige Institution des Dorfältesten, in dessen Obhut sich die berühmte, über 300 Jahre alte Gasterebibel und die etwas jüngere Gasterechronik befindet. Der jetzige Dorfälteste Christian Künzi führt nebenher auch das Gasthaus Steinbock, in dem man am knisternden Kaminfeuer den Geist dieses Tales auf sich wirken lassen kann. 

Kann man einen Besuch in diesem Naturschutzgebiet aber überhaupt verantworten? Darf man hingehen und etwa mit den eigenen Füssen durch das Bachbett der jungen Kander spazieren? Selbstverständlich, sagt Adolf Ogi, dem das Schlusswort überlassen sei: «Im Grunde unseres Herzens sind wir doch alle noch ein wenig Kantianer und durchaus fähig und willens, Verantwortung für etwas zu übernehmen. Indem ich meine Lieblingsplätze bekannt mache, werden sie in ihrer ganzen Bedeutung als wertvolle Orte in einer intakten Landschaft wahrgenommen und etwas Wertvolles zu schützen, sind die Menschen gerne bereit. Ich bin schon zu lange Politiker, als dass ich den Kräften der Demokratie nicht vertraute. Auch das Tragen von Verantwortung haben wir in den letzten fast hundert Jahren demokratisiert. Wir sind als Gesellschaft durchaus in der Lage, auch mit sensiblen Landschaften umzugehen und zu diesen ganz speziell Sorge zu tragen, das liegt mir sehr am Herzen.»

Buchtipp

Lieblingsorte Dölf Ogi im wildromantischen Gasteretal

Autor: Andrea Fischbacher, Adolf Ogi
216 Seiten, 16 × 23 cm, gebunden, Hardcover
Mit 120 Abbildungen und neuer Gasteretalkarte.
ISBN 978-3-03818-262-7, CHF, 49.– / EUR 44.–

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