Auf der Pyramide der Schweiz
Auf der Pyramide der Schweiz
Sicherlich haben alle schon von der Pyramide der Schweiz gehört: dem Niesen, der das Simmental vom Kandertal trennt. Er hat ein eindrückliches Erscheinungsbild, der Niesen, egal aus welchem Blickwinkel.
Text & Fotos: Rolf Eicher, zvg
Nun geht es los, die ersten Meter führen über die Brücke der Kander, ein kühles Lüftchen weht durch das Brückengeländer, es wird aber das letzte sein. Nun haben wir den ersten Wegweiser vor Augen, beschriftet mit der Zeitangabe von fünf Stunden. Noch einen Blick auf die Bahntrasse der Niesenbahn, der längsten Standseilbahn der Welt, die im Sommer 1910 eröffnet wurde. Schon die ersten Meter geben einem zu spüren, dass es kein Spaziergang wird. Der Wanderweg steigt bereits auf den ersten Metern steil an. Wir nehmen die Wanderung im Juni in Angriff, in der Zeit der längsten Tage und starten bereits morgens um 5 Uhr. In der Dämmerung steigen wir durch die ersten Waldteile. Die Luft ist feucht, wir hören Vogelgezwitscher und Geraschel im Blätterwald, zwischen den Geräuschen ein Rehbock, der aufschreckt, und ein Specht, der an seinen Hausbau klopft. Weiter geht es hoch durch den Wald, vorbei an alten Gebäuden, in denen früher Kühe gestallt wurden und heutzutage nur noch das Heu gelagert wird. Auf dem Wanderweg ist auch eine Zeitmessung für die Trail-Runner installiert. Diese Bergläufer rennen in 90 Minuten den Berg hoch.
Der Tag erwacht, das Niederhorn und die Sichle glänzen in der goldenen Glut der Sonne und die Gipfelspitze der Blüemlisalp empfängt die ersten Sonnenstrahlen. Eine wunderbare Motivation, die uns beflügelt, diese Pyramide zu bezwingen. Weiter gehts den gut markierten Wanderweg entlang, ein grosses Kompliment den Leuten, die den Wanderweg unterhalten. Die losen Steine sind weggeräumt und die Böschungen fein säuberlich gemäht. Der Weg führt im Zickzack durch den Mischwald hoch, drei Aussichten lassen uns immer wieder über die schöne Bergwelt und die Natur staunen: Südwestlich blicken wir ins Kandertal, südlich auf die Klassiker Eiger, Mönch und Jungfrau und östlich in Richtung Niederhorn, Sigriswiler Rothorn, Entlebuch und Zentralschweiz. Langsam nähern wir uns der Mittelstation Schwandegg, diese liegt auf 1868 Metern über Meer. Oberhalb der Mittelstation, auf dem «Grätli», gibt es eine schöne Grillstelle mit einem grossen Holztisch, der zu einer kurzen Verschnaufpause einlädt.
Umgeben von einer wunderschönen Naturwiese, begeben wir uns in ein Pflanzenschutzgebiet. Nun haben wir zum ersten Mal einen richtigen Blick auf den Thunersee. Im Vordergrund sehen wir Spiez, Hondrich, Aeschi und Aeschiried einmal aus einem anderen Blickwinkel. Weiter geht es mit getankten Eindrücken durch den Fichtenbergwald. Immer wieder kommen Naturwunderwerke zum Vorschein wie Fichten, die sicherlich über 100 oder 200 Jahre alt sind. Rechter Hand oberhalb der Schwandegg ist eine solche Fichte, die wir bestaunen. Weiter geht es über das Wurzelwerk des Waldbodens. Immer wieder fällt unser Blick auf das Wurzelwerk: eine beeindruckende Vernetzung, die den Waldboden zusammenhält, vergleichbar mit unseren digitalen Welten, ein Netzwerk, das die ganze Welt mit Daten beliefert. Im Waldbodennetzwerk ist es der Nährstoff, der durch das Wurzelwerk fliesst und die Bäume nährt. Gleichzeitig schützt es den Waldboden vor Erosionen.
Langsam nähern wir uns der Baumgrenze. Zwischen den Bäumen blicken die Lawinen- und Steinschlagschutznetze hervor. Diese dienen zum Schutz der Wanderer, der Wanderwege und natürlich der Niesenbahn. Wir bestaunen auch die Natursteinmauern, die vor vielen Jahren unter gewaltiger Leistung von Menschen erbaut wurden. Diese Maurerkünstler kannten noch das Hebelgesetz und die Flaschenzüge. Nun begeben wir uns auf den Abschnitt der Wanderung, auf dem das Nadelgehölz nur noch mannshoch ist. Wir verlassen den zierlichen Arvenbestand. Jetzt haben wir einen 180-Grad-Ausblick, vom Justistal bis nach Adelboden. Diese Aussicht lädt uns zu einer Verschnaufpause ein, und wir geniessen unsere schöne Natur für ein paar Minuten, bevor es weitergeht. Jetzt haben wir das Ziel vor Augen, weiter geht es in Richtung Glogghore, oberhalb des Hore ist eine kleine Plattform mit einer Gedenkstätte für drei verstorbene Verwaltungsratspräsidenten der Niesenbahn AG. Bei der Aussicht von diesem Standort kommt man ein weiteres Mal ins Staunen und geniesst es in vollen Zügen. Das, was hinter uns liegt, das Wadenbrennen oder der Krampf im Oberschenkel, ist in diesem Moment vergessen. Diese Aussicht ist gewaltig. Die beiden Gewässer, der Thuner- und der Brienzersee mit ihren knalligen Farben, sind einfach gewaltig schön. Die Fernsicht lässt uns bis nach Brienz, ins Susten- und Grimselgebiet blicken. Beim Blick auf den Thunersee fühlen wir uns wie ein Adler, der König der Lüfte. Über Thun blicken wir in Richtung Mittelland und Nordwestschweiz. Mit dem Blick in Richtung Niesenspitz, der direkt über uns liegt, motivieren wir uns für die letzten Gehminuten. Der Wanderweg dreht Richtung Südflanke des Niesens. Ganz weit in der Ferne sieht man auf das Schneedepot der Tschente, das durch den Sommer abgedeckt gelagert wird. Dies ist, damit die zukünftigen Skiprofis im Vorwinter davon profitieren und trainieren können.
Nun sehen wir es zum ersten Mal so richtig, die Bahntrasse der Niesen-Standseilbahn. Der Baustart erfolgte am 26. August 1906, eröffnet wurde die Bahn am 15. Juli 1910. Durchschnittlich waren 200 Mitarbeiter pro Tag am Bau beteiligt, die zu 100 Prozent Handarbeit leisteten. Die Bahnstrecke hat eine Länge von 3499 Metern und eine Neigung zwischen 66 und 68 Prozent. Die begabten Bauarbeiter hatten keine Baukräne oder Helikopter zur Verfügung, sie nutzten Holzkonstruktionen für das anspruchsvolle Bauwerk. Die ganzen Bahntrasse entlang ist eine Treppe angebracht, die benutzt wird für Unterhaltsarbeiten an den Gleisen. Einmal jährlich wird die Treppe zum Spektakel. Der Niesen-Treppenlauf, bei dem 11674 Treppenstufen zu bewältigen sind, ist ein fester Bestandteil der Niesenbahn AG. Der Walliser Emmanuel Vaudan bewältigte den Aufstieg von 1643 Höhenmetern 2011 in rund 55 Minuten und ist damit Streckenrekordhalter. Den Rekord der Frauen stellte Agnes Zellweger im Jahr 2005 auf, sie benötigte eine Stunde und rund 7 Minuten für die vielen Stufen.
Nun nähern wir uns dem Gipfel, im Zickzack geht es durch die Naturwiese hoch. Links vom Wanderweg rattert die Niesenbahn den Berg hoch, gefüllt mit Gästen, für die die Fahrt auf den Gipfel ein Erlebnis ist. Nur noch wenige Meter, dann haben wir unser Ziel erreicht. Wir sind stolz, die Wanderung unter der auf dem Wegweiser angegebenen Zeit geschafft zu haben. Vorbei geht es am Berghaus Niesenkulm zum obersten Aussichtspunkt des Berges. Hier befindet sich das kleine Licht, das man am Abend vom Tal aus sieht. Es bleibt einem nur das Staunen, wunderschön diese 360-Grad-Aussicht, die so viele schöne Blicke bietet.
Der Thuner Hausberg ist auch beliebt bei Gleitschirmfliegern und im Sommer ein fester Bestandteil der Red Bull X-Alps. Die X-Alps starten in Kitzbühel und enden wiederum in Österreich in Zell am See. Dazwischen sind 15 Turnpoints, auf dem Niesen ist der Turnpoint Nr. 8, die Gesamtlänge beträgt 1223 Kilometer. Der einheimische Christian Maurer aus Adelboden konnte diese Games diesen Sommer zum achten Mal in Folge gewinnen.
Die Region rund um den Niesen bietet sehr vieles, nicht nur Berg- und Wanderrouten in alle Richtungen, sondern auch eine Startrampe für Gleitschirmflieger, diese befindet sich 400 Meter neben dem Gipfel. Auch Talwanderungen nach Mülenen, Frutigen oder ins Diemtigtal werden rege benutzt. Die herausforderndste Tour ist jene über die Niesenkette in Richtung Gsür, die in Adelboden endet. Für diese Tour muss man trittsicher und schwindelfrei sein.
Zur Erholung lasse ich mich im Berghaus Niesenkulm mit Kaffee und Kuchen verwöhnen und freue mich auf die beeindruckende Retourfahrt mit dem «Bähndli». Wir kommen bestimmt wieder an diesen schönen Ort im Berner Oberland, bis dahin zehren wir von den schönen Eindrücken und Errinnerungen.
So können wir uns also freuen – bald ist das «Spiezerli» wieder auf dem Thunersee unterwegs. Auf der Website www.spiezerli.ch können Sie sich über den Zeitplan informieren und zusätzliche spannende Informationen zum Dampfer nachlesen. Ausserdem besteht auch immer noch die Möglichkeit, sich durch eine Spende am Projekt zu beteiligen – jeder Franken kann gebraucht werden. Es steht der Thunerseeregion sicherlich gut zu Gesicht, dass ein solches Stück Schifffahrts- und auch Tourismusgeschichte gepflegt wird und nicht finanziellen Überlegungen geopfert wurde. Gute Fahrt!