Die Magnolie – Es raschelt, kriecht und blüht am Thunersee

Die Magnolie – Es raschelt, kriecht und blüht am Thunersee

Die Magnolie – Es raschelt, kriecht und blüht am Thunersee

Das rechte Thunerseeufer ist ein wichtiger Lebensraum für bedrohte und deshalb geschützte Pflanzen und Tiere. Sigriswil gilt als orchideenreichste Gemeinde des Kantons Bern. Die felsigen Lichtungen am Seeufer bieten Rückzugsmöglichkeiten für zahlreiche Reptilien. In einem einzigartigen Schutzprojekt sollen die Lebensbedingungen dieser auf den ersten Blick so unterschiedlichen Arten langfristig geschützt werden.

Text: Lukas Wittwer  |  Fotos:  Sandra und Stefan Grünig-Karp, Andreas Meyer, Lukas Wittwer

Sigriswil ist bekannt als die Gemeinde mit elf Dörfern. Von Merligen bis Reust ist das weitläufige Gemeindegebiet geprägt von Gegensätzen: Am Sigriswilergrat und am Niederhorn reicht der Sig­riswiler Boden bis auf über 2000 Meter über Meer. Die Alphütten des Justistals sind im Winter nicht bewohnt. Zu rau ist das Klima, zu beschwerlich die Zufahrt entlang ausgesetzter Wege und durch tiefe Schluchten. In Schwanden und Wilerallmi öffnen bei guten Schneeverhältnissen die Skilifte und auf 30 Kilometern können Langlaufrunden gedreht werden. Am See­ufer auf etwa 570 Meter wähnt man sich im Vergleich fast in einer anderen Welt. Im deutlich milderen Klima wachsen Rebstöcke. Im Sommer öffnet in Gunten das Strandbad. Restaurants direkt neben den kleinen Segelschiffhäfen verbreiten mediterranes Flair. Und in sonnigen Jahren trägt sogar ein Kakibaum süsse Früchte. 


Artenreiche Südhänge

Die gegensätzlichen Lebensbedingungen finden sich am ganzen rechten Thunerseeufer. Die sonnige Lage macht die süd­exponierten Hänge aber auch zu einem wichtigen und artenreichen Lebensraum für wilde Tiere und Pflanzen. Max Dähler ist Reptilienexperte der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz. Er erklärt, dass sich am Thu­nerseeufer von mehreren Schlangenarten die letzten Populationen vor dem Mittelland finden. «Die Aspisviper habe ich bis Merligen beobachtet, die Schlingnatter bis Oberhofen. Weiter nord-westlich bis an den Jura sind sie weitgehend ausgestorben.» Die beiden Schlangenarten brauchen kein grosses Habitat, aber sonnige Rückzugsorte im Kalk- oder Sandstein der Region. Die Populationen am Thunersee sind eher klein. Nicht vergleichbar mit den deutlich grösseren Vorkommen in den höher gelegenen Gebieten des Kander- oder Simmentals. Die dichte Besiedelung und die Landwirtschaft verunmöglichen zunehmend das Überleben der Reptilien. Umso wichtiger sei es, dass der Mensch an den verbliebenen Orten durch kleine Hilfestellungen eingreife. 

Überraschend ähnlich tönen die Schilderungen von Beat Bühler. Er kennt die Entwicklung der Orchideen auf der Südseite des Thunersees wie nur wenig andere. Jahr für Jahr zieht der pensionierte Architekt aus Sig­riswil an den Standorten gefährdeter Or- chideen vorbei und hält die Zahl der blütentragenden Stängel fest. In der Schweiz gibt es 76 wilde Orchideenarten. Alle sind streng geschützt und 38 Arten der Blume wachsen am rechten Seeufer. «Das ist im Kanton Bern einmalig», so Bühler. Aber ihr Rückgang ist teils dramatisch. Ein gutes Beispiel ist die stark gefährdete Hummel-Ragwurz: In den Jahren nach der Jahrtausendwende fand Beat Bühler jeweils zwischen 30 und 40 Blüten. In den letzten Jahren kann er sie noch an einer Hand abzählen. An einer Matte, auf der die Hummel-Ragwurz noch blüht, zeigt er, wie ihr Lebensraum ohne Eingreifen des Menschen ganz schwinden würde. «Wird der Waldrand nicht gepflegt, droht die Wiese zu verbuschen.» Die hohen Bäume rundherum seien glücklicherweise gefällt worden. Träfe nicht mehr genügend Sonnenlicht auf den Boden, wäre die Hummel-Ragwurz nicht überlebensfähig.

Die sonnigen Hänge sind ein artenreicher Lebensraum für wilde Tiere und Pflanzen.

Für Platz und Licht sorgen

Dass sich die Bedürfnisse an die Landschaftspflege von Orchideen und Reptilien gleichen, hat der Forstbetrieb der Gemeinde Sigriswil erkannt. So entstand die Idee, ein Biodiversitätsprojekt zu lancieren, das einen Teil der Arbeit der Forstarbeiter auf den Schutz dieser Arten ausrichtet. Björn Weber, technischer Leiter des Betriebs, hat vor drei Jahren die kantonalen Behörden, Schutzorganisationen und die lokalen Kenner zusammen mit Grundeigentümern an einen Tisch geholt. Entstanden ist ein auf zehn Jahre ausgerichteter Plan mit Schutzmassnahmen für die ganze Region. Etwas Überzeugungsarbeit sei nötig gewesen. Doch die Einschränkungen, die für die Bewirtschaftung in Kauf genommen werden müssten, seien nicht gross. 

Schnell war klar, dass sowohl Orchideen als auch Reptilien genügend Platz und Sonnenlicht benötigen. Gefährdet sind sie dagegen, wenn ihre Lebensräume zuwachsen. Für die einheimischen Reptilien wie die Schlangen, aber auch die Eidechsen braucht es Geröllhalden, Steinhaufen oder Flühe. Ideale Zufluchtsorte sind auch vom Menschen gemachte und gepflegte Trockenmauern oder so genannte Steinkörbe (mit Steinen gefülltes Drahtgeflecht). Wichtig sind für die Reptilien, neben den Sonnenplätzen, Ritzen und Zwischenräume, die als Schlupfwinkel dienen. «Wir achten darauf, dass wir typische Geröllhalden regelmässig ausholzen und auch Trockenmauern pflegen», erklärt Weber. Viel von dem, was den Tieren nütze, seien Arbeiten, die bei der Waldbewirtschaftung auch sonst erledigt würden. Man habe in erster Linie die Standorte genau definiert und die Intensität des Auslichtens mit den Spezialisten abgesprochen. 

Auch die Orchideen brauchen zwischendurch etwas Umgebungspflege. Der bekannte Frauenschuh wächst beispielsweise in den Lichtungen von Buchen- und Föhrenwäldern. Entscheidend ist für diese Wald­orchidee das Verhältnis zwischen Licht und Schatten. Denn auch wenn es zu hell ist, verschwindet sie. Die Trocken- und Halbtrockenwiesen, in denen Orchideen wachsen, dürfen hingegen nur einmal im Jahr und vor allem erst spät gemäht werden. «Erst ab Mitte August ist sicher, dass sich die Samenkapseln geöffnet haben», erklärt Björn Weber. Wichtig sei zudem, dass das Gras nicht zu tief gemäht werde, damit auch die Rosette der Pflanze unversehrt bleibe.




Wer Südhängen entlang wandert…

Wer zur rechten Jahreszeit der Südseite des Thunersees entlangwandert, hat also durchaus Chancen, blühende Orchideen bestaunen zu können. Wegen ihrer Gefährdung werden die Standorte aber nicht veröffentlicht. Einen Strauss mit nach Hause zu nehmen oder sogar eine Pflanze auszugraben, ist verboten und kein Kavaliersdelikt. Und wer sich achtet und die Ohren offen hält, hört an sonnigen Plätzen sicher die Eidechsen rascheln. Wenn man in der Region eine Schlange sehen sollte, ist Angst nicht angebracht. Die Tiere sind sehr scheu, ein Biss durch eine Aspisviper, die einzige hier lebende Giftschlange, ist sehr unwahrscheinlich und bei ärztlicher Behandlung keine ernsthafte Gefahr. Auf den kommenden Seiten präsentieren wir einen kleinen Naturführer.

Forstbetrieb Sigriswil

Der Forstbetrieb Sigriswil ist in der Region Sigriswil, Thun und Stockental tätig. Er bietet neben der Holzernte unter anderem auch Neophytenbekämpfung und Gartenholzerei an. 

www.forstbetrieb.sigriswil.ch

Gut zu wissen

Das Standardwerk zur Botanik der Schweiz ist die «Flora Helvetica». Zur Bestimmung der Orchideen am Thunersee empfiehlt sich das Buch «Die Orchideen der Schweiz» von Beat A. Wartmann, erschienen im Haupt Verlag. 

Viele nützliche Informationen zu Reptilien, Beschriebe der Arten und ihrer Verbreitung finden sich auf der Homepage der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz.   

www.karch.ch

Aspisviper 

Die einzige Giftschlange am Thunersee. Sie kann bis zu 70 cm lang werden. Für Laien ist die Vipernart gar nicht so einfach zu erkennen. Charakteristisch ist die dunkle Rückenzeichnung, wobei die Grundfarbe grau, braun, beige, gelblich oder rötlich sein kann. Am Thunersee finden sich aber auch sogenannte Schwärzlinge. Die Tiere kommen mit normaler Färbung zur Welt und ihre Schuppen dunkeln in ihren ersten Lebensjahren komplett ab. Wieso das passiert, ist bis heute unklar. 

Schlingnatter 

 Die Schlingnatter ist die kleinste Schlange der Schweiz. Sie wird bis zu 70 cm lang und ist die in der Schweiz am weitesten verbreitete Schlangenart. Im Mittelland ist die Schlingnatter jedoch fast ausgerottet. Nebst ihrer kleinen Grösse erkennt man die Schlingnatter am dunklen Fleck auf der Oberseite des Kopfs. Sie lebt vor allem an trocken- warmen Standorten wie Schutthalden.

Mauereidechse 

 Die Mauereidechse ist mit maximal 20cm kleiner und schlanker, aber am Thunersee häufiger als die Zauneidechse. Charakteristisch ist ihr Schwanz, der ungefähr doppelt so lang wird wie der Rest des Körpers. Ursprünglich sind die heimischen Mauereidechsen braun. Am Thunersee können aber immer wie mehr grüne Exemplare beobachtet werden. Das sind Einflüsse südlicher beheimateter Populationen, die wahrscheinlich entlang der Bahnlinien auf die Alpennordseite gelangt sind und sich hier wohl fühlen. 

Ringelnatter

Die Weibchen der Ringelnatter können bis zu 130cm lang werden. Damit sind sie die grössten Schlangen, die am Thunersee leben. Genau handelt es sich bei den Tieren hier in der Region um die Barrenringelnatter. Charakteristisch sind die weissen Flecken hinter dem Kopf. Auch von der Ringelnatter gibt es Schwärzlinge. Sie hält sich vor allem in ungestörten Uferbereichen auf.

Frauenschuh 

Blütezeit: Mitte Mai bis Mitte Juli 

Der Frauenschuh ist wohl die bekannteste wilde Orchideenart der Schweiz. Die Pflanze wächst in Waldlichtungen und ist im Mittelland durch Ausgraben massiv dezimiert worden. Äusserlich ist der Frauenschuh kaum verwechselbar. Die Pflanze lebt mit einem Pilz in Symbiose, der sie ernährt. Erst nach etwa vier Jahren bildet sie das erste grüne Blatt und bis zur ersten Blüte können 16 Jahre vergehen.

Hummel-Ragwurz 

Blütezeit: Mai bis Mitte Juli 

Die Hummel-Ragwurz hat einen 10 – 30 cm hohen, ziemlich kräftigen Stängel. Sie ist sehr selten und stark bedroht. Die Hummel-Ragwurz wird von männlichen Bienen bestäubt. Verblüffend ist, wie sie von der Pflanze angelockt werden. Die Hummel-Ragwurz produziert eine perfekte Imitation des Sexualduftstoffs von Bienenweibchen. In der Zeit, in der die Weibchen selbst nicht fliegen, hat die Ragwurz leichtes Spiel und die Bestäubung gelingt.     

Bienen-Ragwurz 

Blütezeit: Juni bis Mitte Juli 

Die Bienen-Ragwurz wird zwischen 20 und 50 cm hoch. Ein Blütenstand bildet drei bis zehn Blüten. Die äusseren sogenannten Kelchblätter sind mit weiss oder rosa meistens heller als diejenigen der Hummel-Ragwurz. Die Bienen-Ragwurz wächst auf halbtrockenen Magerwiesen. Sie ist sehr selten. Eine Pflanze kann sich aber auch alleine über Jahre hinweg erhalten, da sie sogenannt autogam, also selbstbestäubend ist.

Puppenorchis 

Blütezeit: Mitte April bis Ende Juni 

Die Puppenorchis wird bis zu 40 cm hoch. Charakteristisch ist der langgestreckte Blütenstand mit bis zu 70 Blüten. Vom Aussehen her ist die Puppenorchis kaum verwechselbar. Jedoch ist auch sie sehr selten. Wenn, dann findet man sie in halbtrockenen Magerwiesen. Stark bedroht wird die Puppenorchis durch die Landwirtschaft. Sie ist auf eine späte Mahd angewiesen und verträgt absolut keinen Kunstdünger.