Sigriswil – dort leben, wo andere Ferien machen
Sigriswil – dort leben, wo andere Ferien machen
Die Gemeinde Sigriswil feiert dieses Jahr ein Jubiläum. Gefeiert wird der legendäre Freiheitsbrief von 1347, der also dieses Jahr 675 Jahre alt wird. Die Gemeinde am Thunersee mit ihren elf Dörfern hat aber noch viel mehr zu bieten als ihre interessante Geschichte.
Text: Samuel Krähenbühl | Fotos: Samuel Krähenbühl, zvg
Die traumhafte Lage am Sonnenhang des nördlichen Thunerseeufers lockt jedes Jahr Scharen von Touristen und Ausflüglern in die Gemeinde Sigriswil. Die flächenmässig grösste Gemeinde im Verwaltungskreis Thun besteht aber nicht nur aus dem zentral gelegenen Dorf Sigriswil, das der ganzen Gemeinde den Namen gegeben hat. Insgesamt elf Dörfer bilden seit dem Mittelalter ein Gemeinwesen. Davon zeugt mitten im Dorf Sigriswil das uralte Gemeindegewölbe, das als Gemeindearchiv diente. Es beherbergte den Sigriswiler Freiheitsbrief von 1347. Die Umstände der Entstehung des historischen Dokuments sind heute nicht mehr ganz greifbar. Sicher ist aber, dass sich die traditionell freiheitsliebenden Sigriswiler seit Generationen auf den Freiheitsbrief berufen.
Der Sigriswiler Freiheitsbrief ist ein öffentlicher Brief, der im Namen vom Landgraf Eberhard II. von Kyburg geschrieben und von anderen hochstehenden Persönlichkeiten beglaubigt wurde. Darin verkündet der Kyburger den Abschluss eines Kaufvertrags mit den «Lüt» und der «Gemeinde» der «Parochi von Sygriswile». Der Brief ist auf den 30. Juli 1347 datiert. Das Dokument ist in Mittelhochdeutsch auf Pergament (etwa 42 × 26 cm gross) handgeschrieben. Von den ursprünglich drei Siegeln ist nur mehr eines vorhanden. Das Original befindet sich im Archiv der Einwohnergemeinde Sigriswil. Für den Preis von «dreyhundert Pfund Pfenning, guter und gemeiner Währung zu Thun» verzichtete Eberhard II. für alle Zeit auf die ihm und seiner Familie zustehenden Rechte auf die Nutzung der von den Sigriswilern bewirtschafteten Ländereien. Nur das Jagdrecht behielt er sich vor. Praktisch heisst das, dass er auf den sogenannten Grundzehnten verzichtete.
Die Grenzen des betroffenen Gebiets sind mit Flurnamen und Bachläufen beschrieben, die man zum Grossteil heute noch kennt. Dieses Land entspricht in etwa dem heutigen Gemeindegebiet der Einwohnergemeinde Sigriswil ohne das Justistal, das Gut Ralligen und das Dorf Merligen. Das Justistal und Ralligen waren Kirchengut des Augustinerklosters Interlaken. Merligen gehörte zwar zum Kirchspiel («Parochi») Sigriswil, hatte aber grosse Teile seiner Ländereien schon früher dem Probst von Amsoldingen abgekauft.
Bekannter Chästeilet im Justistal und auf der Zettenalp
Doch noch viel bekannter als der altehrwürdige Freiheitsbrief ist das Sigriswiler Brauchtum. Der Chästeilet im Justistal, das zum Gemeindegebiet von Sigriswil gehört, ist nicht nur weltberühmt, sondern mit seinem ausgeklügelten System auch sehr gerecht. Die einzigen anderen Alpen, die einen Chästeilet in der Form von alters her kennen, sind die Obere und die Untere Zettenalp, ebenfalls im Gemeindegebiet von Sigriswil. Man nimmt an, dass spätestens seit 1739, als der Käsespeicher des Grossen Mittelbergs beim Spycherberg gebaut wurde, der Chästeilet in einer ähnlichen Form wie noch heute stattfand. Grundlage für die Verteilung des Käses ist das geseyte Bergrecht. Dieses Bergrecht bedeutet, dass eine Kuh von Juni bis Ende September gesömmert werden darf. Dazu gehören aber auch Pflichten wie die ungefähr fünf Tagewerke, die pro Recht jedes Jahr geleistet werden müssen. Der Chästeilet selbst ist aber kein Arbeits-, sondern ein Festtag. Der Chästeilet samt Alpabzug als Höhepunkt des Alpsommers findet immer an einem Freitag statt. Und zwar normalerweise genau vor dem Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag. An diesem Tag kommen alle Bergrechtsbesitzer oder -bewirtschafter, falls ihnen das Recht nicht selbst gehört, ins Tal, um ihren Käse abzuholen.
Vom System her gleich wie im Justistal und ebenfalls mit uralter Tradition teilen auch die Alpgenossenschaften der Oberen und der Unteren Zettenalp ihren Käse. Die beiden Zettenalpen sind ausserhalb des Sigriswilergrates mit grossartiger Aussicht auf das Zulgtal gelegen. Weil deutlich weniger Publikum an diesen kleineren, weniger bekannten Chästeilet kommt, ist dafür die Stimmung viel familiärer. Gleich wie im Justistal ist auch der Alpabzug, der hier jedoch nach Schwanden und je nachdem noch weiter zu den einzelnen Alpbesetzern führt.
«Zweitjenner» – so feiern die Sigriswiler den Jahreswechsel
Ausgewanderte Sigriswiler kommen nicht nur für einen der beiden Chäs- teilet nach Hause. Denn ebenfalls sehr populär ist das Brauchtum um den Jahreswechsel mit dem Höhepunkt am 2. Januar. Im Dialekt wird dabei nur vom «Zweitjenner» gesprochen. «Gloggne», «Wurschtbättle», «Töndere zünte». Und vieles mehr! Den Zweitjenner gibt es in seiner Art nur in der Gemeinde Sigriswil. Zwar gilt der 2. Januar (Berchtoldstag, «Bärzelistag») in vielen Gebieten als Feiertag, und in der Art, wie er gefeiert wird, gibt es Gemeinsamkeiten. Dazu gehören Neujahrs-, Winter- und Fasnachtstraditionen wie etwa Glocken- und Maskenumzüge oder «Neujahrsblätter».
Spätestens im 19. Jahrhundert haben die Touristen Sigriswil und seine landschaftlichen Schönheiten entdeckt. In der Belle Époque entstanden zahlreiche Hotels und Pensionen. Obschon einige davon mit der Zeit wieder verschwanden, verbleibt ein reichhaltiges Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten in Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen. Dazu gehören heute natürlich auch attraktive Wellnessangebote. So gibt es in der Gemeinde Sigriswil gleich zwei Hotelbetriebe mit eigenen Solbädern.
Vier beliebte Ausflugsziele in der Gemeinde Sigriswil
Es geschieht selten, dass ein neues Bauwerk innerhalb von nur zehn Jahren zu einem der beliebtesten und bekanntesten Ausflugsziele einer Region wird. Genau das ist aber mit der 2012 eröffneten Panoramabrücke geschehen, die seither Sigriswil und Aeschlen verbindet. Das imposante Bauwerk überspannt die Gummischlucht auf einer Höhe von bis zu 182 Metern. Die moderne, seilverspannte Hängebrücke gehört mit ihrer Länge von 340 Metern zu den längsten ihrer Art. Trotz einer Gebühr von acht Franken, die Auswärtige zur Überquerung bezahlen müssen, wird sie sehr oft besucht. Einen der schönsten Ausblicke geniesst man auf dem eindrücklichen Blueme-Turm oberhalb von Schwanden ob Sigriswil. Unterwegs auf dem Planetenweg Sirius des gleichnamigen Planetariums (siehe unten), wenige Schritte neben dem Weg, steht der Aussichtsturm Blueme. Das Panorama reicht vom Jura im Norden bis zu den Berner Alpen. Zwei Grillstellen mit je drei Grillrosten laden ein zu einer Rast in freier Natur. Der im Jahre 1984 aus Stahl erstellte Turm ist 16,4 Meter hoch. 87 Treppenstufen führen zur Aussichtsplattform.
Kein Geringerer als Claude Nicollier, der erste Schweizer Astronaut im All, eröffnete am 14. Oktober 2000 das Sternwarte-Planetarium Sirius in Schwanden. Zum Zeitpunkt der Eröffnung war es das zweithöchst gelegene Planetarium Europas. Kernstück der Sternwarte, die eine Kuppel von fünf Meter Durchmesser hat, ist eines der grössten Teleskope der Schweiz. Dieses hat einen Durchmesser von 63,7 Zentimetern. Ist die direkte Himmelsbeobachtung nicht möglich, kann auf das Planetarium ausgewichen werden. Es bietet unter einer acht Meter grossen Kuppel für 70 Personen Platz.
Die Grabenmühle ist eine Institution, die nicht mehr aus Sigriswil wegzudenken ist. Seit 1985 hat Familie von Gunten mit viel Unternehmergeist aus ihrer alten Mühle einen Erlebnisort der besonderen Art gemacht. Aus der alten Grabenmühle haben Andreas «Res» und Brigitte von Gunten eine hochwertige Fischzucht gemacht; im frischen Bergbachwasser wachsen Regenbogen- und Lachsforellen sowie Saiblinge heran. Die Fische werden ab Hof, in die Gastronomie oder auch auf Märkten verkauft. Wer will, kann sogar selbst hier fischen kommen. Neben der Fisch-, Hirsch und Alpakazucht wird noch viel mehr angeboten. Beispielsweise Goldwaschen wie im Wilden Westen und auch ein vielfältiges gastronomisches Angebot für Gruppen.
Elf Dörfer – eine Gemeinde
Die Gemeinde Sigriswil ist mit 55,41 Quadratkilometer Fläche seit jeher eine grosse Gemeinde. Im Kanton Bern liegt sie immerhin auf Rang 21 von aktuell 338 Gemeinden. Im Verwaltungskreis Thun ist sie vor dem nur halb so grossen Eriz gar mit Abstand die grösste Gemeinde. Die Berg- und Seegemeinde am rechten Thunerseeufer umfasst elf Dörfer, nämlich Gunten sowie Merligen am See, Aeschlen, Sigriswil, Endorf sowie Wiler auf der ersten darüberliegenden Terrasse, Ringoldswil, Tschingel sowie Schwanden auf der zweiten und Meiersmaad sowie Reust jenseits der Wasserscheide zur Zulg. Das Justistal, flankiert von Sigriswilgrat (Rothorn 2051 m ü. M.) und Güggisgrat, ist Alpgebiet. Auch punkto Einwohner ist Sigriswil eine recht grosse Gemeinde. Ende 2021 wohnten genau 4780 Einwohner dort. Auch aufgrund ihrer Grösse spielen die elf Dörfer für die Identifikation und früher auch für die Organisation eine grosse Rolle. So etwa fast bis in die Gegenwart im Schulwesen, wo die meisten der elf Ortschaften bis vor einigen Jahren eine eigene Schule unterhielten. Hier sind einzig Endorf und Wiler ein Spezialfall, die seit jeher gemeinsam das Felden-Schulhaus betreiben. Heute haben allerdings auch viele der anderen Dörfer keine eigene Schule mehr. Obschon die elf Ortschaften für die Bürgerinnen und Bürger seit jeher eine wichtige Rolle spielten, gab es lange keine parzellengenaue Abgrenzung. Dies war früher auch weniger wichtig, da die Siedlungen noch nicht zusammengewachsen waren, wie das etwa heute im Bereich Endorf und Sigriswil der Fall ist. Erst am 19. Dezember 2000 legte dann die Gemeinde die Grenzen parzellengenau fest. Allerdings wurde auch damals nur das dauerhaft besiedelte Gebiet fix einem Dorf zugewiesen. Deshalb gibt es auf der Abbildung auch grosse, unbewohnte Gebiete, die keiner Ortschaft angehören. Somit bleibt die Frage offen, ob beispielsweise die Spitze Flueh zu Wiler oder Merligen gehört. Trotz ihrer recht grossen Bedeutung stellen die Ortschaften (oder auch Dörfer) kein offizielles Gemeindeorgan dar, sondern sind als Vereine im Sinne von Artikel 60 des Zivilgesetzbuches organisiert. Man identifiziert sich sehr mit seinem Dorf. Ein Wiler ist eben kein Sigriswiler. Ein Reuster ist kein Meiersmader. Und die Einwohner von Gunten und Merligen kennen die Grenzen ihrer Gemarkung auch ganz genau. Das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der elf Dörfer ist ausgeprägt. Und die gegenseitige Hilfsbereitschaft ebenso.