Der Wald und sein Saum

Der Wald und sein Saum

Der Wald und sein Saum

Der Wald ist ein romantisch verklärter Ort. Ihm werden Balladen, Gedichte, Novellen und Märchen gewidmet. Es faszinieren die Bäume, der weiche Waldboden, die Moose, die versteckten Tiere, das geheimnisvolle Leben, die Ruhe, das wechselnde Licht und auch das Dunkle. 

Text: Verena Wagner  |  Fotos: Gerhard Bieri, Petra Graf, Kerstin Hinze, Jan Ryser, Verena Wagner, Martin Wettstein

Dem Waldrand, im Kanton Bern auch Waldsaum genannt, geht das Zauberhafte heutzutage etwas verloren. Ihm werden keine innigen Balladen gewidmet, kaum jemand mag ihn lyrisch oder musikalisch verehren. Seine Vielgestaltigkeit ist weniger romantisch, aber aus Sicht von Flora und Fauna ein potenziell vielfältiger Lebensraum. 


Vor lauter Wald kein Waldrand mehr

Als Waldrand bezeichnet man den Übergang zwischen Wald und offener Landschaft, häufig in die mehr oder weniger intensiv landwirtschaftlich genutzten Flächen oder ins Siedlungsgebiet. In den Alpen sind aufgelockerte Waldsäume noch öfter vorhanden – zur Freude von Berglaubsänger, Baumpieper und Birkhuhn. Im Mittelland und im voralpinen Raum ist diese Grenze zwischen Grün-/Weideland und Wald oft schroff gezeichnet.  

Das war früher anders. «Zusammen mit einem lichten Wald bildete das Feld einen breiten, halboffenen Lebensraum mit Wiesen und Gehölzen», der für den Holzschlag und als Viehweide genutzt worden sei, steht in einer Publikation des Schweizerischen Vogelschutzes SVS, Birdlife. Dadurch sind breite, locker bestockte Bereiche offen geblieben, auch im Kulturland. Im Verlauf der Zeit sind diese Flächen geschrumpft und landwirtschaftlich intensiver genutzt worden. Die Waldweide wurde später verboten (Ausnahme Jura), der Wald hat sich vielerorts zum heute oft dunklen und gleichförmigen Hochwald entwickelt, schreibt der SVS.

Seit einiger Zeit ist der Waldrand als bedeutendes Landschafts- und Lebensraumelement für die natürliche Artenvielfalt und als Windschutz für Bäume wiederentdeckt worden. «Ob ein Wald seine vielfältigen ökologischen Aufgaben erfüllen kann, hängt stark von seiner Struktur und seinem Aufbau ab. Ein Waldrand sollte buchtenreich und stufig aufgebaut sein und Klein­strukturen aufweisen», heisst es in der Wegleitung «Waldränder ökologisch aufwerten» von Pro Natura. Bund, Kantone, Gemeinden, Waldeigentümer, Landwirte, Förster und Naturschützer haben angefangen, die Waldränder punktuell auszulichten und aufzuwerten. Da jeder Waldrand bezüglich seiner Beschaffenheit und Lage unterschiedliche Voraussetzungen für eine Aufwertung von Lebensraumnischen mitbringt, werden individuelle Pflegepläne für Ziele und Massnahmen erarbeitet. Das Potenzial um die Förderung spezifischer Arten ist schier endlos, die Vorteile überwiegen klar die Nachteile. Eine höhere Artenvielfalt, mehr Äsung und Deckung für das Wild im Wald, weniger Schattenwurf auf das Kulturland und ein attraktives Landschaftsbild, um nur einige zu erwähnen. Entsprechende Erst- und Folgeeingriffe werden von Bund und Kantonen finanziell unterstützt.

Wir alle haben unsere eigenen «Waldbilder» und die zeigen einen Buchenwald, einen etwas dunkleren Fichtenwald oder vielleicht einen Laubmischwald, wie er bei uns am meisten vertreten ist. 

Wie sieht der ideale Waldrand aus?

Der klar definierte, ideale Waldrand ist eine Wunschvorstellung, der in der Realität aufgrund von Besitzverhältnissen, Bewirtschaftung von Land und Wald sowie der allgemeinen Kleinräumigkeit kaum vorkommt.

In vielen Publikationen wird ein angestrebtes, klassisches «Dreigestirn» aus Kraut- saum, Strauchgürtel und Waldmantel beschrieben. Es ist selten anzutreffen. Häufiger zu beobachten sind Elemente aus jeder Stufe, was den natürlichen Wert des Wald­rands nicht schmälern muss, denn der bietet mit vielfältigen, kleinen Nischen Nahrung, Kinderstube und Lebensraum für Tiere und den Boden für Pflanzen. Interessant wird er, wenn er offen und reichhaltig strukturiert ist. 

Einen solchen Waldrand wollen wir kennen lernen. Auf unserem Maispaziergang durch den noch lichten Wald verlassen wir den Waldweg, streifen durchs Unterholz und begeben uns an den Waldrand. Dort betrachten wir zuerst einmal eine blumenreiche Wiese, auf der viele Bienen an den Blüten der mehrjährigen Stauden wie Marg- riten, Bocksbart und Wiesensalbei verköstigen. In der Dämmerung oder im Morgengrauen ist Wild am Äsen, manchmal ist der Fuchs auf Mäusejagd, auch tagsüber.

Das ist der Krautsaum. Er ist die Pufferzone zum Wald hin, die oft von (direktzahlungsberechtigten) Landwirten als sogenannte Ökofläche angemeldet wird. Der Krautsaum muss einen Abstand von mindestens drei Metern zum Waldrand hin aufweisen und extensiv bewirtschaftet werden, das heisst kein Dünger- oder Gülleeintrag. Auf ihm dürfen weder Pestizide ausgebracht noch Siloballen oder landwirtschaftliche Fahrzeuge gelagert werden. 

Jetzt erkunden wir den ungefähr zehn Meter breiten Strauchgürtel. Er ist sozusagen das Herz des Waldrands, denn er erfüllt zahlreiche Aufgaben. Die Strauchschicht besteht aus einem Mosaik von schnell und langsam wachsenden Blüten- und Beerensträuchern. Die Kornelkirsche, auch «Tierlibaum» genannt, die Haseln, der Schwarzdorn (Schlehe) beispielsweise sind im März bereits willkommene Frühblüher für Wild- und Honigbienen sowie für Hummeln oder den Zitronenfalter, der übrigens als einziger als ausgebildeter Schmetterling dank körpereigenem Frostschutz den Winter und damit eine grosse Kälte bis minus 20 Grad aushält. Bereits Ende Februar locken wärmere Temperaturen Grasfrösche und Erdkröten aus ihrem Winteraufenthalt im Wald zum Gang ans Laichgewässer. Sobald der Frühling sich in voller Pracht entfaltet hat, sind Zaun- und Waldeidechsen unterwegs, ebenso Ringelnattern und Blindschleichen. Diese bewohnen gerne warme Nischen aus liegendem Totholz und Steinhaufen (häufig Lesesteine vom Land nebenan). 

Später fliegen auch weitere Schmetterlinge wie Aurorafalter, Kleiner Fuchs; zum Frühsommer hin sind Waldbrettspiel und Kaisermantel zu entdecken, die sich an Pfaffenhütchen, Wildapfel und zahlreichen Wildrosenarten gütlich tun. Sie alle lieben sonneneingestrahlte Waldsäume mit einem reich gedeckten Nektarangebot. Jahreszeitlich noch später würden wir nachts wohl die prächtigen kleinen und den mittleren Weinschwärmer auf Weidenröschen entdecken. 

Sitzen wir einen Moment unter einen Feldahorn, dann wird es in der Nähe schnell einmal rascheln. Eine Haselmaus ist unterwegs auf Futtersuche. Nebenan sind Waldameisen aktiv – sie bauen ihr haufenförmiges Haus aus Nadeln und krabbeln über unsere Füsse. In den Sträuchern tummeln sich etliche Vögel wie Goldammer und Grasmücke, auch ein Zaunkönig raschelt mausartig durchs Unterholz, ein Specht hämmert, der Kleiber ruft «Wiib, Wiib» und mit etwas Glück erscheint auch einmal ein Neuntöter. Ganz in der Nähe wird ein Haufen Totholz durch Käfer und Ameisen belebt – eine Ringelnatter wärmt sich an den frühen Sonnenstrahlen auf und zieht sich in den Schatten zurück, sobald es wärmer wird.

Bald gelangen wir an den Waldmantel, der mit seinen bereits hohen und noch höheren Weichholzbäumen den langsamen Übergang in den Wald darstellt. Im Waldmantel dominieren wiederum je nach Standort Eschen, Weiden und Pappeln, Feldahorn, Ulme, Nussbaum und natürlich die mystischen Sommer- und Winterlinden. Sie alle brauchen viel Licht und Wärme. 

Einmal im Wald angekommen, stehen wir auf dem weichen Waldnadelboden vor hohen Föhren, Fichten, Eichen und ab und zu einer Weisstanne. Auch da steht der Boden in voller Blütenpracht, solange die Bäume noch nicht laubbewachsen sind. Bärlauch und Buschwindröschen, Waldschlüsselblumen und Lungenkraut, auch Maiglöckchen und violette Veilchen bilden einen bunten Strauss von Frühlingsboten. Später huscht ein Eichhörnchen einen Stamm empor zu seinem Kobel, an der Buche hämmert ein Schwarzspecht laut an seiner künftigen Höhle, die später gerne von der Hohltaube angenommen wird. In der Nacht mag ein Kauz oder eine Eule unterwegs sein… gleichzeitig wird am Boden von einer ganzen Armee Regenwürmern Schwerarbeit verrichtet. Sie verarbeiten das Laub vom Herbst zu Erde, gut und gerne an die zweihundert Regenwürmer in einem Quadratmeter Boden!

Noch ein Wort zu «Sturmflächen», Stichwort Vivian und Lothar: Sie mögen für das menschliche Auge verheerend sein, aber für die Natur sind sie ein Segen. Diese sogenannten Windwurfflächen sind Teil des Waldkreislaufs. Sie sind Geburtsstätten neuen Lebens für Flora und Fauna. Totholz gehört ebenfalls dazu, denn dieses ist keineswegs ohne Leben. Wissenschaftler der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) haben herausgefunden, dass ein Viertel aller Käfer beispielsweise für ihren Lebenslauf auf stehendes und liegendes Totholz angewiesen sind.

Wir alle haben unsere eigenen «Waldbilder» und die zeigen je nachdem einen hellen Buchenwald, einen etwas dunkleren Fichtenwald, vielleicht einen Laubmisch­wald, wie er in unserer Gegend hier am meisten vertreten ist. 

Nach unserem Spaziergang sitzen wir jetzt einen Moment auf ein weiches, gut gepolstertes Moosbett, betrachten die Natur um uns herum und lauschen. Moose? Ja, über diese könnte man interessante Geschichten erzählen und über die Käfer, die Flechten, Pilze ... ein anderes Mal?

Übrigens

Die gesamte Waldfläche beträgt rund 190400 Hektaren, die Waldrandlänge liegt bei rund 21000 Kilometern. Insgesamt sind rund 30 Prozent der Kantonsfläche mit Wald bedeckt. Fast die Hälfte des Berner Waldes gehört privaten Waldbesitzern. Mit 48 Prozent liegt der Privatwaldanteil im Kanton Bern deutlich über dem Schweizer Durchschnitt (28 Prozent). Die andere Hälfte der Berner Waldfläche gehören Bund, Kanton und Gemeinden. Grössten Waldeigentümer ist der Kanton Bern selbst mit rund 12000 Hektaren (7 Prozent der Berner Waldfläche).

Rund 30 Prozent der Kantonsfläche sind mit Wald bedeckt.