Verborgene Schönheiten im Thunersee
Verborgene Schönheiten im Thunersee
Versteckt unter der Wasseroberfläche und wegen ihrer Grösse mit dem blossen Auge kaum erkennbar, verbergen sich unzählige Kleinstlebewesen in der atemberaubenden Welt des Thunersees. Diese Welt, die sonst vom Menschen ungesehen existiert, wird nun in den packenden Bildern von Karl Moser erstmals sichtbar.
Text & Fotos: Karl Moser
So können wir uns also freuen – bald ist das «Spiezerli» wieder auf dem Thunersee unterwegs. Auf der Website www.spiezerli.ch können Sie sich über den Zeitplan informieren und zusätzliche spannende Informationen zum Dampfer nachlesen. Ausserdem besteht auch immer noch die Möglichkeit, sich durch eine Spende am Projekt zu beteiligen – jeder Franken kann gebraucht werden. Es steht der Thunerseeregion sicherlich gut zu Gesicht, dass ein solches Stück Schifffahrts- und auch Tourismusgeschichte gepflegt wird und nicht finanziellen Überlegungen geopfert wurde. Gute Fahrt!
Abtauchen
Währenddem ich meine Tauchausrüstung zusammenstelle, geht die Sonne, ähnlich dem Bild einer Postkarte, stimmungsvoll unter. Wie schön unsere Thunersee-Region ist, bezeugen nicht nur die Touristen, die unweit von mir ein Foto nach dem andern knipsen und mit unverständlichen Worten ihre Begeisterung zum Ausdruck bringen. Ich überprüfe ein letztes Mal meine Ausrüstung und ob genügend Luft in meiner Flasche ist und steige dann mit meiner 7 kg schweren Fotoausrüstung ins Wasser. Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, um abzutauchen. Die meisten Tiere im See sind nämlich nachtaktiv.
Kurz nach dem Abtauchen überprüfe ich erneut, ob alles in Ordnung ist, und tauche dann ein in meine Welt, die mich mit ihren verborgenen Schönheiten immer und immer wieder zu verzaubern vermag. Es ist wunderschön, sich schwerelos im Wasser zu bewegen und den Alltag komplett auszublenden. Die Welt, in die ich eintauche und in die ich interessierte Betrachter, zumindest mit meinen Bildern, mitzunehmen versuche, übersteigt jede Vorstellung von Schönheit.
Die Makrowelt im Thunersee
12 Jahre tauchte ich an dieser «Welt» vorbei. Auf der Suche nach Hecht und Co. übersah ich die vielen Millionen Kleinstlebewesen im See. Ich erinnere mich noch genau an diesen Winternachmittag, als ich zum ersten Mal einer Köcherfliegenlarve begegnete. Ich entschied mich, ein Makroobjektiv zu kaufen, denn mit dem Weitwinkelobjektiv ein ameisengrosses Tier fotografieren zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, und die Suche nach dem Abbild dieses winzigen Geschöpfs gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Dank dem Makroobjektiv eröffnete sich mir jedoch eine neue Welt, die mit dem menschlichen Auge so nicht zu sehen ist. Eines der höchsten Gefühle unter der Wasseroberfläche ist für mich, wenn ich durch die Kamera mit den faszinierenden Lebewesen Auge in Auge bin und mich dabei erwische, wie ich mit ihnen spreche. Vereinzelt habe ich den Eindruck, dass sie mich sogar verstehen. Dass zahlreiche Menschen mit ihren Haustieren sprechen, ist kein Geheimnis. Wie viele Menschen sich aber mit Wasserflöhen austauschen, wäre noch zu erforschen.Solche Momente sind schwer zu beschreiben. Deshalb zeige ich hier einige meiner Bilder. Diese sagen mehr als tausend Worte und erfassen mit unfassbarer Präzision, was, verborgen im Wasser, webt und lebt.
Um solche Glücksgefühle zu erleben, braucht es nicht nur eine Unterwasserkamera mit Makroobjektiv. Auch perfekte Bewegungsabläufe sind Voraussetzung. Die Tarierung, das Ausgleichen des Gewichts ist von enormer Bedeutung, da sonst Sedimente und Schlick aufgewirbelt werden. Aber noch viel mehr ist die Ausdauer gefragt und Nerven aus Stahlseilen. Ehrlich gesagt: Meine Stahlseile sind schon des
öfteren gerissen. Speziell wenn sich mein «Fotomodell» nicht stillhalten will oder ich trotz aller Konzentration Schlick aufgewühlt habe. Schlick, Sedimente und Lichtverhältnisse sind neben den winzig kleinen Tierchen meine grösste Herausforderung. Ja, es ist anspruchsvoll, unter solchen Umständen zu fotografieren. Aber genau diese Herausforderung spornt mich an.
Auch nach zwei Jahren Makrofotografie im Thunersee bin ich noch lange nicht am Ende des Möglichen angelangt. Immer kleinere Details, wie etwa das Auge einer Eintagsfliege, fallen mir während meiner Tauchgänge auf. Immer auf der Suche nach der makellosen Aufnahme, dem perfekten Bild, zieht es mich unter die Wasseroberfläche. Und so habe ich heute Abend erneut einen Grund, einzutauchen in meine Welt.
Schwimmkäfer – die «Himugüegeli» vom Thunersee
Mein heutiges Ziel ist es, ein noch besseres Bild von einem meiner Lieblinge im See zu machen. Es ist ein gelbbrauner Zwergschwimmer, der zur Familie der Schwimmkäfer gehört. Für mich ist dieses winzige Insekt das «Himugüegeli» vom Thunersee. Ich kenne zwei Plätze, an denen ich bei Nachttauchgängen mehrere Schwimmkäfer antreffen kann. Dieser Käfer wird ca. 3 mm gross und ist ein sehr guter und schneller Schwimmer. Mit seinen sechs Beinen, wovon die hinteren länger und behaart sind, rudert er wild durchs Wasser. Ich bin gespannt, ob heute meine glückliche Nacht ist. Mit meiner Tauchlampe leuchte ich vorsichtig die Wand ab und bringe mich in eine möglichst gute Position. Und sofort zeigen sich meine Lieblinge, die gerade auf Futtersuche sind. Leider gelingt mir auch heute kein wirklich gutes Bild von meinen Schwimmkäferchen. Ich entscheide mich deshalb, weiter zu tauchen.
Schnecken
Das Gegenteil der Schwimmkäfer sind die Schnecken, die sich langsam und ruhig durch die Gewässer bewegen. Es gibt mehrere Arten und man unterscheidet Wasserlungenschnecken, die zum Atmen an die Oberfläche kommen, und Lungenschnecken, die über Kiemen Sauerstoff aufnehmen und zum Atmen nicht an die Oberfläche kommen müssen. Hier im Thunersee gibt es viele Schnecken. Eierförmige Schlammschnecken sind leicht auszumachen, auf Steinen oder auf Algenfeldern findet man sie beim Fressen von Bakterien und Algen. Sie sind Zwitter, jedoch mit getrennten Geschlechtsöffnungen. Die Schlammschnecke ist ein Lungenatmer. Sie muss also an die Wasseroberfläche, um Luft zu holen. Leider konnte ich das noch nie beobachten. Tellerschnecken und Posthornschnecken findet man unter Blättern oder auch an Holzstücken. Beide Arten gehören, wie die Schlammschnecke auch, zu den Lungenatmern. Die Schnauzenschnecke hingegen atmet mit Kiemen. Sie besitzt ein kegelförmiges Haus und gehört nicht zu den Zwittern. Von den Schnauzenschnecken gibt es sowohl Männchen wie auch Weibchen.
Köcherfliege, Eintagsfliege
Sie gehören zu meinen Favoriten, die Köcherfliegen. Der Name kommt von den Köchern, die einige Larven bauen. Mit Hilfe von Spinndrüsen im Mundbereich spinnen sie sich eine Hülle um den Körper. Einige bauen Ihren Köcher mit Holzstücken, andere wiederum mit Sandkörnchen oder Pflanzenmaterial. Die Larven der Köcherfliege und der Eintagsfliege leben zwischen einem und drei Jahren. Die erwachsenen Tiere leben nur noch wenige Stunden oder Wochen, um sich fortzupflanzen. Was mich begeistert an diesen Tieren ist ihre Entwicklung. Ein bis drei Jahre leben sie im Wasser und dann für eine kurze aber wichtige Zeit können sie sich in der Luft bewegen. Diese Überwindung der Grenzen der Elemente ist einfach faszinierend.
Krebse
Kamberkrebse findet man vorwiegend am linken Thunerseeufer in der Region Leissigen. Leider bedrohen eingeführte Krebse unsere einheimischen Arten. Ihr Krebspesterreger dezimierte und gefährdete unseren Krebsbestand gewaltig. Trotzdem beobachte ich diese Tiere gern und staune immer wieder über ihr filigranes Mundwerkzeug. Im Gegensatz zu anderen Krebsen sind Kamberkrebse auch am Tag anzutreffen.
Der grösste einheimische Krebs kann bis zu 18 cm gross werden. In den Jahren seit ich tauche konnte ich ihn nur zweimal sichten. Dafür gibt es millionenweise Kleinkrebse, die am Seegrund im Schlick leben und, für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar, ihre Kreise ziehen. Mit viel Geduld und einer Prise Glück gelangen mir einige überraschend gute Bilder. Normalerweise werden solche Tiere unter dem Mikroskop im Labor fotografiert. Doch ich habe immer daran geglaubt, dass es mir eines Tages gelingen wird, einen der kleinsten Thunerseebewohner in seinem natürlichen Habitat abzulichten.
Gemeine Wasserflöhe haben eine Grösse von bis zu 2 mm. Letzten Winter hatte ich das Glück, einen Glaskrebs, der ca. 1 cm gross ist, mit meiner Kamera einzufangen. Eigentlich war ich dabei, die kleinsten Krebse zu fotografieren. 0,2–2 mm klein sind die Ruderfusskrebse, die zum Zooplankton gezählt werden. Währenddem ich also die Kleinsten vom See knipste, waren die Glaskrebse auf der Jagd. Erst zu Hause beim Betrachten der Bilder stellte ich fest, dass ich auf einigen Bildern Glaskrebse erwischt hatte. Und zu meinem Erstaunen sind diese Bilder gestochen scharf und jedes kleinste Detail ist erkennbar. Scheinbar zufällige Schätze wie dieser treiben mich immer wieder an, unterzutauchen und die Unterwasserwelt weiter zu erforschen.
Und wo endet die Nahrungskette im Thunersee?
Muscheln, Süsswasserpolypen, Moostierchen, Wasserasseln, Milben, Fischegel, Strudelwürmer, Muschelkrebse, Hüpferlinge, Langschwanzkrebschen, Karpfenläuse: Alle diese Tiere leben in unserem schönen Thunersee und bilden eine Nahrungskette für Fische und nicht zuletzt auch für uns Menschen. Wo die Nahrungskette des Thunersees beginnt, bleibt mir ein Rätsel, und so bin ich auf der Suche nach verborgenen Schönheiten in der Hoffnung, doch noch ein unerforschtes Lebewesen zu entdecken, um es in unserer Welt begrüssen zu dürfen.
«Wo die Nahrungskette des Sees beginnt, bleibt mir ein Rätsel. Und so hoffe ich, doch noch ein unerforschtes Lebewesen zu entdecken, um es in unserer Welt begrüssen zu dürfen.»