Von pionierhaftem Wagemut und von behördlichem Versagen

Von pionierhaftem Wagemut und von behördlichem Versagen

Von pionierhaftem Wagemut und von behördlichem Versagen

Die Neuzeit in der Region Thun könnte man in «vor dem Kanderdurchstich» und «nach dem Kanderdurchstich» unterteilen. Dieses wortwörtlich einschneidende Ereignis brachte für einige Gebiete grosse Veränderungen mit sich. Positive und Negative. Der Bau des Kanderdurchstichs war ein mutiges Unterfangen, ein Jahrhundertwerk mit vielen Unwägbarkeiten und teils dramatischen Folgen.

Text & Fotos: Thomas Bögli

Seit der letzten Eiszeit bis vor rund dreihundert Jahren floss die Kander dem Strättlighügel entlang und ergoss sich bei Allmendingen über die Ebene. Durch das viele Geschiebe, das die Kander in der Ebene hinterliess, staute sie sich immer wieder selber und das Wasser musste sich neue Wege suchen. So änderte die Kander ihren Lauf im Verlauf der Jahrtausenden immer wieder und floss mal Richtung Strättligen in den Thunersee, ein andermal Richtung Uttigen in die Aare. Bei Gewitter und heftigen Regenfällen konnte die Kander grosse Landstriche von Strättligen bis hinunter nach Uttigen überschwemmen. Die dadurch anschwellende Aare beschädigte bis nach Bern Uferbauten, Schiffsanlegestellen und Mühlen. Hochwasser verursachten selbst flussabwärts bis in den Aargau Zerstörungen.


Die Stadt Thun fürchtete das «schmutzige Kanderwasser». Ausserdem fürchtete sie sich vor einem erhöhten See- und Aarepegel, der Brücken und Häuser gefährden würde. 

Projekt 

Bereits 1680 existierten Pläne, die das Ableiten der Kander in den Thunersee vorsahen. Sie wurden aber immer wieder zurückgestellt. Nach neuen grossen Zerstörungen durch Hochwasser im Jahr 1693 gelangten die betroffenen Gemeinden 1698 mit einer Eingabe an die Gnädigen Herren von Bern, in der sie baten, die Kander in den Thunersee umzuleiten. Auf diese Eingabe hin setzte der Rat am 20. Dezember 1698 eine Kommission ein, welche einen Bericht vorlegte, in dem festgestellt wurde, dass eine Ableitung der Kander in den See prinzipiell machbar sei. 

Schnell erwachte Opposition gegen das Vorhaben. Die Stadt Thun fürchtete das «schmutzige Kanderwasser». Ausserdem fürchtete sie sich vor einem erhöhten See- und Aarepegel, der Brücken und Häuser gefährden würde. Der Einfluss der Kander auf den Wasserhaushalt des Thunersees war beträchtlich. Das Einzugsgebiet der Kander und ihrer Zuflüsse hatte die gleiche Grössenordnung wie jenes der Aare, wenn sie in den Thunersee mündet. Beruhigend wies die Kanderkommission darauf hin, den für Thun entstehenden Gefahren könne durch entsprechende bauliche Massnahmen begegnet werden. 1710 wurde das Projekt für die Kanderumleitung für dringlich erklärt. Die Kanderkommission zog als Experten den Artillerieleutenant Samuel Bodmer aus Amsoldingen und die Ingenieure Emanuel Gross aus Bern und Pietro Morettini aus Locarno bei.

Samuel Bodmer kam zum Schluss, dass die Hochwassergefahr mit einer Ableitung der Kander im Hani durch den Strättlighügel in den Thunersee gebannt werden könnte. Da mit der Umleitung der Kander das Einzugsgebiet und damit der Wasserzufluss in den Thunersee sich ungefähr verdoppeln wird, schlug Bodmer vor, vor dem Bau des Durchstichs in Thun und unterhalb Thun Massnahmen zur Erhöhung des Thunersee-Abflusses vorzusehen. Am 11. Februar 1711 beschloss der Grosse Rat der Stadt und Republik Bern, mit 137 gegen 8 Stimmen, vorerst einmal die Kander in den Thunersee abzuleiten und erst später, wenn überhaupt nötig, die flankierenden Massnahmen in Thun zu bauen. Damit wurde das erste schweizerische Projekt beschlossen, das in grossem Umfang in einen natürlichen Flusslauf eingriff. Dabei galt es einige technische Hürden zu meistern und Vorbehalte und Widerstände auszuräumen.

Kosten

Für die Umleitung der Kander in den Thunersee sah Bodmers Projekt einen offenen Einschnitt durch den Strättlighügel vor. 

Die Kosten für die Realisierung dieses Projektes von rund 45 000 Taler übernahm zu zwei Dritteln der Staat Bern. Das andere Drittel war durch Beiträge der Gemeinden in Form von Geld und der Zurverfügungstellung von Arbeitskräften zu übernehmen. (Zum Vergleich: 45 000 Taler entsprachen etwa der Hälfte der Staatseinnahmen Berns im Jahre 1710. Um 1710 kostete der Bau eines Hauses in Bern rund 500 Taler. Die veranschlagten Kosten des Kanderdurchstichs entsprachen also etwa den Kosten von 90 Häusern in Bern.) Weil die Umleitung der Kander viel Unvorhergesehenes nach sich zog, kostete der Kanderdurchstich den Staat Bern letztlich aber viel mehr, als vorausberechnet.

Arbeitskräfte 

Nach seiner Ernennung zum Generalaufseher verpflichtete Samuel Bodmer am Anfang rund 150, im späteren Verlauf zeitweise bis zu 400 Arbeitskräfte. Gearbeitet wurde 12 Stunden von 5 Uhr morgens bis 19 Uhr abends mit Essenspausen von 7 bis 8 und von 12 bis 13 Uhr. Für die 7 Monate, in denen pro Jahr am Durchstich gearbeitet wurde, gab es einen Lohn von über 500 Batzen. (Zum Vergleich: Der Jahreslohn einer Magd in Bern betrug damals 150 Batzen, der eines Handwerkgesellen zwischen 300 und 500 Batzen.)

Insgesamt forderte der Bau des Kanderdurchstichs 5 Tote und viele Verletzte.

Durchstich 

Am 1. April 1711 begannen 150 Mann von der Kanderseite her den Strättligenhügel längs des vorgesehenen Verlaufs des Durchstichs das Moränenmaterial abzutragen. Um an mehreren Stellen den Abbau des Hügels in Angriff nehmen zu können, wurde treppenförmig auf mehreren Ebenen (Stufen) gleichzeitig gearbeitet.

Doch es stellte sich bald heraus, dass man die Schwierigkeiten und den Aufwand zum Abtragen des Strättlighügels unterschätzt hatte. Zur damaligen Zeit standen für den Abbau nur einfache Werkzeuge wie Schaufeln, Pickel und Hauen zur Verfügung. Das abgebaute Material wurde mit Schubkarren, Körben und Tragen (Hutten) abtransportiert. Der Aushub des geplanten Einschnittes und die erforderlichen Böschungssicherungen waren damit nur schwer zu bewältigen. 

Am 9. Mai 1712 mussten die Arbeiten eingestellt werden. Der Ausbruch des Zweiten Villmerger Krieges zwischen den katholischen und protestantischen eidgenössischen Orten, in den auch Bern involviert war, erzwang bis August 1712 einen Unterbruch der Arbeiten. Nach Kriegsende wurden die Arbeiten nicht sofort aufgenommen, denn im für das Projekt verantwortlichen Kanderdirektorium kamen Zweifel an der Zweckmässigkeit des Vorhabens und an der Richtigkeit der Vorgehensweise von Samuel Bodmer auf. Deshalb schlug Architekt Samuel Jenner, Mitglied des Kanderdirektoriums, vor, an Stelle der riesigen Erdbewegungen im Tagbau den Strättlighügel mit einem Stollen 45 Meter unterhalb dem Kamm auf bergmännische Art zu durchbohren, was schneller und günstiger wäre.

Trotz vieler Bedenken erhielt Jenner die Erlaubnis zum Bau des Stollens. Er übernahm die Leitung und baute den Stollen auf eigene Rechnung.

Stollen 

Nach der zweiten Winterpause, im Frühling 1713 begann Samuel Jenner mit dem Bau des Stollens. Der 300 m lange Stollen wurde zuerst von der Kanderseite, später auch von der Seeseite her mit Sprengungen vorgetrieben. Dazu benötigte man nur 4 bis 16 Mann. Das Profil von 12 m Breite und 4,5 m Höhe wurde durch einen fachmännischen Rundholzeinbau gesichert. Gleichzeitig zum Bau des Stollens wurde von oben her mit bis zu 400 Mann weiter der Einschnitt abgegraben. Anfangs Dezember 1713 erfolgte der Durchbruch des Stollens. Der Ausbau wurde im Frühjahr 1714 abgeschlossen. Samuel Bodmer musste Ende 1713 die Bauleitung der oberirdischen Arbeiten am Einschnitt abgeben. 

Einleitung des Wassers in den Stollen 

Am 12. Dezember 1713 wurde versuchsweise erstmals ein Teil des Kanderwassers in den eben durchbrochenen Stollen geleitet. Im Frühjahr 1714 kritisierte Emanuel Gross, die Zuführung der gewaltigen Wassermassen in den Thunersee, ohne vorher für besseren Abfluss zu sorgen. Er beanstandete, dass weder Fläche noch Tiefe des Thunersees, weder Zufluss der Kander bei Hochwasser, noch das Abflussvermögen der Aare bei Thun ermittelt wurden. Am 18. Mai 1714 wies das Kanderdirektiorium alle Bedenken zurück und beschloss die oberirdischen Grabarbeiten einzustellen und das Kanderwasser allmählich durch den nun fertig erstellten Stollen zu leiten. Anfangs Juli 1714 erfolgte dann die beschlossene Einleitung des Wassers in den Stollen, was eine unerwartete und dramatische Entwicklung auslöste, die dem Kanderdirektorium völlig entglitt.

Einbruch des Stollens

Vor dem Kanderdurchstich floss die Kander in ihrem alten Bett mit einem Gefälle von nur rund einem halben Prozent der fast 10 km entfernten Mündung in die Aare unterhalb Thun entgegen. Nachdem die Kander anfangs Juli 1714 durch den Stollen umgeleitet wurde, stürzte sie anfänglich mit einem Gefälle von über 20% (!) in den nur rund 250 Meter entfernten Thunersee hinunter. Mit diesem Gefälle nahm die Fliessgeschwindigkeit im Stollen massiv zu und bereits Stunden nach der Umleitung kam eine unerwartet starke Erosion des relativ lockeren Moränenmaterials in Gang. Bereits zwei Wochen später brachen Teile des Stollengewölbes ein und die oberen Geländepartien sackten ab. Der damals an der Strättligburg vorbeiführende Weg nach Frutigen zeigte Risse. 

Am 18. August 1714 brach das noch verbliebene Gewölbe über dem Stollen vollends ein. Die Kander befreite das vom Schutt des Einsturzes verschüttete Bett selber und es entstand ein Einschnitt bis auf die Höhe des Stollens, so wie es von Bodmer eigentlich ursprünglich geplant war. Man erwog die Umleitung rückgängig zu machen und die Kander wieder in ihr altes Bett zurückzuleiten. Dazu war es aber zu spät, denn die Kander weitete den Stollen schnell zu einer Schlucht aus, deren Sohle innerhalb von nur zwei Jahren rund 25 m unter der einstigen vorgesehenen Sohle und damit auch unter dem alten Kanderbett lag.

Folgen des Kanderdurchstichs

Die Umleitung der Kander in den Thunersee war an und für sich eine geniale und zugleich mutige Idee von historischer Bedeutung. Es war die erste grossräumige Gewässerkorrektur in der Schweiz, dessen Erfahrungen später den Projekten für den Linthkanal und der Juragewässerkorrektionen zugute kamen. Jedoch wurden die Folgen des Durchstichs nicht genügend und nicht richtig abgeschätzt. Die bernische Obrigkeit musste für die vielen begangenen Fehler und Irrtümer einen hohen Preis bezahlen. 

Die rasch einsetzende starke Erosion und ihre Folgen beschränkte sich nicht nur auf das Gebiet beim Durchstich. Um das starke Gefälle auszugleichen setzte eine Rückwärtserosion ein, die bis weit ins Kander- und Simmental hinauf spürbar war und bis auf den heutigen Tag nicht vollständig abgeschlossen ist. 

Die von Samuel Bodmer und von Emanuel Gross geäusserten Befürchtungen betreffend ungenügender Abflusskapazität erwiesen sich als berechtigt. Die Stadt Thun stand 1714, 1715, 1718, 1720 und 1721 tagelang unter Wasser. Bis heute sind die ­Folgen der Kanderumleitung in Thun spürbar. Die Aare unterhalb Thun wurde mehrmals einer Korrektion unterzogen und erst fast 300 Jahre nach dem Durchstich wurde endlich der bereits im Projekt von 1710 in Aussicht gestellte Entlastungskanal, in Form eines Entlastungsstollen unter der Thuner Innenstadt durch, realisiert. 

Viele kostspielige Anpassungen, die selbst in der heutigen Zeit noch Nachbesserungen erfordern, waren nötig, damit der Kanderdurchstich heute als Erfolg gelten kann.

Der in den letzten dreihundert Jahren entstandenen Kanderschlucht ist heute nicht mehr anzusehen, dass sie ursprünglich von Menschenhand geschaffen worden ist. Sie steht seit 1978 unter Landschaftschutz.

Buchtipp

Der prägende Einfluss der Kander auf die Region Thun

Autor: Thomas Bögli
176 Seiten, 21,5 × 25,5 cm, gebunden, Hardcover
mit 127 Bildern und 2 Grafiken.
ISBN 978-3-03818-184-2
CHF 39.– / EUR 39.– 

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