Leticia Kahraman: Eine junge Frau, von der wir noch hören werden

Leticia Kahraman: Eine junge Frau, von der wir noch hören werden

Leticia Kahraman: Eine junge Frau, von der wir noch hören werden

Man muss nicht die Körperfülle der vor nicht allzu langer Zeit verstorbenen Montserrat Caballé vorweisen, um grossartige Töne von sich zu geben. Die zierliche Leticia Kahraman beweist das immer wieder auf den Brettern, welche nicht nur ihr die Welt bedeuten. Wir haben uns mit der Sängerin aus Thun unterhalten, die ihren vorgezeichneten Weg zur klassischen Opernsängerin längst in Angriff genommen hat.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

 

Ein Bub aus der Nachbarschaft sagte Leticia Kahraman einst: «Wenn du Opernsängerin werden willst, musst du ja ganz dick werden.» Die Sängerin schmunzelt, wie sie das heute erzählt. Irren ist bekanntlich menschlich. Mit Leticia Kahraman zu reden, ist eine grossartige Erfahrung. Sie sprüht vor Lebensfreude, ist eine glänzende Unterhalterin, ihr Lachen steckt an – und sie ist trotz ihres Erfolges bodenständig geblieben. Nichts von Diva – Chapeau!

 

 

Feine Stoffe, aber zu teuer 

 

Die Frage sei gestattet: Kahraman als Familienname weist nicht unbedingt auf Wurzeln im Emmental hin. Woher stammt sie also? Ganz einfach: Ihr Vater kam vor über 40 Jahren aus der Osttürkei in die Schweiz. Und als was fühlt sie sich, mit den zwei Seelen, die in ihrer Brust schlagen? «Als Schweizerin, als Thunerin am Thunersee. Aber auch als Zaza, eine Angehörige der Volksminderheit in Ostanatolien. Mein Vater stammt aus einer Region, die der Schweiz sehr ähnlich sieht, mit hohen Bergen, Flüssen und Wäldern. Meine Mutter und ihre Eltern kommen aus der Schweiz, von der Lenk und aus St. Stephan. Beide Kulturen schlummern in mir, was für mich eine absolute Bereicherung darstellt.»

Leticia – sie hat zwei Schwestern – erzählt eine Episode aus ihrer Familiengeschichte, die durchaus darauf schliessen lässt, dass es im Leben keine wirklichen Zufälle gibt. Ihr Vater verlässt sein Elternhaus bereits als Zehnjähriger und meistert sein Leben von da an ganz auf sich alleine gestellt in einer der grössten Metropolen der Welt: Istanbul. Es gelingt ihm, eine Ausbildung als Schneider in Angriff zu nehmen und zu beenden. Mit dieser Fähigkeit kommt er in die Schweiz. Eine erste Stelle findet er beim Stadttheater Bern, wo er Kostüme näht, also in der Nähe jener Bretter, wo seine Tochter unterwegs ist, später bei der Uniformenfabrik Zumbach.

Ihr Vater lernt während seiner Zeit am Stadttheater seine spätere Frau kennen, 1984 eröffnen die beiden eigene Kleiderboutiquen, eine in Bern, drei in Thun. Während dieser Zeit ist Leticia Kahramans Vater fast jedes Wochenende in Paris, um feine Stoffe für seine Kundschaft auszusuchen. Leticia erzählt mit einer hörbaren Portion Stolz: «Noch heute sehe ich Menschen in Thun, welche Kleider aus der Boutique meiner Eltern tragen. Qualität bleibt eben Qualität.» 1999 dann wollen – oder müssen – ihre Eltern etwas ganz anderes machen, schliessen die Boutiquen – nicht zuletzt wegen den aufkommenden Kleiderketten mit ihren tiefen Preisen – und eröffnen die «Cafe Bar Zentral» auf dem Mühleplatz, die heute Leticia und ihre Schwester Leila führen. Dort findet auch unser Gespräch statt.

 

«Ma maman est gentille…» 

 

Jetzt aber definitiv zur Sängerin Leticia Kahraman: Wann hat sie damit angefangen? «Schon als Kind. Bei uns war es üblich, dass wir mit unserer Mutter jeden Abend vor dem Zubettgehen ein ganzes Kinderliederbuch ‹durchgesungen› haben.» Mit der Zeit begleitete Klein-Leticia den Gesang auf einem einfachen Keyboard, mit eigenen Melodien und Texten ergänzt, wie «Ma maman, elle est gentille, ma maman…»

Ihren eigentlichen Einstieg in die Klassische Musik erlebt sie in der 7. Klasse, als man mit der Schule ins Theater geht, zur «Zauberflöte» von Mozart (zu welcher Aufführung denn sonst, wenn nicht die Zauberflöte? Anmerkung des Schreibenden). «Das ist mir eingefahren, von da an wusste ich: Ich will auch so singen können.» Mit Folgen: Jeden Abend steht sie auf der Terrasse und übt an ihrer Stimme, bis einem ihrer Nachbarn ihr Talent auffällt, dem Organisten Ezio Paganini aus Thun. Fortan üben die beiden zusammen, der Musiker ermöglicht Leticia auch Auftritte im kleinen Rahmen.

Es folgt das Gymi und die Frage, wo Leticia einen Schwerpunkt im Musikunterricht legen soll: Gesang oder Klavier? Die Antwort kennen wir. In diese Zeit fällt mit dem «Ave Maria» von Bach/Gounod das erste erlernte klassische Werk, welches sie in Begleitung von Ezio Paganini in Kirchen aufführen kann. Für das spätere Studium singt sie in Bern vor, ihre Zulassung an die Hochschule der Künste klappt. 

90 Minuten Gesang pro Woche

Was sie über diese Studienzeit erzählt, lässt einen Laien staunend aufhorchen: «In dieser Zeit hatten wir gerade mal 90 Minuten Gesang pro Woche.» Wie bitte? Wie war das doch gleich? Leticia studiert ja Gesang, nicht wahr? Offenbar sind andere Fächer wichtiger: Musikgeschichte, Aufführungspraxis, Improvisation, Theorie. Nach drei Jahren schliesst sie ihre Ausbildung mit dem Bachelor ab, zwei Jahre später mit dem Master (siehe Kästchen). Die Gagen während dieser Zeit helfen, das Studium mitzufinanzieren, ebenso ihre Arbeit im elterlichen Betrieb, wo sie heute noch anzutreffen ist, weil das gesangliche Einkommen für den Lebensunterhalt noch nicht ganz ausreicht.

Leticia Kahraman wird heute von vielen Veranstaltern gebucht, wobei sie alles selber unter den berühmten Hut bringen muss; einen Agenten oder Manager hat sie nicht, kann sie sich nicht leisten. Erstaunlich, wenn man um ihre Ausbildung und – vor allem! – ihre Auszeichnungen weiss. Zwei dieser Preise sind ihr besonders wichtig: Sie gewinnt 2012 und 2013 gleich zweimal den Studienpreis des Migros-Kulturprozents, was nichts anderes heisst, als dass der Migros-Genossenschafts-Bund MGB während dieser Zeit 2⁄3 der Kosten für Ihre Gagen übernimmt, der Veranstalter nurmehr ein Drittel. Kulturförderung, die ihresgleichen sucht. 2011 bereits gewinnt sie den Kulturförderpreis der Stadt Thun. 

Ehrliche Dankbarkeit

Leticia Kahraman spult die Liste ihrer Preise nicht einfach herunter, als hätte sie das bereits hundertfach gemacht. Bei jedem erinnert sie sich an einen besonderen Moment. Dabei merkt man ihr etwas an, das in der heutigen Zeit selten geworden ist: Dankbarkeit. Sie spricht das auch offen und ehrlich aus. Das passt genau ins Bild, das man von dieser jungen Frau bekommt, ein Mosaikstein fügt sich nahtlos an den nächsten an.

Stellt sich also die Frage: Wann wird das Mosaik in seiner ganzen Schönheit zu sehen sein? Sie lacht: «Das geht noch eine Weile, aber mein Ziel ist klar: Ich will Opernsängerin werden. Doch dazu benötige ich den Vertrag eines Hauses und auch sehr viel Glück, dessen bin ich mir bewusst.» Interessant ist, wie sie die Entwicklung ihrer Stimme als Sopranistin in Richtung Opernsängerin beschreibt: «Sie wird schwerer, ausgereifter. Das hat sicher mit dem Alter zu tun, aber auch mit der Gesangstechnik und der zunehmenden Erfahrung.» Welche Rolle würde sie denn später gerne einmal singen? «‹Mimi› aus la Bohème mit der bekannten Arie ‹Sì, mi chiamano Mimì› von Puccini», sagt sie, die auch für Werke von Verdi, Wagner und Mozart schwärmt.

Und in ihrer Freizeit, was macht sie da, singt sich Leticia Kahraman sozusagen durchs Leben? Es kommt das längst erwartete Lachen: «Nein, ich bin draussen in der Natur, esse sehr gern und tausche mich mit Leila aus, die für mich mehr als eine Schwester ist.» 

Leticia Kahraman: Eine Frau geht ihren Weg. Und der führt nach oben. Auf die Opernbühne.

«In dieser Zeit hatten wir gerade mal 90 Minuten Gesang pro Woche.»

Zur Person

Leticia Kahraman ist in Thun geboren und aufgewachsen. Sie beginnt nach der Matura mit dem Gesangsstudium an der Hochschule der Künste Bern bei Prof. Marianne Kohler-Bouyer und schliesst 2010 ihren Bachelor of Arts in Music ab. 

Ihr Studium setzt Leticia Kahraman mit dem Master of Arts in Music Performance bei Mireille Delunsch und Thierry Gregoire fort und schliesst diesen 2012 erfolgreich ab. 2010 bis 2012 ist Kahraman Mitglied des Schweizer Opernstudios in Biel. Sie besucht Meisterkurse bei Noëmi Nadelmann, Heidi Brunner, Angelika Kirchschlager, Mireille Delunsch, Tatiana Korsunskaya, Christian Hilz, Krisztina Làki, Michalis Doukakis und Cheryl Studer.   

Leticia Kahraman ist Preisträgerin der Friedl Wald Stiftung 2010, des Thuner Kulturförderpreises 2011, Halbfinalistin des Concours Suisse Ernst Haefliger 2012, Preisträgerin des Studienpreises des Migros-Kulturprozent 2012/2013 und Preisträgerin der Kaminsky Foundation 2016. Zudem pflegt sie eine rege Konzerttätigkeit im In- und Ausland.

 

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