Leben im Alter: Zuerst werden die Kleider  abbezahlt!

Leben im Alter: Zuerst werden die Kleider abbezahlt!

Leben im Alter: Zuerst werden die Kleider abbezahlt!

Es ist wieder eines jener Gespräche, die unter die Haut gehen, weil das, was Werner Ramseyer aus seinem Leben erzählt, nicht im tiefen Mittelalter stattgefunden hat, sondern vor nur etwas mehr als 50 Jahren. In dieser unserer hehren Schweiz. Heute lebt er im Alterswohnheim Sonnmatt in Thun.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: Thomas Bornhauser, Zirkus Knie, zvg

Werner Ramseyer, geboren 1932, wächst in Lützel- flüh auf. Sein Vater ist nicht sehr oft zu Hause, überhaupt kümmert er sich nicht gross um seine Familie. Dies scheint in seinen Augen Auf- gabe der Mutter, die deshalb arbeiten muss und sich nicht richtig um die Kinder sorgen kann, sodass Werner als jüngstes Kind – sein ältester Bruder ist Jahrgang 1914 und wohnt 1932 deshalb gar nicht mehr zu Hause – verdingt wird. Während seiner Schulzeit wohnt und arbeitet Werner bei einem Bauern, über Nacht kann er jeweils zur Mutter.



Keine Ausbildung möglich

Seine Mutter ist 47 Jahre lang bei der Blachenfabrik in Hasel-Rüegsau beschäftigt, legt die Strecke 29 Jahre lang zu Fuss zurück, später nimmt sie den Zug zwischen Lützelflüh und Hasle-Rüegsau. Und da gibt es eine Besonderheit: Weil die Zugbegleiter wissen, wo Frau Ramseyer arbeitet, kann es vorkommen, dass man unterwegs für Werners Mutter husch einen Halt einlegt und ihr beim Aussteigen sogar hilft, an inoffizieller Stelle, damit sie nicht so weit laufen muss. Zurück aber zu Werner, der nach der Schulzeit gerne den Beruf des Käsers erlernen möchte, bei der Käserei Hofer in Waldhaus. Das wäre kein Problem, ein Ausbildungsplatz ist sogar frei. Das Unglaubliche an der Sache: Jener Bauer, der Werner seit Jahren bereits als Schulkind ausnutzt, lässt ihn nicht ziehen: «Zuerst werden die Kleider abgearbeitet, die wir dir in den letzten Jahren kaufen mussten!» 

Ein Muni als Kronzeuge

Bis zur Rekrutenschule muss Werner Ramseyer bei diesem, dazu noch steinreichen Bauern ausharren, als Knecht im Stall. Als ob das nicht schon entwürdigend genug wäre, wird er auch noch von einem Melker gemobbt. Dieser erzählt der Bäuerin nämlich, Werner schmeisse Brot weg, statt es zu essen. Die Bäuerin glaubt dem Melker, so dass Werner während einer Woche nur Käse zu essen bekommt, kein Brot. Der Jüngling wehrt sich dann aber für einmal und fordert die Bäuerin und ihren Mann auf, mit ihm und mit dem Melker in den Stall zum Muni zu kommen. Er, Werner, werde ihnen zeigen, was mit dem Brot genau passiert.

Der Melker bekommt den Auftrag, sich dem Muni – über 1000 Kilogramm schwer – anzunähern und ihn zu streicheln, was nicht gelingt, weil das Tier sich nicht befehligen lässt und den Melker anschnaubt. Anschliessend probiert es Werner. Der Bauer rät ihm, einen Stecken zu nehmen, der Muni sei kein einfacher. Werner lehnt ab, nähert sich dem Muni, der die ausgestreckte Hand von Werner mit der Zunge ableckt, weil das Tier genau weiss, dass es jetzt ein Stück Brot gibt. Altes Brot übrigens, dass er nicht vom Tisch der Bäuerin entwendet, sondern von einem Bäcker bekommt. «Keiner hat sich bei mir entschuldigt, die Bäuerin nicht, der Bauer nicht, der Melker schon gar nicht», erinnert sich Werner Ramseyer heute noch. Geld bekommt der gutmütige Knecht für seine Arbeit keines, zu Weihnachten einmal Socken, Hosen oder ein Hemd.

«Geld bekommt der gutmütige Knecht für seine Arbeit keines, zu Weihnachten einmal Socken, Hosen oder ein Hemd.»

Dank em Bärndütsch

Zur Aushebung für die Rekrutenschule geht es nach Sumiswald. Alle Jünglinge wollen zur Artillerie, sie werden jedoch als «zu klein gewachsen» befunden, ausser einem: Werner, der dann nach Sion einrückt. Während der RS sucht er sich einen Job – und findet eine Stelle bei Bigler Strassenbau in Bigenthal, muss jedoch die Lastwagenprüfung bestehen, was ihm auch gelingt, wo- rauf er Kies durch die Gegend fährt.

Nach einiger Zeit sucht er eine Veränderung, nachdem er bei Bigler bereits gekündigt hat. In einer Zeitung sieht er, dass der Zirkus Knie einen Fahrer für Traktoren und Lastwagen sucht, also bewirbt sich Werner Ramseyer. Die Reaktion folgt prompt: «Sie können gleich nächsten Montag beginnen, melden Sie sich in Genf.» Wir schreiben Mitte der 50er-Jahre, Werner Ramseyer gefällt die Arbeit beim Zirkus, schliesslich kommt man weit herum. Dem Zirkus fällt es leicht, die besten Artisten aus ganz Europa zu beschäftigen, denn alle wollen sie in die vom Krieg verschonte Schweiz.

Pierette Knie-Dubois ist die Frau von Fredy Knie. Und eine Bernerin. «Fredy, Herr Ramseyer ist Berner, ich höre seinen Dialekt so gerne, stell ihn doch als unser Privatchauffeur ein», bekommt Fredy Knie zu hören, Zirkusdirektor in fünfter Generation. Was dann auch geschieht. «Fredy Knie war ein grossartiger Chef, sehr zuvorkommend, immer fair», sagt Werner Ramseyer bei unserem Gespräch, «das konnte man damals nicht ganz von allen Knies sagen.» 

Über 3 000 000 Kilometer

In jener Zeit gastierte der Zirkus Knie während des Winters in anderen Städten Europas: Barcelona, Madrid, Lissabon, Brüssel, München, um nur einige zu erwähnen. Das Wanderleben gefällt Werner Ramseyer. Bei der Erzählung einer Episode in St. Gallen lacht er: «Es galt Schnee vom Zeltdach zu schaufeln, viele Männer waren am Werk, ich schaute ihnen zu, was ihnen missfiel, sie reklamierten lautstark. Und wie reagiert Fredy Knie? Er sagte, ich solle das Auto holen und mit ihm wegfahren, so höre das ‹dumme Züügs› auf.»

Fast fünf Jahre lang arbeitete Werner Ramseyer beim Zirkus, «dann hatte meine Mutter längi Zyti nach mir, weshalb ich in ihrer Nähe eine Stelle als Chauffeur in der Mühle Fraubrunnen gesucht habe». Dort muss Werner die bis zu 100 Kilogramm schweren Mehlsäcke nicht bloss ausfahren, sondern bei den Kunden auch zum Teil über mehrere Stockwerke hochtragen. Mit der Zeit geht das in die Knochen, was mit ein Grund dafür sein dürfte, dass Werner Ramseyer heute am ganzen Körper an starker Arthrose leidet.

Nach über drei Jahren findet er eine Stelle als Chauffeur beim Transportunternehmen Brechtbühl in Muri bei Bern, wo er 36 Jahre lang arbeitet und nicht nur in der Schweiz herumfährt, auch nach Deutschland, Österreich und Italien. Insgesamt legt er in dieser Zeit über drei Millionen Kilometer zurück. Vor allem aber lernt er bei Brechtbühl seine spätere Frau kennen, Margrit Stäger, die einen Sohn aus erster Ehe mitbringt. Am 31. August 1963 heiraten die beiden. Es kommt dann einmal der Tag, an dem Margit ihrem Mann sagt, sie würde zum Wohnen gerne von Muri nach Thun zügeln, so dass man sich in Thun umzusehen beginnt, um dann an die Gwattstrasse 46 zu ziehen, in Sichtweite der Sonnmatt, wo wir Werner Ramseyer treffen und wo er seit letztem Jahr lebt.

«Und wie reagiert Fredy Knie? Er sagte, ich solle das Auto holen und mit ihm wegfahren, so höre das ‹dumme Züügs› auf.»

Am Hochzeitstag gestorben

Vor knapp vier Jahren erkrankt Margrit schwer, sie muss ins Spital, «der Arzt meinte, sie könne nicht mehr nach Hause.» Damit will sich Werner Ramseyer nicht abfinden, er nimmt seine Frau zurück an die Gwattstrasse, pflegt sie während drei Jahren, macht den ganzen Haushalt, erledigt die Kommissionen und, und, und… Bis es wirklich nicht mehr geht. Durch Zufall ist eine 2-Zimmer-Wohnung in der Sonnmatt frei, sozusagen vis-à-vis, es wird gezügelt. Am 31. August 2018 stirbt Margrit Ramseyer, exakt an ihrem Hochzeitstag.

Werner Ramseyer mag nicht klagen, schliesslich hat er «mit Margrit eine sehr schöne Zeit verbracht, über so viele Jahre – und heute könnte ich mir keinen schöneren Platz als hier in der Sonnmatt wünschen.»

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