Yvonne Stöckli: Von der verschollenen Flasche zur Sommelière des Jahres 2016
Yvonne Stöckli: Von der verschollenen Flasche zur Sommelière des Jahres 2016
Im Alpenblick treibt die Anzahl an Weinen aus dem In- und Ausland im hauseigenen Weinbuch so manchen Gästen Schweissperlen auf die Stirn. Zum Glück steht die Gastgeberin Yvonne Stöckli mit viel Freude, Herzblut und ihrem enormen Wissen jedem beratend zur Seite.
Text & Fotos: Jasmine Aemmer
Beeindruckend bescheiden und bodenständig wirkt sie, wenn man bedenkt, dass sie letztes Jahr die Auszeichnung zur Sommelière des Jahres 2016 von GaultMillau erhielt – und dies, ohne je eine Ausbildung auf diesem Gebiet gemacht zu haben. Ein Beweis dafür, dass die Leidenschaft doch die wichtigste Zutat für den Erfolg ist.
Auf den Wein gekommen
Man fühlt sich sofort wohl in der heimeligen Atmosphäre des Restaurant Hotel Alpenblick. Viele ausländische Gäste verweilen im gemütlichen Haus mitten im touristischen Wilderswil, aber auch viele Schweizer Gäste, die gut essen wollen, gehören zur Kundschaft. In der Dorfstube liegt die beeindruckende Weinkarte auf. Gegen die 1000 Weine finden hier Platz, der grösste Teil davon sind Schweizer Produkte. «Die Liebe zur Schweiz und das Einheimische unterstützen ist mir sehr wichtig und massgebend für die grosse Auswahl an inländischen Tropfen auf unserer Weinkarte», erklärt Yvonne Stöckli, Gastgeberin des Hauses.
Die von GaultMillau zur Sommelière des Jahres 2016 ausgezeichnete Weinkennerin sagt, dass sie vor 25 Jahren, als sie (ohne Berufserfahrung in der Gastronomie) im Alpenblick begann, keine grossen Weinkenntnisse hatte. Damals kümmerte sich ihr Mann als absoluter Weinliebhaber um die schon recht umfassende Weinkarte. Rasch packte auch sie die Leidenschaft. Strahlend erzählt die zierliche Frau: « Ich wurde regelrecht ins kalte Wasser geworfen. Am Anfang war ich total überfordert mit unserem Weinbuch. In den ersten Jahren habe ich immer meinen Mann um Rat gefragt, wenn jemand zu seinem Essen eine Weinempfehlung von mir wollte.» Sie begann, ganz viele Weine zu probieren. Durch das Vergleichen fand sie sich peu à peu zurecht, erkannte allmählich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der edlen Tropfen und konnte somit die Gäste immer besser beraten.
Wie kam es aber zu dem enormen Umfang der heutigen Weinkarte? Zusammen mit ihrem Mann fing sie an, die Karte schrittweise aus- und aufzubauen. Als hätte der Hausherr beim Kauf des 400-jährigen Chalet-Hauses vor 35 Jahren geahnt, dass es schon bald Platz für viele Flaschen Wein brauchen würde, hob er damals eigenhändig in vielen mühseligen Arbeitsstunden im Untergeschoss einen Keller mit Naturboden aus.
Heute ist es ein wahres Erlebnis, ihn zu betreten. Mit seinen prall gefüllten deckenhohen Regalen, in denen sich die guten Tropfen abenteuerlich aufeinander stapeln, wird er bis auf den letzten Zentimeter ausgenutzt. Wenn man sich als Gast im Keller umsieht und die mit kleinen Nummern beschrifteten Regale betrachtet, kann man sich gut vorstellen, welche Herausforderung es für neue Mitarbeiter darstellt, bei einer Bestellung die richtige Flasche zu finden. Sie sind nach Ländern und Regionen nummeriert. Da immer mal wieder neue Weine dazukommen, verschiebt sich folglich auch die Reihenfolge und die Suche wird noch kniffliger. «Ein eigener Showkeller, wo wir mit den Gästen verweilen könnten, das wärs!», sinniert Frau Stöckli.
Heute berät sie am liebsten Gäste, die mit dem Weinuniversum noch nicht vertraut sind. Langsam tastet sie sich mit ein paar Stichworten an die Gäste heran. Meistens haben Weineinsteiger einen ähnlichen Geschmack, stellt sie fest. «Manchmal trauen sie sich dann sogar, auf meine Empfehlung hin einen etwas schwereren Wein zu probieren.» Und wenn ihre Gäste dann ganz überrascht feststellen, dass der Wein ihren Geschmack trifft, ist die Gastgeberin mehr als zufrieden. «Extrem cool» findet sie auch, dass sich heute viel mehr Leute trauen zu sagen, wenn sie sich mit Wein nicht auskennen. «Vor 20 Jahren wollte man nicht als Banause gelten und fragte darum auch nicht um Rat. Das gleiche ist übrigens beim Besteck zu beobachten. Wenn drei, vier verschiedene Bestecke aufliegen, gibt es ab und zu mal Gäste, die fragen, welcher Löffel oder welche Gabel denn nun für welches Gericht zu benutzen sei. Den Austausch, der dann mit den Gästen entsteht, schätze ich sehr.»
«In den ersten Jahren habe ich immer meinen Mann um Rat gefragt, wenn jemand zu seinem Essen eine Weinempfehlung von mir wollte.»
Überzeugt von der Qualität der Produkte auf ihrer Karte, bietet Yvonne Stöckli auch denjenigen, die eher ausländischen Wein bevorzugen, Alternativen aus der Schweiz an. «Den Gast positiv zu überraschen mit einem guten Schweizer Wein, das ist mein Ziel – denn die Schweiz bietet etliche tolle Weine», schwärmt sie. Geprägt durch junge Winzer mit guten Ideen, die von den Erfahrenen lernen, weist die Branche eine grosse Vielfalt auf hohem Niveau auf. Warum also sollte man immer ins Ausland schweifen? Vielmehr möchte sie in der Schweiz die besten Winzer finden und deren Kreationen weiterempfehlen. Bei so viel Verbundenheit zu inländischem Wein erstaunt es nicht, dass sich im Restaurant Alpenblick die Mehrheit der Gäste für einen Schweizer Wein entscheidet.
Von Herzblut und verschollenen Flaschen
Als 17-Jährige half sie bei einem Winzer in den Rebbergen. Damals hatte sie keine Ahnung von Wein und konnte auch nicht ahnen, dass sie sich jemals für Wein interessieren würde. Was ihr durch diese Erfahrung aber klar wurde, war die viele schwere Handarbeit, die in einer Flasche Wein steckt. Grosse Achtung hat sie vor kleinen Winzerbetrieben, die ihr ganzes Herzblut in die Produktion einfliessen lassen. «Nur so können grossartige Weine entstehen.»
Ihr enormes Wissen hat sie sich denn auch durch den regelmässigen Besuch und Austausch mit Winzern und durch die Praxis in ihrem Betrieb angeeignet. Auf den begehrten GaultMillau-Titel hat sie nicht spezifisch hingearbeitet. Die Auszeichnung basiert auf der Qualität der Weinberatung im getesteten Haus. Ihr Vorteil war, dass sie die Weinkarte des Alpenblicks schon sehr lange betreut und darum hervorragend kennt. «Es ist wahr, dass unsere Weinkarte besonders dick ist. Bei so einer dicken Karte muss man bestimmt auch etwas mehr wissen.» Viele der jüngeren Sommeliers wechseln öfters mal die Stelle, um Erfahrungen zu sammeln, weiss Frau Stöckli. Dadurch müssen diese sich zuerst in die jeweilige Weinkarte des Hauses einleben, was seine Zeit dauert. «Dieser Umstand hat sicher positiv mitgespielt.»
«Vor allem eine grosse Portion Glück und der richtige Zeitpunkt spielen bei der Vergabe dieser Auszeichnung mit», meint Stöckli. Der Testesser kommt jeweils unangekündigt und behält für sich, worauf er ein besonderes Augenmerk legt. Im Nachhinein weiss Stöckli, an welchem Abend der GaultMillau-Gesandte kam. An besagtem Abend fiel nämlich etwas vor, was nur selten passiert.
In der gut besuchten Gaststube wurde ein besonderer Wein bestellt. Nachdem auch die zweite Servicemitarbeiterin die Flasche nicht finden konnte, wusste Yvonne Stöckli, dass es sich um eine spezielle Bestellung handeln musste und stieg selber in den Keller, um den Wein zu suchen. Es handelte sich um eine neuere Flasche auf der Karte, die mit Sicherheit an Lager war. Es war mit grosser Wahrscheinlichkeit sogar das erste Mal, dass ihn ein Gast bestellte, darum konnte er auch nicht ausverkauft sein. Nichtsdestotrotz ging ihre Suche leer aus, die Flasche blieb unauffindbar. Mit zitternden Knien ging sie an den Tisch des Gastes zurück, um ihm die Situation zu schildern. Durch die Flaschenwahl war ihr klar, dass es sich um einen Weinkenner handeln musste. Schnell ergriff sie die Initiative und fragte: «Wenn Sie mir sagen könnten, wieso Sie gerade diesen ausgewählt haben, könnte ich Ihnen etwas anderes empfehlen.» Als Alternative schlug sie ihm dann einen Wein vor, den er nicht kannte. Das Resultat: Der Gast liess sich auf die Empfehlung ein und war begeistert. Dieser Zwischenfall war der entscheidende Moment, in dem sie ihr umfangreiches Wissen unter Beweis stellen konnte und beim Testesser voll ins Schwarze traf.
Ein anderes Mal ging es weniger glimpflich aus. Es war in den Anfängen im Alpenblick, als eine Gruppe Gäste an einem langen Tisch einen Wein im «Körbli» bestellte. In solchen Situationen liess Frau Stöckli normalerweise ihren Mitarbeitern den Vorzug, da diese damals über mehr fachliche Kenntnisse verfügten als sie selber. Alle waren jedoch zu diesem Zeitpunkt beschäftigt, also machte sie sich eigenhändig an das Öffnen der Flasche. Übung hatte sie ja zur Genüge, dachte sie, und was konnte schon viel anders sein als bei einer normalen Flasche? Bald sollte sie den Unterschied am eigenen Leib erfahren. Ein lautes «Blob»-Geräusch folgte auf das Entfernen des Korkens und mit ihm entleerte sich der rote Inhalt in einem Strahl über den Tisch der Gäste. Zum grossen Unglück traf es vor allem den Rücken einer Dame im eleganten hellen Kleid, der es verständlicherweise schwer fiel, die Situation mit Humor zu nehmen. «In solchen Situationen fällt man fast in Ohnmacht.» Seitdem wird im Alpenblick mit neuen Servicemitarbeitern erst mal hinter dem Tresen geübt, wenn es um das Servieren von Wein geht.
Tête-à-tête
Selber geniesst Frau Stöckli Wein am liebsten in Zweisamkeit mit ihrem Mann. Qualität steht für sie klar über Quantität. Genügend Zeit sollte man sich nehmen beim Verkosten, denn wenn die innere Stimmung und das Ambiente nicht stimmen, mundet auch der beste Wein nicht richtig. Sie schwärmt für schweren roten Wein und freut sich auf die kältere Jahreszeit. «Aber auch im Sommer kann man ungeniert einen guten Rotwein trinken. Er darf dann ruhig auch etwas kühler sein als sonst.»
In ihrem Keller gebe es auch Flaschen, von denen sie sich fast nicht trennen könne und die sie dann auch nicht erwähne bei einer Weinberatung, gibt sie augenzwinkernd zu. Beim Wein sei es so: «Jede Flasche hat ein Ziel. Bestellt tatsächlich mal jemand einen meiner Lieblingsweine, dann freue ich mich natürlich, dass er den Weg zu guten Gästen findet und er in vollen Zügen ausgekostet wird.» Nach ihrer persönlichen Einschätzung kehren vor allem sehr offene Gäste und Geniesser bei ihr ein. Wenn dann ein Raritätenwein bestellt wird, ist es nicht selten, dass der eine oder andere Gast die Hausherrin ein Glas Wein mittrinken lässt.