Eva Frei: Das Gschichtewyb vor dem Samsung-Galaxy-Plakat…
Eva Frei: Das Gschichtewyb vor dem Samsung-Galaxy-Plakat…
Keine kennt alte Spiezer Geschichten besser als Eva Frei, die als Lieder- und Gschichtewyb ihr Publikum auf ihren mittlerweile acht Rundgängen der anderen Art immer wieder in Staunen zu versetzen vermag. Auch ihre «ärdeschöne Vollmondnächt» mit Spuk- und Geistergeschichten sowie die beiden «Sagen am Tatort» in und um Spiez begeistern Jung und Alt gleichermassen. Eine Begegnung der besonderen Art.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: zvg
Was ist eine Sage? Eva Frei braucht nicht lange, um zu antworten: «Eine Sage ist zeit- oder ortsgebunden. Sie erzählt von einer Begebenheit, die so oder ähnlich wirklich einmal vorgefallen ist. Im Laufe der Jahrzehnte, der Jahrhunderte, verändern sich die Geschichten durch das Weitererzählen über Generationen hinweg, der Kern bleibt aber erhalten. Oft findet sich dieser in alten Dokumenten.» Den Zugang zu diesen ermöglicht ihr Lebenspartner, der als Historiker handgeschriebene Notizen in der alten Schrift liest und transkribiert, das heisst, dass er die Inhalte in einer uns zugänglichen Sprache und Schrift darstellt.
Waschweiber waren nicht nur Klatschtanten
Und worin liegt der Unterschied zwischen einem Gschichtewyb, wie von Eva Frei verkörpert, und einem Wöschwyb, im heutigen Sprachgebrauch als Schwätzerin abgestempelt? «Die Wöschwyber waren meist Tagelöhnerinnen, die fremde Wäsche am Dorfbrunnen oder an Bächen wuschen. Beim ‹Rible, Brätsche u Schwänke› wurde aus dem Leben erzählt, wurden Neuigkeiten aus der Umgebung ausgetauscht und kommentiert und vielleicht nicht immer besonders liebevoll mit eigenen Vermutungen ausgeschmückt. Das Wöschwyb hatte damit unter anderem eine soziale Funktion. Die Darstellung der Wöschwyber als Klatschtanten ist zu einseitig und wird den Frauen nicht gerecht.»
Vor zwölf Jahren hat Eva Frei mit ihrem ersten Spiezer Rundgang angefangen, im Laufe der Jahre sind weitere dazugekommen (siehe Programm). Weshalb hat Eva Frei überhaupt damit begonnen? «Sagen haben mich schon immer fasziniert, vor allem jene, die mit meinem Wohnort in Zusammenhang stehen», sagt sie, die seit 30 Jahren in der Nähe des Hondrichwaldes wohnt, eines Ortes, an dem sich in Mondnächten wunderbar Spukgeschichten erzählen lassen.
Recherchen über Recherchen
Eva Frei ist keine, die am Schluss der Kette mündlicher Überlieferungen steht und nur das weitergibt, was man sich halt so erzählt. Sie interveniert, recherchiert: Was lässt sich belegen? Wo ist der Kern einer Geschichte, wo die Wahrheit?
Eva Frei erklärt es uns am Beispiel der fünf Frauenschicksale um 1900. Darin kommen eine Hebamme, eine alte Magd, eine Rebarbeiterin, eine Unternehmerin und eine Auswanderin vor. Das Gschichtewyb – das seine Erzählungen als Liederwyb zusätzlich aufwertet – hat während eines halben Jahres mit ungefähr fünfzig betagten Spiezerinnen und Spiezern gesprochen, hat sie nach ihren Erinnerungen befragt. «Es ist unglaublich, was mir die Leute von früher alles erzählt haben, aus direktem Erleben oder aus Überlieferungen ihrer Eltern und Grosseltern», kommt sie ins Schwärmen. «Ich musste gar nicht mehr fragen, sondern nur noch zuhören und mitschreiben.» Einige dieser Gesprächspartnerinnen und -partner sind inzwischen verstorben, ein Glück also, dass Eva Frei noch mit ihnen sprechen konnte, um die Vergangenheit auch für künftige Generationen festzuhalten.
Professionelle Ausbildung
Spätestens mit diesen Frauenschicksalen wandeln sich die Rundgänge von Eva Frei zu eigentlichen Theateraufführungen. Sie stellt jede dieser fünf Frauen mit deren Kleidern und deren Sprache dar. Die Unternehmerin ist ganz anders als die alte Magd.
Wo hat sie ihre Schauspielausbildung absolviert? Spontanes Lachen kommt als Antwort: «Ich habe keine, kann mich aber offenbar derart mit meinen Rollen identifizieren, dass die dargestellten Figuren authentisch wirken.» Sie ist aber auch sonst bereits seit längerer Zeit künstlerisch und kreativ tätig: Sie besitzt Lehrdiplome für Violine und Viola und unterrichtet hauptsächlich Kinder. Ausserdem haben Stimmarbeit und Stimmbildung für sie einen hohen Stellenwert. Und ihre ursprüngliche Erzählerinnenausbildung ergänzte sie durch Besuche von Weiterbildungskursen in Darstellung.
Was die Inhalte ihrer Erzählungen angeht, ist es mit Recherchen allein, mit Gesprächen oder Nachforschungen in Archiven, für die Perfektionistin nicht getan. Sie besucht die Schauplätze ihrer Figuren, lässt die Umgebung auf sich wirken – und macht auch vor weniger schönen Orten wie den beklemmenden Zellen und der Folterkammer im Schloss Trachselwald nicht Halt. Sie weiss, wie die «Oberen» früher gelebt haben, und wie das Fussvolk. Ihr ist bekannt, wie die feinen und weniger feinen Herren ihre Mägde schwängerten, um sie anschliessend als Hexen zu denunzieren, verfolgen und umbringen zu lassen, nur um ihren eigenen Ruf zu schützen. «Beim Rundgang, bei dem ich vom Schicksal der Sesi erzähle, geht es mir auch sehr stark darum, Frauen wie sie, die unschuldig zu Tode gekommen sind, zu rehabilitieren.» Eva Frei betont dabei, dass auch heute noch viele Frauen Ähnliches erleiden, was sie besonders nachdenklich stimmt.
«Am liebsten erzähle ich Wahres, Schicksalsgeschichten, die unter die Haut gehen.»
Wahre Geschichten
Welche Geschichten mag Eva Frei am liebsten? Es kommt eine klare Antwort: «Am liebsten erzähle ich Wahres, Schicksalsgeschichten, die unter die Haut gehen. Diese Geschichten umrahme ich mit passenden Liedern, die ich singe und mit meiner Viola begleite. Die Erzählungen werden auf diese Art mehrdimensional. Auf der einen Seite stehe ich als Erzählerin, auf der anderen die Hauptfigur der Geschichte, die mit den Liedern ihre Befindlichkeit ausdrückt. So werden die Erzählungen zu einem ganzheitlichen Erlebnis.»
Das Bedürfnis, Wahres zu erzählen, lebt das Gschichtewyb auch in ihren Rundgängen aus. Immer wieder nimmt sie sich ein neues lokales oder regionales Thema vor, recherchiert ausgiebig darüber, bis genug Material vorhanden ist. Eine besondere Herausforderung ist es dann, aus dem Zusammengetragenen einen in sich geschlossenen, verständlichen Theater-Spaziergang zusammenzustellen, die richtigen Texte zu schreiben, den roten Faden sichtbar zu machen und Szene für Szene zu einem Ganzen zusammenzufügen. Und dann sollen die verschiedenen Personen, die im Stück vorkommen, durch eine leichte Änderung des Kostüms oder durch ein kleines Requisit klar erkennbar sein. Die Rundgänge werden zu spannenden Geschichtsfenstern, die einen Einblick geben in eine bestimmte Zeitepoche, und sind alle Ein-Frau-Theaterstücke.
Vielseitiges Gschichtewyb
Eva Frei ist nicht bloss auf ihre Spiezer Rundgänge fixiert, sondern eine vielseitig interessierte Frau. Und was wünscht sie sich für die Zukunft? «Ich hoffe, noch lange Energie und Freude zu haben, um weitere spannende Themen bearbeiten zu können. Vor allem aber wünsche ich mir, mehr Leuten meine Rundgänge bekannt zu machen. Es ist sehr schwierig, das Publikum mit den wenigen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, zu erreichen.» Das liegt aber auch daran, dass Eva Frei keine Selbstdarstellerin ist, sie vermarkte sich und ihre Rundgänge nicht optimal, wie sie selbstkritisch feststellt. Auf den sozialen Plattformen findet man sie noch nicht. «Das muss ich vielleicht ändern, wenn ich den Anschluss nicht verlieren will.»
Und wie wäre es denn, wenn ein typisches Wöschwyb aus vergangenen Tagen in die heutige Zeit nach Spiez reisen würde, um unsere Gegenwart zu hinterfragen? «Sie meinen, wenn sie an eine belebte Kreuzung stehen und von früheren Postkutschen erzählen würde?» «Nein, aber das Wöschwyb könnte den Zuhörenden vielleicht von der Kommunikation am Dorfbrunnen oder am Bach erzählen, ohne Bemerkungen zur Neuzeit, das müsste den Zuhörenden überlassen werden, zum Beispiel vor einem riesigen Plakat mit der neuesten Samsung-Galaxy-Werbung.» Ein schallendes Lachen von Eva Frei folgt auf diesen Vorschlag. Man darf gespannt sein…