Walter Schneider: «Plötzlich waren die Häuser weiss angestrichen ...»
Walter Schneider: «Plötzlich waren die Häuser weiss angestrichen ...»
Seit dem 13. Oktober 2010 wohnt Walter Schneider zusammen mit seiner Frau Margrit im Bereich «Betreutes Wohnen» des Wohn- und Pflegeheims Martinzentrum Thun. Man könnte dem ehemaligen Thuner Stadtpolizisten stundenlang zuhören, wenn er aus seinem Leben erzählt ...
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: zvg
Geboren ist Walter Schneider am 10. Oktober 1929 in Habstetten oberhalb von Bolligen. Nach der Schulzeit und einem Welschlandjahr bei einem Bauer im Waadtland absolvierte er eine Lehre als Mechaniker in Deisswil, wo bereits sein Vater Fabrikarbeiter war. Es folgten zwei Gesellenzeiten in Ostermundigen und in Ittigen. 1952/53 ging er in die Polizeirekrutenschule der Kantonspolizei Bern, worauf er, inzwischen mit Margrit verheiratet, für sechs Jahre den Polizistenberuf in Interlaken ausübte. Danach war Walter Schneider von 1959 bis 1962 in Interlaken auf eigene Rechnung Fahrlehrer für Privatpersonen und Lastwagenfahrer. 1962 erfolgte seine Wahl ins Polizeikorps der Stadt Thun, bei welchem er sechs Jahre vorwiegend im Verkehrs- und Unfalldienst beschäftigt war.
Königliche Begegnung
Gleichzeitig mit seinem Einsatz in Thun konnten Margrit und Walter Schneider – sie haben vier Kinder, Marietta, Sylvia, Ueli und Bernhard, heute zählen sie zudem neun Enkel und sechs Urenkel – ein Reiheneinfamilienhaus am Selibühlweg 45 beziehen, in welchem sie bis zu ihrem Umzug 2010 ins Martinzentrum wohnten. Ein Erlebnis ist Walter Schneider aus jener Zeit nach der Polizeischule besonders gut in Erinnerung geblieben, nämlich eine Fahrt vom Flughafen Belp nach Grindelwald: «Königin Juliana kam für Ferien im Hotel Adler Grindelwald mit dem Flugzeug in die Schweiz; mit der Familie, mit Prinz Bernhard, mit der späteren Königin Beatrix. Ich konnte in der offiziellen Begleiteskorte mitfahren.» Will heissen: Vor und hinter dem Auto der königlichen Familie begleiteten Polizeifahrzeuge den kleinen Konvoi ins Berner Oberland. Schon damals wurde die Familie von Fotografen und Journalisten erwartet, wie ein Foto von Walter Schneider beweist. Besonders spannend waren verschiedene Aufgabenbereiche, die Walter Schneider von 1967 bis zu seiner Pension 1991 als Chef der Zentralstelle für zivile und militärische Führerausweise wahrnehmen konnte, zuletzt zusätzlich als Chef des Unfalldienstes beim Bundesamt für Transporttruppen des VBS in Bern. Drei dieser vielen Schatullen des Walter Schneider möchten wir heute für Sie, liebe Lesende, öffnen. Schmunzeln und Staunen ist dabei ausdrücklich erlaubt.
Lohnklasse 15
Eher ungewöhnlich war es, als Schneider im Jahr 1967 von der Polizei ins Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) wechselte und es um den Lohn ging. Walter Schneider: «Man wollte mich zu einem wesentlich tieferen Gehalt als bei der Polizei anstellen, was ich aber nicht akzeptieren konnte, schliesslich hatte ich allein mit dem Arbeitsweg nach Bern zusätzliche Kosten.» Zuerst hiess es seitens des Personalverantwortlichen des VBS, dieser Posten sei der Lohnklasse 15 fest zugeteilt, worauf Walter Schneider darauf bestand, zumindest das Maximum dieser Salärbandbreite zu erhalten. Das sei nicht so einfach, er wolle schauen, was sich machen liesse, habe der Personalverantwortliche eher verunsichert auf Schneiders Forderung geantwortet. Bereits einen Tag später (!) kam allerdings der Bescheid aus dem VBS, die oberste Bandbreite der Lohnklasse 15 sei für Walter Schneider aufgrund seiner Qualifikation bewilligt. Was er zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wusste: Auch eine höhere Lohnklasse wäre möglich gewesen, hätte er nur genügend lang insistiert ...
Je mehr Leute, desto besser?
Die Beziehung mit seinem neuen Chef im VBS hatte es nun wirklich «in sich» und darf als schon sehr speziell angesehen werden. (Hört man Walter Schneider aufmerksam zu, kommt einem dabei unweigerlich das Peter-Prinzip in den Sinn: «Der Mensch neigt in einer Hierarchie dazu, so weit aufzusteigen, bis er versagt.» Anmerkung des Schreibenden.) Zum besseren Verständnis: Es war den Leuten in gewissen Abteilungen des VBS, des ehemaligen EMD, möglich, sich für temporäre Auslandeinsätze im neu geschaffenen Katastrophenhilfekorps zu melden. Und so ergab es sich, dass der besagte Chef, der an der Arbeit von Walter Schneider ständig etwas auszusetzen hatte (und seien es nur Eigenschaftswörter in Briefen, worauf der Untergebene mit seiner Hermes 3000 von Neuem beginnen konnte), nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 einige Monate im Nahen Osten verbrachte (Gefangenenaustausch). Deshalb verpasste der Vorgesetzte wegen seiner Abwesenheit eine wichtige Weichenstellung in seiner eigenen Sektion, denn eine von Walter Schneiders wichtigsten Aufgaben war damals, die totale Neuorganisation der militärischen Führerausweise in Angriff zu nehmen. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: herkömmlich, sozusagen von Hand, oder, als neue Variante, per Lochkarten. Blieb man bei der herkömmlichen Methode, hatte man Arbeit für einige Sekretärinnen, die sich ihre Handgelenke weiterhin wundschrieben. Walter Schneider entschied sich – zack! – für den damals revolutionären Schritt mit den Lochstreifen, nicht unbedingt zur späteren Freude seines Chefs, der es nämlich gerne gesehen hätte, möglichst viele Mitarbeitende in seiner Sektion zu haben, denn viele Angestellte bedeuteten auch höheres Ansehen, verbunden mit besseren Aufstiegschancen. «Ich konnte aber im Interesse der Sache einfach nicht anders entscheiden, denn verglichen mit 200 000 Ausweisen in unzähligen Schubladen und Schränken war die Lösung mit einer einzigen EDV-Maschine und einer einzigen Angestellten viel effizienter», erinnert sich Walter Schneider. Sein Vorgesetzter erfuhr von der Neuerung unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Israel an einer Pressekonferenz. Freude herrschte ... Was der Chef ebenfalls nicht wissen konnte: Während dessen Abwesenheit hatte sich Walter Schneider selber für einen Einsatz im Tschad beworben. Gross war dann das Erstaunen des zurückgekehrten Chefs, als er erfuhr, dass «Schneider» 1974 drei Monate Afrika bevorstanden, denn der besagte Vorgesetzte war seinerseits wiederum für die Fahrzeug-Beschaffung und dann selber in der Tschad-Mission für die dortigen Transporte zuständig.
Vor und hinter dem Auto mit der königlichen Familie begleiteten Polizeifahrzeuge den kleinen Konvoi ins Berner Oberland.
Von Magazinen und Landebahnen
Diese Fahrzeuge – acht 2DM, zehn Unimog S – wurden nach Rotterdam gefahren und von dort aus nach Nigeria verschifft, wo das Tschad-Team mit Walter Schneider die Camions in Empfang nahm, um sie in den Tschad zu fahren, genauer gesagt nach N‘Djamena, durch Gebiete hindurch, die heute von der Terrormiliz Boko Haram kontrolliert werden. Dummerweise hatte der besagte Chef nicht daran gedacht, dass die «normale» Schweizer Asphaltbereifung in den Sandwüsten nicht unbedingt das Gelbe vom Ei für die Lastwagen war, weshalb die 2DM nur auf festen Pisten fahren konnten, was zum Teil mit erheblichen Umwegen verbunden war. Von N’Djamena aus fuhr Walter Schneider dann weiter nach Mao, wo er dem Ärzteteam des Katastrophenhilfekorps als Fahrzeugverantwortlicher zugeteilt war. Die Fotos aus Mao zeigen, mit welchen einfachen Mitteln man ans Werk ging, denn praktisch alles wurde von Hand erschaffen. Besonders eindrucksvoll: der Bau einer Landepiste für Kleinflugzeuge. Von Hand wurden aus lehmhaltiger Erde Backsteine geformt und zum Trocknen an die Sonne gelegt. Mit Eseln wurden dann Tausende dieser Backsteine zur späteren Piste getragen und anschliessend einzeln, Stein für Stein, aneinandergereiht, bis die Piste lange genug war. Die Unebenheiten und Lücken zwischen den Steinen wurden mit flüssiger Lehmerde aufgefüllt. Dann hiess es warten, bis alles getrocknet war. Die wegen der grossen Dürre geplagte Bevölkerung wurde von den Mitgliedern des Schweizerischen Katastrophenhilfekorps mit Lebensmitteln versorgt und auch medizinisch betreut. Walter Schneider erinnert sich: «Bei der Arztvisite klagten gewisse Schlaumeier über allerhand Schmerzen, nur um an möglichst viele Medikamente heranzukommen.» Der Arzt aber hatte das Spiel schnell durchschaut und sandte die «Leidenden» mit einer einzigen Schmerztablette – «gut für alles» – zufrieden nach Hause.
Betreuung von Flüchtlingen
1979 leitete Walter Schneider während drei Monaten eine UNO-Mission in Zaire, damals Bas-Zaire. Es ging damals darum, Menschen aus dem Nachbarland Angola zu betreuen, einem Land, in welchem Krieg herrschte. «Mobutu war damals Präsident von Zaire, ein Diktator», erinnert sich Walter Schneider, «und er setzte seine ihm treuen Leute nach Bedarf rücksichtslos ein.» Auch in der Landwirtschaft. Beispiel: Ein Belgier, der einen Landwirtschaftsbetrieb mit grossem Erfolg führte, wurde enteignet, sprichwörtlich vom eigenen Hof gejagt und von einem Mobutu-Getreuen ersetzt, einem einheimischen Taxifahrer. Innert kürzester Zeit war der Betrieb heruntergewirtschaftet. Wenig später wurde der nach Belgien zurückgekehrte Unternehmer und Landwirt von der Regierung angefragt, ob er nicht wieder auf seinen, nun staatlichen Betrieb zurückkehren möchte. Er könne dort schalten und walten wie früher. Der Belgier, der sich in Europa mehr schlecht als recht integrieren konnte, nahm das Angebot an.
Wozu denn Milchpulver?
«Sofort hatte man uns Hilfsgüter, vorwiegend aus den USA, für die angolanischen Flüchtlinge zur Verfügung gestellt: Speiseöl, Milchpulver, Reis.» Das Dumme daran: Die flüchtenden Menschen kannten die vorhandenen Lebensmittel meist gar nicht, ihnen war nur etwas wichtig, nämlich Maniok, eine Knollenpflanze, ähnlich der Kartoffel, aus der Familie der Wolfsmilchgewächse. Nur hatten die Helfer keinen Maniok in ihrem Sortiment, was nichts anderes hiess als … sofort anpflanzen, und das im grossen Stil! Allerdings dauerte es zwei Jahre, bis grössere Ernten eingefahren werden konnten. Selbstverständlich freundeten sich die Menschen für ihr Überleben mit den ihnen fremd vorkommenden Lebensmitteln an, aber der Maniok war schliesslich ihr «ein und alles». Walter Schneider: «Einmal ging ich in ein kleines Dorf, in dem die Hütten plötzlich alle weiss angestrichen da standen. ‹Woher habt ihr die Farbe bekommen?›, wollte ich wissen.» Des Rätsels Lösung: Es war gar keine Farbe. Die Menschen hatten das ihnen fremde Milchpulver schlicht und einfach zweckentfremdet. Und noch eine Besonderheit: Weil der Reis nicht zuoberst auf ihrer Hitliste stand, sondern eben Maniok, verkauften einige Flüchtlinge nach der Maniok-Ernte ihre Ration Reis auf dem Markt, was plötzlich dazu führte, dass die Einheimischen glaubten, die Flüchtlinge würden in Saus und Braus leben.
Da die Eigenversorgung der Bevölkerung, der ursprüngliche UNO-Auftrag, inzwischen gewährleistet werden konnte, war es von Anfang an die Aufgabe von Walter Schneider, diese Hilfsmission entsprechend erfolgreich abzuschliessen. Was er denn auch tat. Dies hier gehört unbedingt noch erwähnt: Einmal, da schleppte sich ein Flüchtling kriechend auf seinen offenen Knien über die Grenze. Er konnte nicht laufen; der ungefähr 30-Jährige, in Angola Schneider von Beruf, hatte Kinderlähmung und keine wirkliche Aussicht auf eine Zukunft in Bas-Zaire. Unserem Schweizer konnte dieses Schicksal nicht egal sein. Und als er eines Tages auf einem Handwerkermarkt eine PFAFF-Handnähmaschine sah, begann er um den Preis zu feilschen, um nachher jemandem die Freude seines Lebens zu bereiten …
Vielseitige Freizeitgestaltung
Bereits als Bub erlernte Walter Schneider das Trompetenspiel bei der MG Habstetten, später tätig als Bläser und Fähnrich bei der MG Allmendingen / Thun, wo er Ehrenmitglied ist. Als bald 50-Jähriger erfüllte er sich einen Bubentraum und liess sich 1977 auf dem Flugplatz Thun zum Segel- und 1983 zum Motorflug-Piloten ausbilden. Mit Sohn Bernhard verbrachte er auch viele Stunden auf seiner kleinen Segelyacht.
Es war gar keine Farbe: Die Menschen hatten das ihnen fremde Milchpulver schlicht und einfach zweckentfremdet.