Mit Ernst Zbären auf Foto-Pirsch

Mit Ernst Zbären auf Foto-Pirsch

Mit Ernst Zbären auf Foto-Pirsch

Bekannt ist er als Naturfotograf, Buchautor und früherer Kämpfer gegen eine Autobahn durchs Simmental: Ernst Zbären. Auf einer grossen Rundwanderung im Rawylgebiet sind seine Begeisterung für die Natur, seine Abenteuerlust und sein Sarkasmus zu spüren. 

Text & Fotos: Jürg Alder 

Ernst Zbären steht auf dem Perron am Bahnhof Lenk – in modischem Sporthemd, knitterfreier Wanderhose, mit akurat sitzendem Sportrucksack. Eine freundliche Erscheinung, Typ Bergbauer, markantes Gesicht, funkelnde Augen unter buschigen Brauen. Auf den ersten Blick gibt es keine Anzeichen des Rebellen, der er doch spätestens seit der Planung der Simmental-Autobahn in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren eigentlich ist. Ich solle den 6-Uhr-Zug ab Spiez nehmen, damit wir vor dem ersten Bus auf der Iffigenalp seien, hatte mir der 75-jährige Fotograf und Buchautor am Vorabend am Telefon gesagt. Erhole mich am Bahnhof Lenk ab. Einen schwächlichen Versuch meinerseits, ein Stündchen später fahren zu dürfen, quittierte er mit einem langen Schweigen, bis ich kleinlaut murmelte, ich werde da sein. 

Nun ist es so weit, und Ernst ist spürbar unternehmungslustig. In seinem kleinen grünen Hyundai brummen wir das bewaldete, enge Pöschenried-Tälchen empor. Rasch erreichen wir die Hochebene Iffigläger. Mein Blick wandert die Felswand südlich von uns hoch, die vor dem frühmorgendlich blauen Himmel noch in düsterem Schatten liegt. Just seit heute sei der Bergweg auf den Rawilpass offen, weiss Ernst. «Haben sie die heikle Stelle in Ordnung gebracht?», fragt er einen Bekannten auf dem Parkplatz. «Keine Ahnung, von hier sieht’s jedenfalls nicht besonders gut aus», meint der andere. Er zeigt in die Höhe, zu einem kleinen Schneefeld, unter dem der Weg nur als feiner Strich zu erkennen ist. Zwar bin ich schwindelfrei und trittsicher, aber wenn sich mir an einer heiklen Stelle die Vorstellung aufdrängt, mit einem kleinen Fehltritt zu Tode stürzen zu können, erstarre ich in lähmender Angst. Wir stapfen los, langsam, schweigend – steil gehts empor durch ein lichtes Fichtenwäldchen. Hin und wieder kickt Ernst mit Fusstritten Steine und Grasmutten aus dem offensichtlich erst gerade bereitgestellten Weg. Halb ernst, halb theatralisch flucht er über die «Knilche», die «nid wüssen Ornig z’ha». Ernst war jahrzehntelang Wanderwegbetreuer in seiner Wohngemeinde St. Stephan. Er weiss, worauf es ankommt bei der Wegwartung. 

Der Weg, auf dem wir an der Nordflanke des hoch aufragenden Mittaghore vorerst gut 800 Höhenmeter bewältigt haben, ist breit und komfortabel. Dennoch ist es schwer vorstellbar, dass die Simmentaler schon ab dem 14. Jahrhundert ihre Rinder über den Rawilpass nach Italien trieben, um sie dort zu verkaufen. Erst recht schwer vorstellbar sind solche Viehwanderungen, als wir plötzlich vor einem steil abfallenden, schwarzen Schuttkegel stehen, über den der Weg nur noch in etwa doppelter Fussbreite führt. Und der Anfang der Traverse ist über eine Distanz von etwa fünf Metern mit ziemlich hartem Schnee gefüllt. Links gehts jäh hinunter – Straucheln nicht erlaubt. «Es ischt ungloublech», meint Ernst kopfschüttelnd in seinem breiten Obersimmentaler Dialekt, «vor Jahrzähnte ischt hie no alles grüen gsy, jitz rütscht das Ganze.» Und der Weg sei nicht genügend präpariert, kritisiert er, «das ischt eifach e Pfusch!». Dennoch wandelt Ernst traumwandlerisch sicher über die heikle Stelle. Er werde diese gefährliche Stelle melden, meint er grimmig. Für heute hätten wir die kritischste Passage hinter uns. Ich atme auf, nicht ahnend, dass noch ganz anderes folgen wird…

Immer wieder höre ich Ernst Zbärens begeisterte Rufe, er kniet nieder, fotografiert Blüten am Wegrand.

Schon nach einer Stunde lässt der Blick in die Tiefe die Gebäude der Iffigenalp seltsam entrückt erscheinen. Nun, da der Weg völlig ungefährlich wirkt, sind bergseitig Haltekabel angebracht. Ein Kollege, der an der Sanierung der nahen Wildstrubelhütte beteiligt war, wird mir später erklären, dass der Weg hier gänzlich mit Schnee gefüllt und vereist sein kann, deshalb diese Sicherung. Immer wieder höre ich Ernst Zbärens begeisterte Rufe, er kniet nieder und fotografiert Blüten am Wegrand: Alpen-Hahnenfuss, Kalk-Polsternelke, Frühlingsenzian und andere, deren Namen er mir nennt. 

Was hat es eigentlich mit dem Rawilpass auf sich? Der langgezogene, Richtung Südwesten verlaufende Übergang, dessen geologische Grundlage im Tertiär vor unglaublichen 35 Millionen Jahren entstand, wurde bereits in der Jungsteinzeit vor «nur» 6500 Jahren bis in die Römerzeit als Übergang vom Berner Oberland ins Wallis benutzt. Als direkte Säumerverbindung war der Rawilpass dann ab dem Mittelalter zwar regional wichtig, stand jedoch als Fernroute von Bern und Freiburg in starker Konkurrenz zum Gemmi- und zum Lötschenpass. Die Anreise zu diesen beiden Pässen war wesentlich direkter als die über das weit westlich ausholende Simmental bis an die Lenk. Auch die Fortsetzung Richtung Simplon und Italien war einfacher als auf der Rawil-Südseite.

Wären Ernst Zbären und ich Säumer, Kaufleute oder Pilger des 14. Jahrhunderts, hätten wir einen andern Weg über den Rawil wählen müssen: Der Pfad führte bis Mitte des 18. Jahrhunderts östlich der Iffigenalp über die Langermatte-Alp, den steilen Firstli-Grat und die Laufböde – ich sollte diese abenteuerliche Verbindung heute beim Abstieg noch kennenlernen. Einst versorgten die Walliser die Bewohner der Lenk mit Wein, Getreide und Früchten, während aus dem Obersimmental vor allem Vieh und Käse ins Wallis gelangten. Ganze Herden von Simmentaler Rindern und Kühen wurden, teils unter Mithilfe von Italienern, über den Pass Richtung Oberitalien getrieben. Mit dem aufkommenden Tourismus investierte der Kanton Bern im 19. Jahrhundert aber wieder mehr in den Unterhalt des Rawils. Um 1870 und Ende der 1920er-Jahre standen sogar Projekte für eine Fahrstrasse zur Diskussion. Und kurz nach der Jahrhundertwende prüfte der Bund ein Eisenbahnprojekt. Höhepunkt der wachstumsorientierten Verkehrsplanung war schliesslich das Autobahnprojekt der 1960er-Jahre, das erst 1986 aufgegeben wurde. Der Planungsstopp erfolgte zwar aus technischen Gründen, das Projekt war jedoch schon vorher heftigst umstritten. Führender Kopf des damaligen Widerstandes der Talbevölkerung war Ernst Zbären (siehe Kasten Seite 99). 

Ein sirrendes Geräusch über unseren Köpfen lenkt meine Aufmerksamkeit auf ein bizarres Schauspiel: Auf einer Seilbahn-Laufkatze in luftiger Höhe sitzen zwei Mechaniker und reisen scheinbar gemütlich dem Tragseil entlang in die Höhe. Die Luftseilbahn des Militärs auf das Weisshorn, das sich, noch unsichtbar, am Rande des riesigen Plaine-Morte-Gletschers erhebt, wird gerade revidiert. Vor Jahrzehnten hing ich selbenorts als junger Miliz-Soldat in der damaligen aluminium-grauen Sechserkabine ebenfalls über den Abgründen. Schon nur die Reise aufs fast 3000 Meter hohe Weisshorn war streng geheim, im Innern des Berges wurde – und wird noch – eine früher noch geheimere Flieger-Radarstation betrieben. «Bist du auch schon mit dieser Bahn gefahren?», frage ich Ernst, in der naiven Annahme, ihm hier eine Erfahrung voraus zu haben. «Ja, ja, hunderti Mal!», gibt er zurück. Er war nämlich während einiger Jahre Betriebsmechaniker auf dem Weisshorn, als Bundesangestellter des Militärs. Eine touristische Nutzung der Luftseilbahn stand zwar nie zur Diskussion. Immerhin ermöglicht ein Mast der Militärseilbahn in unmittelbarer Nähe der Wildstrubelhütte Material- und Personaltransporte für die Alpenklub-Unterkunft.

In getaktetem, regelmässigem Berglerschritt stapft Ernst voraus, hält nur hin und wieder an, um Einzelblüten oder kleine Blumenbüschel zu fotografieren. Beweglich und flink kniet er nieder und fokussiert mit der Kamera auf das Objekt. Als ich plötzlich am unteren Rand einer Geröllhalde ein Murmeltier entdecke, das Ernst noch nicht gesehen hat, erfüllt mich kindlicher Stolz, ist doch mein Tourenführer eigentlich der hundertmal bessere Beobachter und Kenner dieser Landschaft. Kurz nach der Blattihütte, einem sich in den Boden duckenden, flachen Schlechtwetter-Unterschlupf, machen wir einen Verpflegungshalt. Danach flacht der Weg allmählich aus und führt uns, gemütliche zwei Stunden seit Iffigenalp, auf die bucklige Alp Stiereläger. Ernsts erstaunte Ausrufe werden nun plötzlich häufiger, aber nicht mehr wegen der Blütenpracht: Noch nie habe er zu dieser Jahreszeit hier oben so viel Schnee gesehen. Die Klimaerwärmung scheint ihre Kapriolen zu präsentieren – schwer vorstellbar, dass das ganze Weiss wohl spätestens in einem Monat weggeschmolzen und auf dem Weg Richtung Rhone und Mittelmeer oder Simme und Nordsee unterwegs sein soll. Unser Blick fällt Richtung Südwesten, wo das sanfte und breite Tal des Rawil leicht abfällt. Fast bis an den Horizont liegt alles unter einer gewellten Schneedecke, da und dort durchzogen von bläulichen Wasseradern, durch die Schmelzwasser abfliesst. Unter uns ein kleiner See, zur Hälfte noch mit Eis bedeckt. Ernst schätzt den Weg zum Lac de Tseuzier am Walliser Passzugang als zu beschwerlich ein ohne Schneeschuhe oder Skis – das letzte Postauto am Stausee würden wir kaum erreichen. Er schlägt eine andere Route vor: Er wolle eine prähistorische Höhle am Tierberggrat besichtigen, diese habe er noch nie digital fotografiert. 

Nicht ganz einfach ist es, immer wieder dicke Schneepolster zu überqueren – natürlich ist Ernst auch hier geschickter als ich. Plötzlich verändert sich die Geologie, der Untergrund wird griffig: Wir gelangen auf raue, mattgraue, gut haftende Karrenfelsen, zerfurcht wie ein Miniaturgletscher. Unter uns sind die Umrisse der drei Rawilseelein unter der Schneedecke erkennbar, nur entlang dem hangseitigen Ufer leuchtet türkisblau etwas Wasser. Plötzlich holt uns ein etwa 14-jähriges Mädchen in Turnschuhen ein und fragt fröhlich nach dem Weg zu den Simmenfällen. Ich glaube, nicht ganz richtig zu hören, sind doch die Simmenfälle nicht allzu weit vom Dorf Lenk. Ich verweise sie an Ernst. Im Hinterkopf versuche ich, mir den Weg von hier zu den Simmenfällen vorzustellen: Das müsste wohl Richtung Osten über den Tierbergsattel zum Flueseeli führen, dann steil hinunter auf den Rezliberg und an den Sieben Brünnen vorbei ins Tal. Das Mädchen erzählt, ihr Vater, der gleich nachkomme, habe Kindheitserinnerungen an die Simmenfälle und wolle deshalb dorthin. Ernsts Antwort überrascht mich etwas: «Dert ubere Tierbärgsattel und denn alles achi, aber das geit äuä nid, das het doch no vil zvil Schnee!» Das Mädchen bleibt ratlos stehen, weit weg tauchen die Eltern am Horizont auf. Später werden wir die drei weit unter uns beobachten, auf dem Sattel, dann östlich unter dem kleinen Tierberggletscher. Es wird schon gut gekommen sein – jedenfalls höre ich in den Tagen darauf nichts von einer Suchaktion in dieser Gegend.

Über den diagonal geschichteten, hellbraunschieferigen Rücken am Tierbergsattel steigen wir zum Grat hoch. Hier ist kein Weg mehr signalisiert. Die Höhle muss am Südabhang des Tierbergs zu finden sein, knapp unterhalb der markanten Felsköpfe und oberhalb der mächtigen Schuttkegel, die steil zum Tierbergtälchen abfallen. Allmählich wird es schwierig, Halt und Tritt zu finden, jede kleinste Einkerbung im Schutt muss genutzt werden – mein Stresspegel steigt wieder. Unter Zuhilfenahme der Hände hangeln wir uns voran, rechts fällt der Hang ungemütlich steil ab. «Sonst hat es doch hier eine schmale Wegspur», meint Ernst, in fast entschuldigendem Ton. Aber so früh im Frühling sei da wohl noch kein Wanderer vorbeigekommen und der Schnee habe die letztjährige Spur zerstört.

Immerhin führt der Weg allmählich auf ein breites Grasband, mein Puls beruhigt sich. Nach einer letzten Felsnase erreiche ich die Tierberghöhle als erster, Ernst ist noch am Fotografieren. Eigentlich ist es nur eine Art schützendes Felsdach, ein horizontaler Schlitz, nur etwa fünf Meter breit. Eine horizontale, verkrümmte Eisenstange auf Kopfhöhe fällt mir auf, dahinter gefaltete Plastikplanen, hingeworfene Bretter, eine Pet-Flasche. Nicht zur Freude von Ernst, der in lästerliches Fluchen ausbricht, als er «dä ganz Plunder, dä Ghüder u Grümpel vo däne Grüsle» erkennt. Er wird richtig böse und kündigt an, die «Sauerei» dem archäologischen Dienst des Kantons zu melden – was er später auch tun wird. Der Kanton wird ihm antworten, die Höhle sei noch 2006 in Ordnung gewesen, aber man werde sich demnächst darum kümmern und vor Ort nachschauen.

Nun, wir sind nicht die ersten, die hier, auf fast 2700 Metern Höhe, «Gerümpel» finden. Der Archäologe David Andrist berichtete im Jahrbuch 1937 der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte von seinen ersten Grabungen in der Tierberghöhle: «Und siehe, oberflächlich schon setzen die Funde ein», schreibt er über den Beginn der zweieinhalbwöchigen Forschungsarbeiten. «Eine Scherbe von einer Heimberger Tasse, ein Hemdenknopf, ein Frauenkamm, ein Aprikosenstein, ein Federhalter, ein starkes Messer mit vielen Klingen, eine Revolver-Patronenhülse, zwei Hülsen aus einem Vetterlistutzer.» Keiner dieser ersten Fundgegenstände wies damals auf eine prähistorische Nutzung hin. Kurz darauf finden die Forscher aber Feuerstellen, zwei Murmeltierkiefer, drei Steinbockzähne, drei Haselnüsse und eine Pfeilspitze aus «schwach rötlichem Feuerstein». Anhand der Form der Jagdwaffe schlossen sie, dass die Höhle in der frühen Jungsteinzeit, also vor etwa 12000 Jahren, jeweils im Sommer von Jägern genutzt wurde – in einer ähnlichen Epoche wie die Höhlen an der Bürg in Spiez, das Schnurrenloch ob Oberwil oder das Ranggiloch nordwestlich von Boltigen. Die damaligen Jäger erreichten die Tierberghöhle noch auf dem alten, schmalen Rawilweg, der zu jenem Joch im Tierberggrat führte, das Ernst und ich bald überqueren sollten. Die Waldgrenze war gemäss Website der Gemeinde Lenk damals viel weiter oben als heute – auf 2200 Metern über Meer. «Die damaligen Menschen mussten also das Brennholz 400 Meter hinauf tragen», ist auf der Website zu lesen. 

Kurz nach der Höhle fordert mich die Trittsuche auf dem steilen Schiefersand nochmals. Knie und Hände verkrampfen sich unwillkürlich. Dann erreichen wir, ent- lang einem Felsband kraxelnd, den Sattel hoch über den sanft abfallenden Laufbödne. Wir werfen die Rucksäcke ab, essen etwas, ohne viel zu reden. Tief unter uns erkennen wir die Häuser der Lenk, weit dahinter die Stockhornkette, in bläulicher Ferne das schmale Band des Juras. Ernst zeigt mir, wo es nun weitergehen wird: auf dem nur noch teilweise erhaltenen, alten Rawilweg, der nicht signalisiert und unterhalten ist. Bis zu einem Sattel am unteren Nordrand der Laufbödne ist alles klar, danach soll es fast der Firstli-Rippe entlang hinunter gehen.

Locker marschieren wir über sulzige Schneefelder zum Sattel hinunter. Ernst freut sich über zahlreiche Blüten, fotografiert und staunt, als ob er das erste Mal hier wäre. Seine Begeisterung wirkt erfrischend. Im Einstieg zum Firstligrat liegt Schnee – ich hoffe, dass wir nicht etwa weiter unten wegen Schnee zum Umkehren gezwungen werden. Schliesslich werden solche Wege nicht kontrolliert. Wir steigen vorsichtig ab. Oberhalb einer kleinen Felswand scheint der Weg zu Ende zu sein. Auf meinen fragenden Blick hin zeigt Ernst an ein fast senkrechtes Wiesenbord hinüber, durch das eine schuhbreite Linie führt: «Da geht es weiter.» Ein letztes Mal leer schluckend, schreite ich konzentriert voran, akzeptiere mit feuchten Händen, nochmals einen ausgesetzten Weg gehen zu müssen. Etwas später sind wir definitiv in gefahrlosen Gefilden angekommen, der Weg schlängelt sich durch saftige Weiden. Rechts unter uns taucht die Alphütte der Langermatte auf. Wir durchqueren ein etwa hundert Meter langes Gebiet, wo abertausende gelbe Bällchen der Trollblume leuchten. Links öffnet sich der Blick ins Iffigtal, unsere Anfangsroute am Fuss des nun gänzlich überblickbaren, spitzen Mittaghorns wird wieder sichtbar.

Ich versuche, mir die brutale Wirkung der bis 1986 geplanten Rawil-Autostrasse vorzustellen. Auch das unvermeidliche Rauschen der Autos lasse ich an mein inneres Ohr dringen. «Ernst, wo genau hätte die Autostrasse in dieser Gegend hier verlaufen sollen?», frage ich. Ernst schaut hinüber ins Iffigtal. «Ein Projekt um 1930 sah sogar eine Strasse bis auf die Höhe des Iffigsees vor», schildert er. 20 Jahre danach, erfahre ich weiter, sollte eine Strasse bis hinten ins Iffigtal führen und auf der Alp Groppi in einem Tunnel verschwinden. Gemäss Nationalstrassenplanung der 1960er-Jahre sollte sich ab dem Ende der vierspurigen Autobahn bei Zweisimmen eine zweispurige Schnellstrasse taleinwärts ziehen. Unmittelbar vor dem Iffigfall hätte sie das nördliche Tunnelportal des Rawiltunnels erreicht. Das bläulich-klare Wasser des Bergbaches, der kurz vor der Iffigenalp im Talboden die Schwemmebene quert, lässt mich meinen Riesendurst nach unserem achtstündigen Ausflug spüren. Nach den ausgesetzten Passagen von heute schätze ich in der letzten Viertelstunde sogar die langweilige, aber sichere Asphaltstrasse. Ernst hat meine Ängste und Bedenken nie spöttisch kommentiert, obwohl ich seine Geduld wohl etwas strapaziert habe. Allerdings ist der Naturfotograf ganz andere Widerstände gewohnt: Als wir auf die Politik zu sprechen kommen, verrät er mir, dass er als «Grüner» an seinem Wohnort St. Stephan nicht übermässig viele Freunde habe. Er wiederum hat das Heu in manchen Belangen nicht auf derselben Bühne wie die schweizerische Partei der Grünen – da ist er in gesellschaftspolitischen Fragen doch zu sehr konservativer Bergler. Er hat deshalb seinen Austritt gegeben.

Auf der gut besetzten Terrasse des Berghauses Iffigenalp geniessen wir ein grosses Panaché. Letzte Sonnenstrahlen wärmen uns. Selbst nach der langen Wanderung steckt noch viel Energie in Ernst – als wir später in seinem Auto hinter einem Misttransporter herfahren müssen, ärgert er sich. «Dä macht das natürlech äxtra», knurrt er. Aber ich glaube herauszuhören: So ganz ernst meint Ernst es nicht. Aber er ist ein Kämpfer geblieben.

Tief unter uns erkennen wir die Häuser der Lenk, weit dahinter die Stockhornkette, in bläulicher Ferne das schmale Band des Juras. 

Das Ende der Autobahn-Pläne

Ungewohnt und befremdlich erscheint heute die Vorstellung einer vierspurigen Autobahn durchs Simmental bis Zweisimmen, mit zweispuriger Fortsetzung bis hinauf ins Pöschenriedtal oberhalb der Lenk und durch einen Tunnel in den Kanton Wallis. Doch dieses Projekt wurde bis 1986 ernsthaft verfolgt. Ab den 1950er-Jahren plante der Bund eine Verlängerung der Autobahn N6 (heute A6) ab Spiez durch das Simmental mit einem wintersicheren Rawil-Scheiteltunnel ins Wallis. Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» beschrieb das Rawil-Projekt Ende 1978 etwas spöttisch als Symptom eines schweizerischen «Tunnelfiebers» und gar eines «helvetischen Maulwurf-Syndroms». Insgesamt 711 Bahntunnels machten die Schweiz gemäss «Spiegel» zum tunnelreichsten Land der Erde. «Wie Bergsteigen oder Alphornblasen» habe sich der Tunnelbau in der Schweiz zu einer «Herausforderung an die Naturgewalten» verklärt, schrieb das Magazin.

Die Bevölkerung im Simmental war in der Frage der Rawil-Autobahn allerdings gespalten. Eine klare Mehrheit war gegen die Autobahn, wie konsultative Abstimmungen an Gemeindeversammlungen zeigten. Gegnerinnen und Gegner, die sowohl aus dem Tal wie aus der ganzen Schweiz stammten, gründeten 1975 den bis heute bestehenden Verein Pro Simmental. Zu den Gründern und Initianten gehörte der Fotograf Ernst Zbären aus St. Stephan. Jahre zuvor hatten sich bereits Strassenbefürworter im Komitee Pro Rawil Bern und Wallis formiert. Ihm gehörten unter anderen Bauunternehmer aus beiden Kantonen an. Pro Rawil demonstrierte am 18. Juni 1966 in Zweisimmen für die Strassenverbindung. Von einer Autobahn war damals noch nicht die Rede. «Aufmarsch und Gröhlerei waren gross, der Walliser Saft floss reichlich», erinnert sich Ernst Zbären. Ernst Hodel, bis Ende 2017 Gemeinderatspräsident von Zweisimmen, ist überzeugt, dass damals eine Mehrheit der Bevölkerung seiner Gemeinde das Projekt unterstützte. Pro-Autobahn-Demos gab es auch im Kanton Wallis, dessen Bevölkerung sich einen touristischen Aufschwung erhoffte.

In der ganzen Schweiz sammelte Pro Simmental, unterstützt von Bauern aus dem Tal, der Stiftung Helvetia Nostra von Franz Weber sowie links-grünen Parteien und Organisationen insgesamt 135000 Unterschriften gegen die Simmental-Autobahn. Am 17. Dezember 1984 wurde die Volksinitiative «Rettung des Simmentals vor Nationalstrassen» eingereicht. Zu einer Volksabstimmung kam es aber nicht. Der Projektstopp erfolgte vor einem Plebiszit – aus technischen Gründen. Der Bau eines etwa vier Meter hohen Sondierstollens nordwestlich von Crans-Montana, 600 Höhenmeter unterhalb der Staumauer des Lac de Tseuzier, führte im April 1979 zu einem Wassereinbruch, was wiederum eine Abnahme des Wasserdrucks im Berginnern bewirkte. Das Gelände setzte sich, wie periodische Messungen zeigten, grossräumig. Schliesslich verformte sich die Staumauer in Richtung See, obwohl dieser voll war. Es bildeten sich Risse und die Mauerkrone senkte sich um fast 10 cm. Die Betreibergesellschaft Electricité de la Lienne SA entleerte den See umgehend. Bereits 1980, vier Jahre vor Einreichung der Volksinitiative, kam das Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement in einem Expertenbericht zum Schluss, dass der Sondierstollen eindeutig Ursache der Verformungen war. Die Experten schlossen weitere Geländedeformationen nicht aus. 1986 entschieden National- und Ständerat auf Antrag der Landesregierung, das Rawil-Projekt zu stoppen.

Nach dem Aus für den Rawil nahm der Verkehr im Simmental trotzdem weiter zu. 2012 passierten gemäss kantonalen Messungen wöchentlich 45500 Fahrzeuge das Dorf Boltigen unterhalb Zweisimmen. Geplante Umfahrungen zur Entlastung der lärm- und abgasgeplagten Dorfzentren scheiterten sowohl in Boltigen wie auch in Erlenbach an privaten und politischen Widerständen. Die höchsten Verkehrsfrequenzen im Simmental werden an Winterabenden während des Rückreiseverkehrs aus den Skigebieten sowie an schönen Ausflugtagen in den Hauptferienzeiten verzeichnet. 

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