Gerhard Schertenleib: Oberdiessbach als Nabel der Welt

Gerhard Schertenleib: Oberdiessbach als Nabel der Welt

Gerhard Schertenleib: Oberdiessbach als Nabel der Welt

In diesem Bericht werden Sie wieder einmal etwas lesen, was mich als Schreibenden immer wieder bewegt. Was Hanna Schertenleib nämlich in jungen Jahren erlebt hat, ist nicht im tiefen Mittelalter passiert, sondern in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Es ist bloss zu hoffen, dass mit dem Aussterben der älteren Menschen der jungen Generation hierzulande bewusst bleibt, dass unser heutiger Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. Und, dass «es» nicht viel früher einmal anders war.

Text: Thomas Bornhauser / Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

 

In der heutigen Reportage geht es aber nicht um Hanna, sondern um ihren Mann, um Gerhard Schertenleib, der seit knapp zwei Jahren im Alters- und Pflegeheim Sonnmatt lebt. Aber der Reihe nach.

 

Schule kein Glücksfall

Geboren wird Gerhard Schertenleib 1938 in Oberdiessbach. Er wächst auch in diesem Dorf auf, zusammen mit fünf Geschwistern und einer Pflegeschwester. Der Vater ist Krankenpfleger, die Mutter, die als Ledige bei der «Siedi» in Konolfingen gearbeitet hat (dem heutigen Forschungs- und Entwicklungszentrum für milchbasierte Produkte von Nestlé), Hausfrau. Das mit Klein Gerhard und der Schule ist so eine Sache: Als die Prüfungen zum Übertritt von der Primar- in die Sekundarschule anstehen, bricht er sich den Oberschenkel, fällt für viele Wochen aus, verbleibt deshalb in der Prim. Nicht genug damit: Als er endlich wieder zur Schule kann, meldet sich der Blinddarm … Wie auch immer: Nach der Schulzeit beginnt er eine Ausbildung zum Elek­tromonteur, ebenfalls in Oberdiessbach, bei Wilhelm Vogt (heute in dritter Generation unter dem Namen Vogt Elektroinstallationen).

«Dr Graa isch daa …»

1958 folgt die Rekrutenschule bei den Übermittlern in Kloten, den sogenannten Silbergrauen. Die Gesundheitsprobleme verfolgen Rekrut Schertenleib aber auch hier, dieses Mal ist es der Magen. Das führt dazu, dass er später nach dem ersten WK ausgemustert wird. In Kloten aber verbringt er die meiste Zeit in der Küche, hätte auch als Küchenchef, als «Küschee», weitermachen dürfen. Er kehrt anschliessend für eineinhalb Jahre in seinen ehemaligen Lehrbetrieb zurück, danach arbeitet er bei der Firma Elektro Graa in Thun (Slogan: «Dr Graa isch daa …»). Gerhard Schertenleib ist jedoch auf der Suche nach einer anderen Beschäftigung, nach etwas Bodenständigerem. In der Zeitung sieht er ein Inserat der KW, der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätten in Thun. Er bewirbt sich als Stromer – ohne grosse Aussichten auf Erfolg, schliesslich ist das ein Job beim Bund, er jedoch dienstfrei. Aber erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Man stellt ihn ein, seine Fähigkeiten überzeugen. 38 Jahre lang wird er seiner Arbeitgeberin treu bleiben, bis zur Pension. «In dieser Zeit haben wir grosse Aufträge abgewickelt, haben im Bereich der Qualitätssicherung die Innenleben der Panzer 61 und 68 sowie des Leoparden 2 kontrolliert, damit die Panzer auch das tun konnten, wofür sie konstruiert wurden.» Diese Fachkontrollen nennen sich «Apparate und Kabelage». Letzteres kann man durchaus mit Kabelgewirr umschreiben. Wie hat Gerhard die Entwicklungen im Laufe der Zeit in Erinnerung? «Wir waren ständig mit irgendwelchen Prototypen beschäftigt, die dem neuesten Stand der Technik angepasst werden mussten.»

Schertenleib + Zibach = Scherzi-Tester

Was Gerhard Schertenleib uns von sich aus nicht sagt – «understated» nennt sich das dann wohl auf Neudeutsch –, wir aber aus seinem Umfeld wissen: Zusammen mit anderen Kollegen hat er zu jener Zeit ein Testgerät mitentwickelt, das es ermöglicht, die unzähligen Kabel in einem Panzer von Beginn an richtig miteinander zu verbinden und zu platzieren. «Man muss sich vorstellen», blickt er zurück, «nebst den Verkabelungen und ihren verschiedenen Stromstärken waren da auch Tausende von Lötstellen zu be­achten.» Es war eine bahnbrechende Entdeckung. Das Gerät wurde «Scherzi-Tester» genannt, nach den Namen seiner Miterfinder, den Herren Schertenleib und Zibach. Er lacht, als ich ihn nach den Tantiemen für diese Erfindung frage: «Die Ehre, das realisiert zu haben, war uns Lohn genug.» Jetzt aber zu Hanna, die im Lead bereits genannt wurde. Hanna aus Brenzikofen und Gerhard aus Oberdiessbach lernen sich 1956 bei einer Vorstellung des Turnvereins Oberdiessbach (wo denn sonst?) kennen. Gerhard ist sportlich engagiert, auch im örtlichen Schwingklub, zudem wird er als Nationalturner ausgezeichnet. Hanna wie­derum wächst mit neun Geschwistern auf. Als die Mutter stirbt, ist es Aufgabe des ältesten Meitlis, den Haushalt zu führen, was es Hanna verunmöglicht, eine Ausbildung zu absolvieren. In die Sekundarschule, die damals kostenpflichtig ist, darf einer ihrer Brüder – Hanna nicht, die hat andere Aufgaben …

Zehn Jahre lang Hauswart

Weil Geld bei den beiden nicht im Überfluss vorhanden ist, leben sie nach einer Zeit des Kennenlernens ein Jahr lang in Brenzikofen zusammen, unter einfachsten Bedingungen, «im Gade», wie sich Gerhard Schertenleib heute mit einem Lachen erinnert. Ihre erste gemeinsame Wohnung beziehen die Eheleute später an der Gwattstrasse in Thun, Roland kommt im Februar 1962 zur Welt, Daniela im Juli 1963, Stephan im November 1964.

Und was unternehmen Hanna und Gerhard Schertenleib in ihrer Freizeit, in der lange Jahre kein Geld für Ferien vorhanden ist? Sie sind dennoch zufrieden: «Mir sy im Garte gsi», sagt er. Hatten sie denn einen eigenen Garten an der Gwattstrasse, später bei der Viereinhalbzimmerwohnung an der Talackerstrasse, wo Schertenleibs 50 Jahre gewohnt haben? «Nein, das hatten wir nicht, aber einen Schrebergarten in Thun, beim Platzgerplatz vor den Toren der Stadt.» Vor allem aber sind Hanna und Gerhard Schertenleib Mitglieder des Familiengartenvereins Thun, der auf jenem Areal zu finden war, wo heute das Panoramacenter steht. Zugegeben, die hier abgebildete Foto aus dem Jahr 2008 ist von der Qualität her eher suboptimal, wir drucken sie dennoch ab, weil es sich um ein Stück Nostalgie handelt.

Eine ungewöhnliche Episode in Zusammenhang mit der Talackerstrasse kommt meinem Gegenüber während unseres Gesprächs in den Sinn: Diese Wohnung in einem Neubau erhält er von der Wohn- und Baugenossenschaft Neufeld nur, wenn er sich schriftlich verpflichtet, während zehn Jahren die Arbeit als Hauswart zu verrichten … «Das war Nötigung», schmunzelt er, «diese Bedingung würde ich heute nicht mehr akzeptieren.»

Gerhard Schertenleib ist handwerklich begabt (Kunststück, bei dessen Beruf). Und so entsteht auf einer 400 Quadratmeter grossen Parzelle des Familiengartenvereins Thun im Eigenbau ein kleines Chalet, das ebenfalls abgebildet ist. Tempi passati.

Aus 500 mache 800 Franken

Nach vielen Jahren ohne Ferien leistet sich Gerhard Schertenleib ein eigenes Auto, einen DKW-2-Takter, für den er 500 Franken bezahlt und den er zwei Jahre später für 800 Franken weiterverkauft. Ein toller Return on Investment, würde ein Banker dazu bemerken. Anschliessend kauft er sich einen Toyota Corona, mit dem er mehrmals nach Spanien ans Meer fährt.

Hanna stirbt 2019, wenig später zügelt der mittlerweile 84-Jährige, der ein phänomenales Gedächtnis besitzt und deshalb Erlebnisse schnell und pointiert auf den Punkt bringt. Dieses Gedächtnis hilft ihm auch, beim Jassen das Spiel im Kopf behalten zu können. Chapeau. Seit zwei Jahren lebt er in der Sonnmatt, ist mit sich und seinem Leben zufrieden. Ich ziehe den Hut.

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