Ruth Moor: «Ich muss für andere Menschen da sein»

Ruth Moor: «Ich muss für andere Menschen da sein»

Ruth Moor: «Ich muss für andere Menschen da sein»

Meine Interviews mit älteren Menschen beginnen immer mit der gleichen Frage: «Wo und wann sind Sie geboren worden?» Dieses Mal jedoch fällt mir der Kugelschreiber aus der Hand. Der Grund: Schauen Sie sich sofort das Bild von Ruth Moor an, die seit den Weihnachtstagen 2017 im Alters- und Pflegeheim Sonnmatt von Wohnen im Alter in Thun lebt!

Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

 

Mir sitzt nämlich eine lebensfrohe und geistig schon fast quirlige Frau gegenüber. Sie beantwortet meine Frage: «Am 20. Februar 1929 in Dübendorf.» Mit Verlaub: Ruth Moor wird in Kürze … 94 Jahre alt! Unglaublich. Auch deshalb, weil wir uns wie Gleichaltrige unterhalten. Nur ganz, ganz selten spielt ihr das Gedächtnis einen Streich. Aber dazu kommen wir noch.

Es wird gearbeitet, nicht gelernt

Ruth Moor, die zeit ihres langen Lebens ledig geblieben ist, wächst auch in Dübendorf auf, zusammen mit fünf Schwestern, die sie alle überlebt. Das Familienleben ist schwierig. Der Vater hört seit einem nicht von ihm verschuldeten Schiessunfall im Aktivdienst während des Ersten Weltkriegs fast nichts mehr. Unterstützung von der Armee erhält er keine, schon gar nicht finanzielle, weil es damals keine Militärversicherung gibt. Er schlägt sich mit Hilfsjobs durch, die nicht gut bezahlt werden. Und dennoch: Während 20 Jahren arbeitet er bis zur Pension bei der Swissair, entwickelt bestimmt Fähigkeiten, die ein normal Hörender kaum entwickelt.

Nach der Schulzeit würde Ruth eigentlich gerne eine berufliche Ausbildung in Angriff nehmen, was aber nicht möglich ist, nur die älteste Schwester darf das, alle Geschwister müssen – auch während der Schulzeit – ihrer Mutter helfen, die eine Art Privatpension für Arbeiter anbietet, damit sie sich der Familie annehmen kann und nicht «auswärts» muss, um die Familie durchzubringen. Das heisst für Ruth und ihre Schwestern: Arbeit in der Pension. Ihre Mutter ist Salutistin bei der Heilsarmee, der Glaube an Gott überträgt sich nach und nach auch auf Ruth, die nach der Primarschule ein Haushaltsjahr bei einer Familie in Langenthal verbringt, anschliessend arbeitet sie als Köchin in einem Geschäftshaushalt in Oerlikon. Ihre Wurzeln lassen sie in zweierlei Beziehung nicht los: Sie kehrt wieder als Haushaltshilfe nach Dübendorf zurück und merkt immer stärker, dass sie «für andere Menschen da sein will».

Keine Diplome, aber …

Noch während des Zweiten Weltkriegs verschlägt es die Zürcherin als Haushaltshilfe in die Romandie, genauer gesagt nach Chênes-Bougeries nahe der französischen Grenze zu Genf. Ihr gefällt es in der grossen Villa nicht, sie sehnt sich nach Menschen mit denen sie die französische Sprache erlernen kann, denn dazu kam sie ja nach Genf. Als sie es in ihrer Einsamkeit nicht mehr aushält, wechselt sie als «aide infirmière» ins Kantonsspital Genf. Dort merkt ihre Vorgesetzte, eine Diakonissin, dass Ruth Moor auch ohne Diplome (aber mit guten Schulzeugnissen) einiges auf der Platte hat, wie man so schön sagt – sie darf deshalb auch Spritzen setzen und auch sonst Verantwortung übernehmen.

Geweiht und ausgesendet

In diesem Lebensabschnitt wächst in ihr der Wunsch, der Heilsarmee beizutreten. Sie meldet sich deshalb im Hauptquartier Bern zur Kadettenschule an, wird dort auch aufgenommen, wobei diese Zeit eine bewegte ist. Auf der einen Seite ist sie als Haushaltshilfe nach England zu einer Fabrikantenfamilie, um Englisch zu lernen, auf der anderen auch in Dübendorf, weil es ihrer herzkranken Mutter nicht gut geht. Zum zweiten Mal dann in England, absolviert sie die Heilsarmee-Ausbildung in der entsprechenden Schule, nicht in Bern, wo sie eigentlich angemeldet ist, und wird 1952 als Leutnant «geweiht», wie das bei der Heilsarmee heisst, und das in der Royal Albert Hall, zusammen mit ungefähr 200 jetzt Ausgebildeten, die von nun an in die Welt «ausgesandt» werden.

Ihren ersten Einsatz bekommt Ruth Moor in Murten. Im Laufe ihrer Berufszeit wird sie bis zur Pension mit 60 Jahren 20-mal (!) umziehen, um anderswo Aufgaben der Menschlichkeit zu übernehmen. 1967 amtet sie als Jugendsekretärin der Zürcher Division. Wo war sie denn überall? Sie beginnt mit ihrer Aufzählung: «In Murten, danach in Les Ponts-de-Martel, wo ich befehlende Offizierin war, weiter nach Zollbrück, Aigle, Leysin, Nyon – gopf, mein Gedächtnis lässt mich im Stich … –, St. Aubin, Interlaken, Zofingen und noch an anderen Orten, die mir im Moment nicht mehr in den Sinn kommen.» Interessant ist ihr Aufenthalt in Leysin, wo sie zweimal weilt und dann schliesslich das Hotel der Heilsarmee leitet. So zwischendurch kommt Ruth Moor in die Stabsdienste an der Kadettenschule Muristalden Bern als Übersetzerin Deutsch-Französisch.

 

Die Frage liegt auf der Hand: War Ruth Moor immer allein unterwegs oder hatte sie ein Team um sich, das von Ort zu Ort delegiert wurde? «Nein, ich war 20 Jahre lang mit Regula Ramsauer in Dienstwohnungen unterwegs. Sie hat dann im Gegensatz zu mir geheiratet, lebt heute aber nach dem Tod ihres Mannes inzwischen auch hier in der Sonnmatt!»

Stichwort Sonnmatt. Mit 60 wurde Ruth Moor also pensioniert. Wo hat sie danach gewohnt? «29 Jahre lang in Hünibach. Ich bin in dieser Zeit viel gereist, habe Menschen besucht, die ich während meiner Dienstzeit kennengelernt hatte.» 2017 klemmt sich Ruth Moor den Ischiasnerv ein, auf heimtückische Art und Weise, kann sich monatelang kaum bewegen und wird schliesslich am Rücken operiert, verbringt danach die Reha in Heiligenschwendi. In ihre Wohnung kann sie nicht zurück, weshalb sie am 23. Dezember 2017 in die Sonnmatt kommt. Auch hier ist ihr Regula Ramsauer eine Hilfe: Sozusagen Stück für Stück wird ihr Haushalt – auch in Zusammenarbeit mit einer Brockenstube – von Hünibach nach Thun gezügelt. Das heisst, jene Gegenstände, die Ruth Moor lieb sind, haben auch Platz in der neuen Wohnung gefunden.

Was sie heute am meisten wurmt: dass sie nicht mehr singen kann, ihre Stimmbänder lassen das nicht mehr zu. Ihre Zeit bei der Heilsarmee hat ihr Leben erfüllt, «weil wir zu den Leuten gegangen sind, wir haben sie gesucht – und auch gefunden». Nein, ihr Leben hat Ruth Moor wahrlich nicht auf einem Bürostuhl verbracht, in der Hoffnung, dass ja niemand läutet …

Marschtabelle umgekehrt

Was für eine fröhliche und lebens­bejahende Frau ist das, die mir gegenübersitzt! Immer im Dienst anderer Menschen, um ihnen zu helfen und um ihnen Freude zu bereiten. Ich frage Ruth Moor, ob sie sich an eine lustige Episode erinnert, die ich mir notieren könnte. Sie kann.

Da war also eine Beiz irgendwo in der Schweiz, wo Ruth Moor mit anderen Heilsarmee-Angehörigen jeweils gesungen hat. Das Restaurant lag etwas ausserhalb eines Dorfs, wo auch andere Auftritte stattfanden. Kamen die Heilsarmisten herein, wurde es still, die Jasskarten auf den Tisch gelegt. Das galt auch für Bruno, der erst nach Hause ging, wenn die Sängerinnen und Sänger ihre Darbietung beendet hatten. Die besagte Beiz wurde jeweils als erste besucht. Einmal jedoch wurde der Plan geändert, Bruno und Co. wurden zum Schluss beehrt. Nur … da war dieses Mal kein Bruno, sein Stuhl leer. Ruth Moor erkundigt sich beim Beizer, wo denn Bruno sei. Er, Bruno, habe auf die Truppe gewartet, die aber nicht wie gewohnt kam. Also sei er mit den Worten «Die chöi mir i d’Schue blase, ig gange itz hei!» nach Hause. «Und, hat Bruno die Schuhe hier gelassen, damit wir ihm in die Schuhe blasen können?», antwortete Ruth Moor schlagfertig. Das war aber nicht der Fall. 

Lustiges ganz zum Schluss unseres Gespräches. Ich zeige Ruth Moor die Foto, die ich Minuten zuvor von ihr gemacht habe. «Eine so gute Foto von mir habe ich noch nie gesehen!» Tja, manche Menschen müssen halt 94 Jahre auf die «Foto ihres Lebens» warten …

Die Heilsarmee

Weltweit ist die Heilsarmee heute – 1865 von William Booth in London gegründet – in 131 Ländern vertreten, ihr internationaler Sitz ist in London. Leiter ist General Brian Peddle. Die Heilsarmee Schweiz gibt es seit 1882. Sie bildet mit Österreich und Ungarn ein gemeinsames Territorium. Auf ihrer Schweizer Website steht zu lesen: «Wir setzen uns mit Gebet, Wort und Tat entschlossen ein, damit die Liebe Gottes zu allen Menschen durchdringt. Wir vermitteln Hoffnung und suchen mit Menschen in Not nach Lösungen. Damit fördern wir ein eigenverantwortliches und sinnerfülltes Leben in Würde.» Der Stiftungsrat ist das oberste Organ der Heilsarmee Schweiz. Dieser setzt sich aus Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen zusammen, die durch ihr Know-how die strategische Ausrichtung der Heilsarmee unterstützen. Zudem identifizieren sie sich stark mit dem christlichen Glauben und der sozialen Ausrichtung der Heilsarmee. Der Rat beschliesst die Strategie, übt Kontrolle in allen Belangen aus und ist für die Corporate-Governance zuständig. Die Mitglieder werden auf Antrag des Stiftungsrats durch den General der Heilsarmee ernannt und tagen mindestens viermal jährlich.

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