Leben im Alter: Wenn die  älteste Tochter 77 Jahre alt ist

Leben im Alter: Wenn die älteste Tochter 77 Jahre alt ist

Leben im Alter: Wenn die älteste Tochter 77 Jahre alt ist

Margrit ist 77 Jahre alt, Rudolph zwei Jahre jünger, Peter Jahrgang 1946 und Verena als «Küken» auch schon 71… Nun stellt sich also die Frage nach dem Alter von Alice Klaus, die bereits vor ihrer Heirat mit einem Cousin diesen Familiennamen trug. Sie ist 99 Jahre alt. Eine faszinierende Frau, die alle Daten ihres Lebens noch immer auswendig aufzählen kann. Über Jahre war sie, wie Alice Klaus selber sagt, ein «Vaganti».

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

u Beginn will ich wissen, ob Alice Klaus aus einer Schoggi-Familie kommt. Das ist nicht der Fall, ihre Familie stammt ursprünglich aus Deutschland, der Urgrossvater möglichweise sogar aus Preussen. Alice Klaus wird am 21. September 1920 in St. Gallen geboren, nach ihr kommen noch zwei Schwestern und ein Bruder zur Welt («Mein Bruder wurde im Vergleich zu uns drei Schwestern immer verwöhnt…»). 



Vom Thurgau nach Thun

Der Vater musste während des Ersten Weltkrieges in der Schweiz Aktivdienst leisten, erkrankte an offener Tuberkulose. Zuerst wohnt die Familie im thurgauischen Kradorf, zieht 1926 nach Thun, wo der Vater – in Phasen, die seine Krankheit erlauben – in der Munitionsfabrik arbeitet, der heutigen RUAG. Zur Schule geht Alice in Allmendingen. Nach der Schulzeit absolviert Alice ein Haushaltsjahr bei der Familie Gehrig – der Vater der Familie ist Postbeamter. Anschliessend hätte sie gerne eine Lehre angegangen, was aber vom Vater verhindert wird, «weil Mädchen eh früh heiraten». So wird sie an verschiedenen Orten als Hilfskraft beschäftigt, unter anderem in der Munitionsfabrik, wo sie Hülsen sortiert.

Am 10. Mai 1941 heiratet sie ihren Cousin Rudolph, der bei der Schuhfabrik in Schönenwerd im Kanton Solothurn arbeitet – und das während 25 Jahren. In Schönenwerd kaufen sich die Eheleute auch ein Haus. In dieser Zeit kommen zudem die Kinder der beiden zur Welt. Heute ist Alice Klaus fünffache Grossmutter und zweimal Urgrossmutter. Mit ihrer Grossfamilie ist sie sehr glücklich, «immer besucht mich jemand, das ist sehr schön und nicht selbstverständlich.»

Wirtepatent gemacht 

Zurück aber zur Familie im Solothurnischen, wo Rudolph neben seiner Beschäftigung bei Bally auch noch einem Nebenjob bei der Mobiliar-Versicherung nachgeht, bis er schliesslich ganz wechselt und während zehn Jahren Versicherungsvertreter wird. Es kommt der Tag, an dem ihn die Arbeit nicht mehr befriedigt. 1961 dann der Entscheid, eine kleine Pension in Schönenwerd zu übernehmen («Das wäre was!), das ehemalige Hotel Widmer, welche heute das Restaurant Winkel an der Bäckereistrasse ist. 

Und das heisst für Alice Klaus: Wirteprüfung, die sie auch besteht und somit das Wirtepatent erhält. Ein Jahr steht sie neben Herrn Widmer in der Küche, schaut zu, lernt die Finessen des Kochens kennen, während ihr Mann die Pension administrativ führt. «E Chrampf» sei das damals gewesen, sagt sie heute, lächelt jedoch dabei. Ihr Sohn Peter hat den Beruf des Kochs erlernt und wechselt nach Schönenwerd. Es kommt die Zeit, da Alice Thun vermisst und zurück ins Berner Oberland möchte, was die Eheleute auch tun. Sie zügeln an die Pestalozzistrasse wo Alice während 49 Jahren wohnt, auch nach dem Tod ihres elf Jahre älteren Mannes 1980.

Das Leben B 

Jahre lang für den «Volksdienst» in der Kantine der Munitionsfabrik, heute noch als SV der grösste Caterer der Schweiz für Kantinen und Personalrestaurants. Drei Jahre nach dem Tod von Rudolph beginnt sie 1983 mit dem, wie sie selber sagt, «Vagantenleben». Und damit meint sie den Beginn eines Reiselebens in ferne Länder, gleich zu Beginn mit dem Reisebüro Kuoni nach China – wenn schon, dann schon. Alice Klaus schwärmt noch heute von dieser ersten grossen Reise nach Bangkok, Peking, Schanghai, der Flussfahrt auf dem Yangtze und, und, und… Eine ganz spezielle Erinnerung hat sie an die chinesische Hauptstadt, damals noch mit Hundertausenden von Velofahrern. Seither hat sich die Fortbewegung auf den Strassen Pekings entwickelt, mit dem bekannten Resultat: Stundelange Staus mit gesundheitsschädigender Luft.

Sie habe dann «einen Freund» kennengelernt mit dem sie in den folgenden Jahren weitere Reisen unternommen habe, zum Beispiel nach Russland samt einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisennahn von Novosibirsk nach Irkutsk, dem Baikalsee («einem der grössten Seen der Welt»), Alma Ata, Taschkent und Baku. 

Die Häuser im French Quarter 

«Ja, sicher, in den USA war ich auch», antwortet Alice Klaus auf die entsprechende Frage. Washington sei in besonderer Erinnerung geblieben, vor allem aber – nach Zwischenstationen in Norfolk, Memphis und Nashville – die Häuser in New Orleans mit ihren «irrsinnig schönen» Balkongeländern. Und dann überhaupt das French Quarter: «Jazz lag überall in der Luft, man kann das gar nicht beschreiben». Plötzlich kommt ihr ein anderer Höhepunkt in den Sinn: Die Holzkirchen von Kischi Pogost, die sich auf der Insel Kischi im westlichen Teil des Onegasees in Russland befinden. «Sogar die Nägel sind aus Holz, unglaublich!» Die Foto beweist es: Unglaublich, wirklich.

Es kommt jener Zeitpunkt in ihrem Leben, da sie einen Gang herunterschaltet und nicht mehr nach Übersee reist. Regelmässig tauscht sie sich mit ihrer Tochter Margrith aus, einer Lehrerin, die eine Persönlichkeit aus dem Physikalischen Institut der Uni Bern geheiratet hat. Zusammen mit ihrem Freund unternimmt sie Flussfahrten, vor allem aber auch allein Europareisen mit der «Thuner Chötti», einer Vereinigung für alleinstehende Leute. 

Die «Thuner Chötti» 

Mit anderen Thunerinnen und Thunern reist sie nach Ungarn, in die Türkei, nach Kroatien, Italien («Ich war schätzungsweise 15 Mal in Jesolo, nicht bloss mit der ‹Chötti›»). Detail am Rande: Die «Thuner Chötti» wird heuer 40-jährig, Alice Klaus ist seit 39 Jahren Mitglied. Die letzte Reise mit der «Chötti» hat sie übrigens auf die Kanalinsel Guernsey unternommen.

Einschneidend für ihr Leben ist der 20. März 2018, als sie zu Hause hinfällt und sich einen Oberschenkelbruch zuzieht. «Zum Glück trug ich einen Alarmknopf am Handgelenk, sodass mir sofort geholfen werden konnte. Ich wurde ins Regionalspital Thun eingeliefert und sofort operiert.» 

Seit dem 8. Mai 2019 lebt Alice Klaus im Martinzentrum – zuvor war sie einige Zeit vorübergehend im Lädelizentrum –, wo es ihr ausgezeichnet gefällt. «Hie isch es schön und guet. S’Martinzentrum isch sicher eis vo de beschte Heim in und um Thun, aber es bruucht halt schon Zyt, um sech dra z’gwöhne», sagt sie uns zum Schluss.



Sie unternimmt Europareisen mit der «Thuner Chötti», einer Vereinigung für alleinstehende Leute. 

Drei Jahre nach dem Tod von Rudolph beginnt sie 1983 mit dem, wie sie selber sagt, «Vagantenleben».

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