Leben im Alter: Von einem aussergewöhnlichen Leben

Leben im Alter: Von einem aussergewöhnlichen Leben

Leben im Alter: Von einem aussergewöhnlichen Leben

Drei Sachen fallen auf, wenn man das Zimmer von Therese Sutter im Martinzentrum betritt: zum einen die beiden schönen Repros von Marc Chagall an ihrer Wand, dann der Umstand, dass sie perfektes Bärndütsch mit hörbarem Tiroler Fundament spricht; und vor allem wie zwäg die 95-Jährige geistig ist! Eine interessante Begegnung bahnt sich an.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

 

Geboren wird Therese Kluckner am 18. Oktober 1925 in Innsbruck. Sie wächst bei ihren Grosseltern in Stans bei Schwaz auf, ungefähr 30 Kilometer vom Tiroler Hauptort entfernt. Was sie in der Schule für bevorzugte Fächer hatte? Ein schallendes Lachen begleitet ihre Antwort: «Oft keines, manchmal aber das eine oder andere, Erdkunde, zum Beispiel.»

 

 

Von Christbäumen zu NS-Uniformen

 

Nach der Schulzeit möchte sie den Beruf der Schneiderin erlernen, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Mit anderen Worten: Sie macht, was ihr befohlen wird. Und das heisst für Therese sechs Jahre Arbeit in einer Uniformschneiderei, wo die feinen Stoffe für die Offiziere produziert werden. Keine Spur einer Ausbildung: «Heute gab es jene Naht zu nähen, morgen ein bestimmtes Knopf- loch, übermorgen eine andere Naht.» Übrigens: Vor ihrer Bestimmung zum Uniformenproduzent wurden in der Fabrik… Christbäume gefertigt.


1945 ist Deutschland besiegt, Stans wird von den Franzosen belegt. Therese Kluckner beginnt in Hall im Tirol ihre Stelle als «Chuchimeitli» bei einer französischen Familie, das Familienoberhaupt ist Offizier. Hat unsere Tirolerin en passant Französisch mit auf ihren Lebensweg mitbekommen? Falsch. «Die Familie wollte, dass die Kinder Deutsch lernen.» Kurz danach zügelt die Familie mit Sack und Pack – samt Therese – nach Frankreich, in die Nähe von Besançon. «Vous parlez donc le français, n’est-ce-pas?» Meine Gesprächspartnerin lacht. Ja, sie hat die Sprache Voltaires aufgeschnappt.

 

Rössli Dürrenast sucht…

 

Zu Weihnachten reist Therese Kluckner nach Hause, bleibt in Österreich und kehrt nicht mehr in die Grande Nation zurück. In Hall beginnt sie bei der Joseph Recheis Eierteigwarenfabrik als Mitarbeitende in der Produktion. Über diese Zeit zu sprechen, fällt ihr aus persönlichen Gründen schwer, weshalb wir diese Lebensphase überspringen und ins Jahr 1951 wechseln. In einer Zeitung entdeckt sie ein Inserat des Restaurants Rössli in Dürrenast, welches eine Mitarbeitende sucht. Therese Kluckner bewirbt sich und bekommt sofort ein Angebot, woraufhin sie ins Oberland reist.


Dort lernt sie ihren Mann kennen, Felix Sutter, ein Plattenleger. Die beiden heiraten im August 1952. Das junge Ehepaar wohnt in Dürrenast, Felix arbeitet im Dorf. Ihr Sohn René kommt 1952 zur Welt, Felix 1957 und Tochter Madeleine 1958. Noch ein paar Worte zu René, der als Koch – zusammen mit seiner Frau Jeannette – 40 Jahre lang den Goldenen Anker in Interlaken führt, vermutlich das berühmteste Restaurant auf dem Bödeli. Und für die Statistiker unter unseren Lesenden: Felix, der wie sein Vater heisst, erlernt ebenfalls dessen Beruf, Plattenleger. Madeleine ihrerseits wird Coiffeuse. Therese Sutter schwärmt von ihren beiden Enkelkindern, beides Sprösslinge von Felix: Norah, heute Oberärztin am Inselspital Bern, und Sinue, Sanitäter.

Spanien und die Karibik

 

«Haben Sie als Hausfrau und Mutter auch gearbeitet?», will ich von Therese Sutter wissen. Ja, das hat sie, im Hotel Freienhof Thun, zum Beispiel bei Banketten und ausserordentlichen Anlässen. Später hat sie für das Hotel als Gouvernante auf allen Thunersee-Schiffen gearbeitet, weil der Freienhof für die Gastronomie zuständig ist, zuerst auch auf der Stadt Bern, die später ausrangiert wurde.


«Und wo haben Herr und Frau Sutter ihre Ferien verbracht?» Sie lacht: «Felix wollte immer ins Ausland. Furt. Wäg, as Meer!» Und so führte sie der Wunsch ihres Mannes regelmässig an die Costa Blanca in eine Ferienwohnung nach Calpe, aber auch dreimal in die Karibik. Die Schweiz wurde trotzdem nicht vernachlässigt: «Wir haben viele Tagesausflüge gemacht», sagt Therese Sutter, «vor allem, wenn gutes Wetter angesagt war.»

Felix Sutter engagiert sich auch im Sport: Viele Jahre ist er Masseur und Pfleger bei einem gewissen FC Thun. Er hätte Freude am Kampfgeist der Spieler gehabt, berichtet seine Frau.

Vor ihrer Züglete ins Martinzentrum vor vier Jahren wohnten die Sutters 35 Jahre lang an der Silberhornstrasse in Thun in einer Wohnung der Baugenossenschaft Alpenblick. Im Martinzentrum konnten die beiden eine schöne 2½-Zimmerwohnung beziehen, wo sie zwei Jahre lang glücklich waren, bis zum Ableben von Felix. Seither belegt Therese Sutter eine 1-Zimmerwohnung im dritten Stock des Zentrums, das zurzeit umgebaut wird.

 

 

Klaglos glücklich

 

Frau Sutter ist im Moment an den Rollstuhl gebunden, weil sie sich bei einem Sturz beide Beine gebrochen hat. Dennoch mag sie nicht klagen, im Gespräch hebt sie immer wieder die Vorzüge des Martinzentrums hervor, vor allem die Hilfsbereitschaft und die Freundlichkeit der Mitarbeitenden in der Wohngruppe 3.

 

Vor Therese Sutter ziehe ich den Hut. Auch in weit weniger ernsthaften Situationen beklagen sich viele Leute über Dieses oder Jenes. Sie jedoch verweigert sich, ist mit sich und der Welt zufrieden. Ein echtes Vorbild.

 

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