Leben im Alter: Weltgeschichte live im Nahen Osten

Leben im Alter: Weltgeschichte live im Nahen Osten

Leben im Alter: Weltgeschichte live im Nahen Osten

«Herr Aeschbacher ist ein Spezieller», sagte man mir auf der Suche nach einem neuen Gesprächspartner. Und wirklich: Walter «Wale» Aeschbacher, der im Lädelizentrum Heimberg von «Wohnen im Alter Thun» lebt, ist einer mit Ecken und Kanten. Kein Wunder, lässt sich seine Lebensgeschichte nicht wie ein Puzzle zusammensetzen. Hier und da fehlen einige wenige Teile, die aber das Ganze nicht beeinträchtigen.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

Walter Aeschbacher wird 1940 als eines von neun Kindern in Solothurn geboren. Seine Mutter Anna ist eine Bauerntochter, Vater Werner eigentlich gelernter Bauer, er wird aber aufgrund seines Interesses für Autos von der Kantonsregierung als einer der ersten Chauffeure angestellt und fährt die «hohen Herren» von A nach B. Zu seinen Fahrgästen zählen der spätere Solothurner Bundesrat Willi Ritschard und General Henri Guisan.



Mobbing und schiefe Bahn

«Wale» geht neun Jahre lang in Solothurn zur Schule und beginnt anschliessend eine Lehre als Mechaniker bei der Simonet AG, die kleine Drehbänke herstellt (siehe Foto). «Dort habe ich nicht gutgetan», sagt er. Was ist denn passiert? «Ein Angestellter hat mich wirklich schikaniert, heute würde man von Mobbing sprechen.» Walter Aeschbacher lässt sich das nicht gefallen, klaut dem Mann sein Werkzeug und verkauft es. Er wird erwischt, bekommt einen Vormund und setzt seine Ausbildung in den «Lehrwerkstätten Basler Jugendheim» fort. Das Dumme dabei: Jener, der für die Ausbildung zuständig ist, taugt nicht viel, Walter und seine Kollegen lernen nicht wirklich. Das ändert sich schlagartig, als ein neuer Lehrer kommt, Hans Mühletaler, welcher zuvor bei der «Lädere» in Bern tätig war. Dessen erste Einschätzung: Die Lehrlinge werden um ein halbes Jahr zurückgestuft, weil sie nicht auf dem geforderten Ausbildungsstand sind. «Mit seinem Eintritt hat sich alles geändert – wir wurden plötzlich professionell geschult und haben alles gelernt. Es war eine gute Zeit.»

Walter Aeschbacher lernt drehen, bohren, schweissen, stanzen, schreinern – und noch vieles mehr. Und zwar mit der Schlussgesamtnote 1,56 derart gut, dass sein Lehrwerkstück sozusagen beschlagnahmt und als Vorzeigeobjekt für die Schule gebraucht wird. «Ich habe es nie mehr zurückbekommen. Schade, es war ein schönes Stück.» Er ergänzt: «Es musste ‹arschglatt› poliert werden, kein Fingerprint durfte darauf zu sehen sein.» Merke: Er redet nicht von Fingerabdrücken, so dass man vermuten muss, dass er auch Englisch spricht. Und nicht nur das: Grundkenntnisse in Französisch hat er in der Schule gelernt, Italienisch und Arabisch kommen später dazu, «auf der Strasse gelernt», wie er präzisiert.


Rekrutenschule und Fremdenlegion 

Die Rekrutenschule absolviert Walter Aeschbacher in Thun, ist Geschütz- und Waffenmechaniker. Und eigentlich möchte er weitermachen, also an die Unteroffiziersschule und später an die Offiziersschule gehen. «Ich wollte dafür mindestens den B-Vorschlag als Zusicherung, den man mir aber nicht gab», wodurch seine militärische Karriere in der Schweiz beendet ist. Was nun? Walter Aeschbacher wäre nicht Walter Aeschbacher, hätte er nicht nach einem anderen Weg gesucht – und gefunden, nämlich in Mulhouse, wo er bei der Fremdenlegion anklopft. Das klappt jedoch nicht, die Legion will zu jener Zeit keine Schweizer mehr, weil sie offenbar als unzuverlässig gelten. Kaum haben sie unterschrieben, wollen sie schon wieder weg.

Unser Solothurner verbleibt in der Schweiz, arbeitet bei verschiedenen Firmen, «aber nie mehr als 1½ Jahre.» Er ist kein Sesshafter, sondern sucht die Weite. Und hier kommen wir auf die vorhin erwähnten Puzzleteile zurück. Sein weiteres Leben lässt sich für den Zuhörenden und Schreibenden nicht chronologisch aufzählen, weil Walter Aeschbacher sich zwar an extrem viele Details erinnert, sie aber zeitlich nicht mehr genau einzuordnen vermag. Wir beschränken uns deshalb auf einige wirklich eindrückliche Fragmente.


Iran, Irak, Australien 

1968 heiratet er. Mit seiner Frau bekommt er zwei Kinder, Sandra und Marc, mit denen er heute ein herzliches Verhältnis unterhält, obwohl die Ehe Spannungen ausgesetzt ist. «Das verflixte siebte Jahr gleich doppelt», meint er nachdenklich. Nach sieben Jahren die Trennung, weitere sieben Jahre später die Scheidung.

Einer der Gründe für das Scheitern sind seine beruflichen Tätigkeiten für Schweizer Firmen im Ausland. Neckisches Intermezzo aus Australien, wo er als «Mech» im Barossa Valley beschäftigt ist, bekannt für seine Weine: In der Lindy Lodge Adelaide, wo er gleich nach seiner Ankunft in Australien vorübergehend wohnt, sagt ihm die Hotelbesitzerin, sie wolle ein Kind von ihm. «Sorry, it’s too late», bekommt sie zur Antwort.

Der Iran und der Irak sind weitere Stationen seiner Auslandaufenthalte. Und hier erlebt er die Weltgeschichte live: die Rückkehr des Ayatollah Khomeinis nach dem Sturz des Schahs vor genau 40 Jahren. «Wir Ausländer haben natürlich nicht im Stadtzentrum gewohnt, aber alles mitbekommen, was da passiert ist.» Walter Aeschbacher meint damit die massiven Studentenproteste, weil die jungen Leute genau wussten, was jetzt passieren würde: Gottesstaat, Unterdrückung, Verfolgung von Regimekritikern, Folterungen, Tod. «Der Schah ging damals mit Opponenten nicht anders um, um ehrlich zu sein, aber mit der Rückkehr des Ayatollahs war der Bruch mit dem Westen total.» Die Entwicklung führte dazu, dass die ausländischen Spezialisten das Land fluchtartig verliessen, nicht so Walter Aeschbacher, der vorerst im Land verblieb.


Die Entwicklung führte dazu, dass die ausländischen Spezialisten das Land fluchtartig verliessen, nicht so Walter Aeschbacher, der vorerst im Land verblieb.

Wir beschränken uns auf einige wirklich eindrückliche Fragmente.

Swissair sei Dank 

Eine Art Linderung gab es in dieser Zeit dank der Swissair. Ohne auf Details einzugehen: Weil man sich kannte, gab es immer wieder die Möglichkeit, an Waren heranzukommen, die im Iran nicht erhältlich waren. Walter Aeschbacher lacht, man ahnt, was damit gemeint sein könnte. Zu jener Zeit blühte der Schwarzmarkt für Devisen. Gab es für einen US-Dollar offiziell 10 Dinar, so löste man backstage locker deren 100, sodass sich Walter Aeschbacher das eine oder andere leisten konnte, das er sonst niemals gekauft hätte, zum Beispiel einen erstklassigen Anzug samt Gilet aus englischem Kammgarn. Ähnliches galt auch für einen echten Perserteppich aus Isfahan, für den er aber «happig Zoll» bezahlen musste bei der Einfuhr in die Schweiz.

Während seines Aufenthaltes im Irak ging das Feilschen weiter. Was man wissen muss: Es war die Zeit des Krieges mit Iran. Walter Aeschbacher und seine ausländischen Kollegen wohnten in einem Gebiet «im Fadenkreuz einer Ölraffinerie und eines AKW», so dass man nie wusste, ob iranische Bomben nicht aus Versehen die ausländischen Behausungen treffen könnten. «Wir haben deshalb das Wasser im Schwimmbad abgelassen und den Pool mit Betonplatten gedeckt, als Luftschutzkeller.» Die Angst war nicht unbegründet, es kam nämlich auch vor, dass die irakische Fliegerabwehr aus Versehen mit Oerlikon-Geschützen (!) eigene Flugzeuge vom Himmel holten, die in der Nähe zu Boden krachten. Zurück zum Feilschen: «Die Soldaten hatten wunderschöne Gürtel, die sie uns für Devisen überliessen, um dann mit einer Packschnur um den Hosenbund rumzulaufen…»


Eichmeister 

Zurück in der Schweiz arbeitet Walter Aeschbacher für Hobart Waagen, schliesst dafür die Prüfung als Eichmeister erfolgreich ab und bekommt als sein Gütezeichen den Buchstaben «F wie Fritz» zugeteilt, so dass man bei späteren Kontrollen sofort feststellen kann, welcher Eichmeister bei welcher Waage eingewogen hat. «Grossenbacher Pesche meinte, er nenne mich deshalb ab sofort Fritz», lacht «Wale» über einen damaligen Arbeitskollegen. Als Eichmeister ist Walter Aeschbacher in der ganzen Schweiz unterwegs, bei Grossverteilern, bei Metzgereien, bei Bauern, um deren Waagen korrekt einzustellen. Es gilt: Bis zu 50 Kilogramm ist eine Abweichung von höchstens fünf Gramm zulässig, bis zu 20 kg deren zwei.


Im Lädelizentrum sesshaft 

Vor seinem Einzug ins Lädelizentrum wohnt Walter Aeschbacher in Wichtrach, muss aber aus gesundheitlichen Gründen ausziehen, weil unter anderem das Treppensteigen unmöglich wird. Er kommt vorübergehend ins Lädelizentrum, in welchem er ein ständiger Bewohner wird, «bis man mich Füsse voran rausträgt». Ihm gefällt es hier, er hat keine Einwände, im Gegenteil.

Was er mir sonst noch erzählen könnte? «Chalas!», antwortet er. Chalas? «Das ist Arabisch und bedeutet «Fertig!.»

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