Verena Bohner und der Wandel im Büroalltag

Verena Bohner und der Wandel im Büroalltag

Verena Bohner und der Wandel im Büroalltag

Es ist ein eher ungewohntes Bild, diese zierliche, ja zerbrechlich wirkende Frau an ihrem Laptop. Und dennoch erstaunt die Situation nicht. Verena Bohner hat als ehemalige Mitarbeiterin bei IBM Schweiz sozusagen alle Stationen der modernen Bürotechnik miterlebt. Aber auch ihr Privatleben lässt nicht gleichgültig. Heute lebt Verena Bohner im Martinzentrum von «Wohnen im Alter» in Thun.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

Ig ha das no gärn gschmöckt», lacht die 71-Jährige, als wir das Rad der Bürogeschichte um Jahrzehnte zurückdrehen, in die Sechziger, als Gruppen wie die Beatles, Minijupes von Mary Quant, Revoluzzer wie Che Guevara oder die Apollo-Raumflüge angesagt sind. Aber auch die Kuba-Krise, welche die Welt an den Rand eines Atomkrieges brachte, die Ermordung der Kennedy-Brüder und von Martin Luther King, der Bau der Berliner Mauer.


Fliessblatt? Umdrucker? Matrize?

Mit «Ig ha das no gärn gschmöckt» meint Verena Bohner jene Flüssigkeit – Alkohol/Spiritus –, die jeweils auf einen saugfähigen Einsatz für den Umdrucker gespritzt werden musste, ähnlich einem dicken Löschblatt. Damit konnte man auf einer abfärbenden Matrize eine Vorlage vervielfältigen, aber höchstens einige hundert Exemplare drucken, denn danach wurde der Text unleserlich. Und gleich an dieser Stelle als Zwischenbemerkung für alle Lesenden, die nach 1980 geboren wurden: Der Umdrucker war sozusagen ein erster Vorläufer späterer Fotokopierer, zu Zeiten, als auch die Begriffe «Telegramm», «Wandtelefon», «Telex» oder «Stenographie» aktuell waren. Und das Löschblatt verwendeten Schülerinnen und Schüler seinerzeit, um die Tinte aus dem Tintenfass (die Tintenpatronenschreiber wurden erst viel später erfunden) schneller trocknen zu lassen, mit der sie mit ihrer Feder zu scheiben hatten. Man könnte Verena Bohner stundenlang zuhören, wenn sie aus ihrem Leben erzählt. Nein, nicht dass sie wirklich Aussergewöhnliches erlebt hätte, keine Besuche bei Kannibalen, aber genau das Alltägliche macht sie zu einer Zeitgenossin, mit der man sich identifizieren kann, weil ihr Leben derart gut nachvollziehbar ist für viele Menschen, die heute ihre Berufszeit hinter sich haben. Und die noch wissen, was es zum Beispiel mit dem IBM-Kugelkopf auf sich hat(te) … Geboren ist die Stadtbernerin im Breitenrain-Quartier – «im Breitsch» – und zur Schule ins Breitfeld-Schulhaus. Ihre erste Anstellung erhielt sie im April 1963 bei der Mobiliar-Versicherung in Bern, es folgten drei Jahre beim Eidgenössischen Militärdepartement EMD – dem heutigen VBS –, das vom Berner Bundesrat Ruedi Gnägi geführt wurde. Dort blieb sie indes nur drei Jahre. «Es het nid so gfägt, es het wenig z’tüe ggä.» Am 1. Mai 1972 dann der entscheidende Wechsel zu IBM Schweiz in Bern.

Männer nicht auf der Höhe? 

Verena Bohner wurde als «Locherin und Prüferin» – so die Bezeichnung im Stelleninserat – in der Überbauung City-West eingestellt, in einer Zeit also, da den Männern diese Aufgabe offenbar nicht zugetraut wurde … «Im Operating waren wir damals ein echtes Dienstleistungsbüro», erinnert sie sich, «wir haben für auswärtige Firmen gearbeitet, die noch keine Datenverarbeitungsprogramme hatten». Will heissen: Da wurden unter anderem Lohnabrechnungen erstellt. «Wir hatten dabei Schweigepflicht, durften niemandem sagen, wer wie viel verdient.» Liegenschaftsverwaltungen beauftragten IBM mit individuellen Heizkostenabrechnungen, andere Firmen wiederum liessen ganze Warenbestellungen via IBM laufen. Es war die Zeit, da IBM durch ihre elektrische Kugelkopfschreibmaschine – mit Korrekturband! – weltweit bekannt wurde. Statt der bisherigen einzelnen «Buchstaben-Greifarme» einer Schreibmaschine konnte man einen kleinen Kugelkopf aus Aluminium mit allen Buchstaben und Zeichen aufsetzen, und das in den verschiedensten Schriftarten. Eine Bürorevolution! Und es war der Beginn der eigentlichen Textverarbeitung, gefolgt von riesigen Schreibanlagen und ebensolchen Disketten, die Texte fixfertig abzuspeichern vermochten.

Schweigepflicht vorausgesetzt 

IBM entwickelte die Bürowelt immer schneller, in immer grösseren Schritten. Das bedeutete aber auch: Mit jedem neuen Programm betrat man auch Neuland, weshalb zuerst wochenlange Tests mit möglichen Auftraggebern durchgeführt werden mussten, auch für öffentliche Institutionen, mit zum Teil hochinteressanten Inhalten. «Aber auch da galt: Schweigepflicht.» Die stetigen Weiterentwicklungen führten auch zu regelmässigen Weiterbildungen, meistens in Zürich. «Unser damaliger Chef in Bern, Peter Quadri, wurde zum IBM-Schweiz-Chef in Zürich ernannt, seinen Abgang aus Bern haben wir bedauert.» Wie schnell IBM als Trendsetterin arbeite, zeigt sich an folgendem Beispiel: Verena Bohner lernte im Laufe der Zeit mit 14 verschiedenen Textverarbeitungssystemen auf dem PC umzugehen! Die neuen Technologien waren nicht mehr aufzuhalten, das gewaltige IBM-Schwungrad hatte Fahrt aufgenommen. Ein Meilenstein für Verena Bohner war das Programm «G80», das speziell für Gemeindeverwaltungen entwickelt wurde. Hier konnte alles «angelegt» werden, worauf es für die Gemeinden ankam: von der Einwohnerkontrolle über Steuern bis hin zu Kehrichtabrechnungen. Dafür zuständig waren riesige Computeranlagen, die legendären AS 400, wie man sie heute nur noch aus alten Filmen kennt, wo grosse Rollen zu sehen sind, die sich unregelmässig drehen. James Bond lässt grüssen. In dieser Zeit hat allein Verena Bohner 140 Gemeinden betreut (ihre Kolleginnen unzählige weitere Kunden, nicht bloss Kommunen) und Programme für sie ausgearbeitet. «Wir hatten ein ausgesprochen gutes Arbeitsklima, haben alle einander geholfen, wenn Not am Mann war, besser gesagt an der Frau», verrät sie mit einem Schmunzeln im Gesicht. Grossartig sei gewesen, dass die Vorgesetzten das Team haben selbständig arbeiten lassen, «wichtig war, das Ziel zu erreichen, wie, das war uns überlassen».

«Es het nid so gfägt, es het wenig z’tüe ggä.»

Und plötzlich war alles anders

Weil der Job in der IBM-Bibliothek Bern verwaist war, wechselte Verena Bohner später in diese Abteilung, für die sie sich schon immer interessiert hatte. Hier wurden 7500 Bücher, Magazine, Prospekte und Flyer verwaltet, alle mit Fachbezug. Mit 50 Jahren der Schock: Die IBM-Bibliotheken wurden in Zürich zentralisiert, die Abteilung in Bern geschlossen. Verena Bohner mochte nicht an den Zürichsee wechseln, sie erhielt dennoch keine Kündigung. «Ich war immer ein Mama-Höck», sagt sie ohne Verbitterung, «und genau zu diesem Zeitpunkt hatten meine Eltern Betreuungshilfe nötig, also habe ich mich sehr früh pensionieren lassen, im Wissen, dass ich nur eine kleine Rente erhalten würde.» 14 Jahre lang hat sich Verena Bohner um ihre Eltern gekümmert, vor allem um die Mutter, die an Demenz litt. «Während dieser Zeit habe ich nicht oft zwei Stunden am Stück geschlafen, meine Mutter ist regelmässig aufgewacht, ich musste nach ihr schauen.» Verena Bohner betont mehrmals, dass ihr Vater mitgeholfen habe, seine Ehefrau zu pflegen. Überhaupt sei er ein wichtiger Rückhalt für sie gewesen. Von einem Tag auf den anderen habe er seiner Tochter gesagt, er spüre seine Hände nicht mehr. «Er war zu nichts mehr fähig, also habe ich mich um ihn gekümmert.» Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau verliess auch er seine Tochter für immer.

Eine Stadtbernerin in Thun

Hatte Verena Bohner nie den Wunsch nach einer eigenen Familie? «Doch schon, ja, aber es hat sich irgendwie nicht ergeben», sagt sie ohne Traurigkeit, erwähnt aber «Enttäuschungen im Leben». Die Zeit mit der Pflege ihrer Eltern ist eine 24/7-Aufgabe. Geht sie zu Coop am Breitenrainplatz einkaufen, so muss sie schnell wieder nach Hause finden, weil «vielleicht etwas passiert ist». Ferien hat sie während vieler Jahre keine. Wie aber kommt die Bernerin nach Thun? «Ich habe von einer Ferienwohnung am Thunersee geträumt, der Traum bleibt aber ein Traum, aus den bekannten Gründen.» Also hat sich Verena Bohner 2010 entschlossen, auch ohne Ferienwohnung nach Thun zu ziehen, in eine 2-Zimmer-Wohnung im Lerchenfeld. Verena Bohner leidet an der Lungenkrankheit COPD, sie benötigt ständig Sauerstoff, auch nachts, ist deshalb betreuungsbedürftig. Im Juni 2015 zieht sie deshalb vorübergehend ins Lädelizentrum, das bekanntlich ebenfalls von «Wohnen im Alter Thun» geführt wird. Dort bleibt sie fünf Monate, bis am 17. November 2015 eine kleine Wohnung im Martinzentrum frei wird. «Ich fühle mich hier sehr wohl, man schaut zu mir, alle sind nett.» Mit der Aussenwelt ist sie dank ihres Laptops verbunden, mit dem sie umgeht, als hätte es im Bereich der Technik nie etwas anderes gegeben. Eine unglaubliche Frau.

Von Bundesrat Wahlen angesprochen

Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile über ihr, wie sie sagt, «doch so normales Leben», das so gewöhnlich jedoch nicht ist. Wenn man sie nach schönen Erinnerungen fragt, kommt ihr sofort die EXPO 1964 in Lausanne in den Sinn. Dorthin war die Stadtmusik Burgdorf, wo ihr Vater Klarinetten-Solist war, an den offiziellen «Berner Tag» geladen, mit hübschen Ehrendamen. «Man erwartete von uns jungen Frauen, dass wir uns in Berner Trachten zeigen, das wollten wir aber nicht. Nach unendlichen Diskussionen setzten wir unsere Köpfe durch und gingen in schlichten weissen Kleidern, mit einer Schärpe verziert. Der Erfolg war überwältigend!» Der Vater von Verena Bohner war an diesem Tag selbstverständlich auch in Lausanne, spazierte mit seiner Tochter nach dem offiziellen Teil auf dem Gelände umher. «Auf einmal wurden wir von Bundesrat Wahlen angesprochen, damals Aussenminister. Er gratulierte meinem Vater zu seiner hübschen Tochter. Sie können sich vorstellen, wie stolz mein Vater war. Ich auch.» Und hätte es damals bereits eine Wahl zur «Miss Bern» gegeben, Verena Bohner wäre mit Sicherheit locker ins Finale gekommen – schauen Sie sich nur das Bild aus dem Jahr 1973 genau an. Eine hübsche junge Frau.

«Während dieser Zeit habe ich nicht oft zwei Stunden am Stück geschlafen.»

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