Leben im Alter: «Göver över de Straate.»
Leben im Alter: «Göver över de Straate.»
Er sitzt nach verschiedenen Unfällen und Operationen im Rollstuhl, mag sich darüber jedoch nicht beklagen und lebt im Domicil Selve Park auf seine Art in seiner eigenen Welt: der 86-jährige Ernst Scherz, der ein Leben lang Zahnarzt in Thun war. Sein Leben ist auch die Geschichte einer einzigartigen Liebe.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg
Geboren wird Ernst Scherz am 22. März 1931 an einem Sonntagabend um 20.00 Uhr, «zu Hause in der Nähe der Evangelischen Kirche an der Frutigenstrasse in Thun», weil Hausgeburten zu jener Zeit die Regel, nicht die Ausnahme sind. Vater Eugen ist Zahnarzt, Mutter Hedwig Lehrerin für Französisch. Dass sich seine Eltern überhaupt kennen lernten, war eher ungewöhnlich, denn Hedwigs Eltern hatten einen anderen Auserwählten für ihre Tochter. «Er war ein Witwer mit drei Kindern, sympathisch zwar, aber nicht wirklich das, was sich meine Mutter wünschte.» Per Zufall hatten sich die beruflichen Wege von Eugen und Hedwig bereits gekreuzt, sodass sie sich – selbst ist die Frau! – für einen «Anderen» entschied, zum Ärger ihrer Eltern. 1931 kommt Ernst auf die Welt, ein Jahr später sein Bruder Christian.
Seine Schulzeit verbringt Ernst Scherz im «Prögu» Thun. Das Gymnasium hingegen besucht er in Schwyz, bei den Jesuiten mit ihrer nachhaltigen Ausbildung, um einen Modeausdruck der Neuzeit zu gebrauchen. Die drei Brüder seiner Mutter hatten ebenfalls bereits diese Ausbildung und Lebenslehre absolviert. Allerdings erlebte Ernst Scherz diese Zeit in der Innerschweiz nicht mit grosser Freude, einiges passte ihm nicht. «Einmal habe ich den kleinen Larousse, das Wörterbuch für Französisch, aus dem Fenster geworfen, derart ist mir das Wörtli-Lernen verleidet, plus jamais ça!» Noch mehr störte ihn während seiner Zeit in der «doktrinären Zwangsschule» die Vorstellung, dass er dereinst die Praxis seines Vater übernehmen sollte. Viel lieber wollte er Mathematik und Physik studieren, ein nicht realisierter Wunsch, dem er heute noch nachtrauert.
Arzt und Zahnarzt
Die vorgesehene Rekrutenschule bei den Grenadieren kommt nicht zustande, weil er unregelmässig unter Bauchkoliken litt. Die Ärzte konstatieren eine Bauchtuberkulose, was sich erst 35 Jahre später als Fehldiagnose erweist – vielmehr leidet Ernst Scherz unter einer Allergie auf gewisse Milchsubstanzen, die ihn aber nicht gross behindert. Aus Opposition dem Vater gegenüber schreibt er sich an der Medizinischen Fakultät ein. Damals waren Zahnmedizin und Medizin noch getrennte Fakultäten, die erst 1977 zusammengeführt wurden. Schlussendlich schliesst Ernst Scherz aber doch sowohl als Dr. med. dent. wie auch als Dr. med. ab. Dr Füfer u s Weggli.
Die erste Zeit nach dem Studium verbringt der junge Zahnarzt bei der Zahnmedizinischen Fakultät der Universität Bern im Bereich «Hals, Nasen, Ohren» sowie bei Zahnarzt Müller an der Berner Marktgasse als Assistent. Das sollte ihm später noch zugute kommen, wie wir noch lesen werden.
Die jungen Studenten der Zahnmedizin üben an den Geräten, damals noch mit Transmissionsriemen…
Erinnerungen an Annelieses Kindheit.
Danzig, wo Anneliese Maria Aebersold aufwuchs. Hier der Bahnhof ohne elektrische Leitungen, denn die Züge fuhren damals mit Kohle.
Eine Bekannte aus der Aupair-Zeit in London: Mary Branson mit Thomas und Simon.
Übungsraum für angehende Zahnärzte.
Das Zähneputzen der Kinder wurde überwacht.
Anneliese Maria Aebersold
Blick zurück: 1949 – mit 18 Jahren – muss sich Ernst Scherz am Spital Thun operieren lassen. Er erinnert sich: «Eines Abends kommt eine Krankenschwester ins Zimmer, die ich zuvor noch nie gesehen habe. Da hat der Blitz bei mir eingeschlagen: die oder keine!» Das geht ihm durch den Kopf, als sie ihm eine «gute Nacht» wünscht, in der er allerdings kein Auge zumacht. Man stelle sich nun einmal vor, was drei, vier Wochen später passiert: Der junge Mann ist noch ein Teenager, als er seine Angebetete – jetzt von zu Hause aus – schriftlich eindringlich bittet, auf ihn zu warten, vor der Hochzeit wolle er noch studieren (als ob das eine Sache von ein paar wenigen Wochen wäre…).
Seine Fee stellt sich als Anneliese Maria Aebersold heraus, die im Baltikum als Tochter von Schweizer Auswanderern geboren und aufgewachsen ist. Ihre Brüder sind Käser, arbeiten in Deutschland und in annektierten Ländern. Ihr Vater ist Schiffsbauer in Danzig, die Mutter Litauerin, weshalb Anneliese einen «komischen Dialekt» spricht, wie Ernst Scherz sagt. «Einen Satz von ihr werde ich mein Leben lang nicht vergessen: ‹Göver över de Straate›, gehen wir über die Strasse», was ans Plattdeutsche erinnert. «Ännchen», wie er seine Frau nennt, «hat später aber perfektes Bärndütsch gesprochen.»
Er erzählt über Ännchens Kindheit im Osten, vor allem in Danzig. Wie die Kinder bei den Bombardierungen der Alliierten die Luftschutzkeller aufzusuchen hatten. Wie sie ihre Mutter beerdigen musste. Wie ihr Vater von den Sowjets verschleppt und nie mehr gesehen wurde. Besonders dramatisch sei eine Situation gewesen, als Sowjetsoldaten sechs Kinder aus einem Versteck zerrten und sie zur Strafe auf der Stelle erschiessen wollten. «Der Anführer war wohl Mongole, der vermutlich keine Ahnung hatte, wo er sich überhaupt befand. Nur dank des beherzten Eingreifens eines Polen konnte Verheerendes verhindert werden.»
Einmal mehr wird mir, dem Schreibenden dieser Zeilen, bewusst, was es heisst, mit alten Menschen sprechen zu dürfen: Wenn diese Generation einmal nicht mehr unter uns sein wird, bleiben uns nur noch die Geschichtsbücher, keine Zeitzeugen mehr. Und damit auch Historiker, welche die Geschichte aus Dokumenten beurteilen, ohne dass sie dabei gewesen wären, und ihre Einschätzung in einer Zeit vornehmen, die so völlig anders als «damals» ist.
Die Töchter Stephanie und Franziska.
Ernst Scherz heute im Domicil Selve Park Thun. Wir sehen ihn mit einem Bild seiner verstorbenen Frau vor einem Toskana-Kalender.
Das Ehefähigkeitszeugnis
Ernst Scherz ist nicht der Einzige, der ein Auge auf Anneliese geworfen hat. Als ein älterer Nebenbuhler – ein Arzt am Spital Thun – ihn einmal in Begleitung seiner Freundin sieht, versucht er, im grossen Stil beim Vater von Ernst zu intrigieren. Er spricht von einer «komischen Ausländerin», die so gar nicht zu Ernst passe. Die Intrige wirkt – Eugen Scherz findet plötzlich, dass sein Sohn Ernst sich vielleicht auch anderswo umschauen könnte. Was er aber nicht tut. Er stellt sich quer, beinahe wie vor vielen Jahren seine eigene Mutter.
Um Jahre später sein «Ännchen», wie er sie heute noch liebevoll nennt, heiraten zu können, bedarf es eines Ehefähigkeitszeugnisses. Zu diesem kommen Anneliese und Ernst erst nach einer langen Zeit und mit viel Geduld und Beharrlichkeit, weil die Situation in und um Berlin auch 12 Jahre nach Ende des Krieges unklar ist. Vor allem der sogenannte Viermächtestatus – die UdSSR, die USA, Frankreich und Grossbritannien haben eigene Sektoren – erschwert Administratives wie bei Anneliese Aebersold, einer «deutschen Staatsangehörigen». Der zu langen Rede kurzer Sinn: Über viele Umwege kommen Ernst und Anneliese doch noch zum wichtigsten Papier ihres gemeinsamen Lebens.
1957 heiraten sie, wohnen in der Thuner Bächimatt bei seinen Eltern, beziehen später eine 3-Zimmer-Wohnung im Sonnenfeld. Nach der Versöhnung mit dem Vater beginnt Ernst mit der Arbeit in dessen Zahnarztpraxis. 1959 kommt Franziska, 1960 Stephanie zur Welt. Die Zahnarztpraxis befand sich während 75 Jahren an der Freienhofgasse 5 in Thun, oberhalb von Comestibles Ernst, wo heute unter anderem die Nespresso-Boutique zu finden ist. Längst gibt es dort keinen Zahnarzt mehr.
Zahntechnik damals und heute
In der langen Zeit seiner beruflichen Tätigkeit bildet sich Ernst Scherz weiter, macht sich mit der jeweils neuesten Technik bekannt, unter anderem mit dem «Aerotor», einem Bohrgerät, das mit Pressluft arbeitet und ständig Geräusche – «Pffft, pffft, pffft» – von sich gibt, wenn man es betätigt. Auch Amalgam ist im Laufe dieser Zeit immer wieder ein Thema – eine umstrittene chemische Verbindung von Silber, Zink, Kupfer und Quecksilber für Zahnfüllungen. Damals bekommt der Patient beim Sitzen jeweils auch noch die Transmissionsriemen zu sehen, die den Bohrer antreiben. Unvorstellbar heutzutage…
Dank seiner Ausbildung in der Zahnarztpraxis an der Berner Marktgasse zeichnet sich Ernst Scherz in der Kieferchirurgie aus. Bei ganz schwierigen Zahnextraktionen – vor allem der Weisheitszähne – werden Kundinnen und Kunden von Zahnarztkollegen zu ihm überweisen. «Göht zum Scherz!» – aber das meistens erst, wenn sie selber es «verbockt» haben, wie er uns lachend erzählt. Ansonsten mag er sich nicht gross an Intermezzi erinnern, jedenfalls nicht an solche, über die zu schreiben sich lohnen würde. «Die Patienten waren offenbar zufrieden mit meiner Handwerkskunst, jedenfalls kamen sie immer wieder, schickten auch ihre Kinder zu mir.»
«Ich denke ständig ans Ännchen, mit der mich auch heute noch so viel verbindet.»
Eine aussergewöhnliche Liebe
Ernst Scherz sitzt nach vielen Operationen im Rollstuhl, überlegt viel, versucht sich an die Vergangenheit zu erinnern. Und immer wieder kommt er auf sein «Ännchen» zu sprechen, die 2012 nach kurzer, schwerer Krankheit stirbt. Er gibt sich indirekt die Schuld an ihrem Tod: «Ich wollte im Haus am Höhenweg, wo wir seit 1962 wohnten, etwas aufhängen, bin dabei gestolpert und mit Ännchen zusammengestossen, worauf sie Schmerzen in der Hüftgegend bekam.» Tage später stellt sich beim Arzt heraus, dass Anneliese unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist. Eine grosse Liebe und ihre ebenso einzigartige Geschichte findet ein unerwartet schnelles Ende.
Und wie gefällt es ihm heute im Domicil Selve Park? Er überlegt lange, bevor er antwortet. «Gut. Sehr gut. Ich werde sehr gut betreut. Mit den Mitbewohnenden habe ich aber keinen grossen Kontakt.»
«Wissen Sie», sagt er nachdenklich, «auf meine Mitmenschen mag ich ganz normal wirken, aber ich denke ständig ans Ännchen, mit der mich auch heute noch so viel verbindet.» Und er erinnert sich an die Toskana, «wohin wir mit meinem ersten selber verdienten Geld gefahren sind». Unterwegs fotografiert er Schiffe, die seine Frau an ihre Kindheit erinnern, war ihr Vater doch Schiffsbauer in Danzig. Die Toskana bleibt die grosse Liebe von Ernst und Anneliese Scherz. Jedes Jahr fahren sie in die Provinz Grosseto. Genauer gesagt ins Hotel Grifone, mitten in einem Pinienwald, ganz nahe beim Strand. Auch 2017 ist die Toskana in seiner kleinen Wohnung allgegenwärtig, wie wir auf dem Bild sehen. Samt einer Aufnahme seiner grossen Liebe, von «Ännchen»