Dora Simmen: Eine Frau, die allem etwas Positives abgewinnen kann
Dora Simmen: Eine Frau, die allem etwas Positives abgewinnen kann
Wäre sie der Polyneuropathie wegen nicht an den Rollstuhl gebunden, würde man Dora Simmen nie und nimmer im Martinzentrum vermuten. Sie ist geistig vollkommen klar und wach. Ihre Augen strahlen gleichzeitig Schalk und Liebevolles aus. Aber nicht nur deshalb bleibt eine Begegnung mit ihr unvergessen.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg
Geboren ist Dora Simmen 1932 im Frauenspital Bern, ihre Kindheit hat sie in Muri bei Bern verbracht, an der Thunstrasse, «zwischen Krone und Sternen», wo der Vater einen Schuhmacherladen führt, ihre Mutter ist Verkäuferin beim Konsum. Dora Simmen wächst mit ihrem Bruder wohlbehütet auf, aus einem ganz besonderen Grund. Einer ihrer Brüder stirbt 1925 bei der Geburt, ein weiterer 1931 an einer Hirnhauterkrankung. Eines behält sie ganz besonders in Erinnerung, nämlich jene Zeit, in der ihr Vater Aktivdienst leisten und ihre Mutter das Geschäft mit einem Lehrling führen muss.
Erste Stelle im Seeland
Nach der Schulzeit besucht Dora Simmen das Seminar Monbijou und Marzili, um später Lehrerin zu werden. Im Nachbardorf Allmendingen bewirbt sie sich erstmals um eine Stelle. Und erinnert sich: «Ich musste mich bei allen fünf Mitgliedern der Schulkommission einzeln vorstellen…» Die Anstellung klappt aber nicht, sodass Dora Simmen von 1951 bis 1953 eine Stelle in Brüttelen im Seeland annimmt, im «Kantonalen Heim für schwer erziehbare Mädchen».
Schwer erziehbar?
Was muss man sich vor über 60 Jahren unter «schwer erziehbaren Mädchen» vorstellen? Die Nachfrage erweist sich als aufschlussreich: Als solche gelten einerseits Kinder, deren Eltern mit einem «vormundschaftlichen Beschluss» leben. Oder, anders ausgedrückt: Einem Teil der Kinder, die in Brüttelen zur Schule gehen, ist ein Leben zu Hause nicht mehr zuzumuten, man muss sie schützen. Andere Kinder wiederum sind verhaltensgestört und müssen beobachtet und besonders betreut werden. Zum Beispiel jenes Mädchen, das Kinderwagen, die vor einem Geschäft stehen, wegschiebt und damit spazieren geht. Ein anderes wiederum fügt sich selber Schnittwunden zu, verletzt sich absichtlich. «Ich habe sehr gerne in Brüttelen gearbeitet», sagt Dora Simmen, «zwar war die Herausforderung mit diesen Kindern gross – dazu noch gleich bei meiner ersten Stelle –, aber die Möglichkeit, den Kindern helfen zu können, ein sehr gutes Gefühl.»
1953 kommt der Wechsel nach Riehen/BS, als Stellvertretung in ein Heim für Taubstumme, wie das damals hiess. Es ist eine interessante, aber nur kurze Zeit. Der Heimleiter führt die Schule sehr konservativ. Beim Vorsprechen in Hochsprache mussten die Kinder von den Lippen ablesen und nachsprechen, «und das nicht nur während der Unterrichtsstunden, sondern vom Aufstehen bis kurz vor dem Einschlafen. Das galt für alle, für Betreuer wie Kinder gleichermassen.» Dora Simmen arbeitet nur wenige Wochen dort und nimmt dann vorübergehend Stellvertretungen im Bärnbiet an.
Ehefalle Bigenthal
Es ist eine turbulente Vorgeschichte, die zur Anstellung in der Schule Bigenthal führt, in welcher vor der Heirat Entscheidendes im Leben von Dora Simmen geschieht: Sie unterrichtet dort, wohnt im oberen Stockwerk des alten Schulhauses, wo auch noch ein anderer Lehrer zu Hause ist. Der entscheidende Satz aus jener Zeit ist wohl: «Ich würde dir deine Wohnung aufheizen, wenn du mir dafür jeweils das Zmorge machst …», von Arnold ausgesprochen. Der zu langen Rede kurzer Sinn: 1955 wird geheiratet, als sich herausstellt, dass aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft Liebe geworden ist. 1956 kommt Esther zur Welt, 1957 Martin, 1962 Michael und 1967 Matthias.
Es ist keine einfache Zeit in Bigenthal: Ende Monat bleibt kaum etwas übrig, sodass sich die Familie 1965 entschliesst, nach Thun zu zügeln, wo Arnold aufgewachsen ist und die Lehrer besser entlöhnt werden. Sie kaufen dank glücklicher Umstände ein Haus an der Talackerstrasse. Weil er das Klavierdiplom besitzt, erteilt Arnold auch Musikstunden. Seine Begabung zur Musik gibt er seinen Kindern weiter, wovon vor allem Matthias profitiert, der 1987 seine Ausbildung als Klavierbauer und Stimmer abschliesst. Aber auch Esther, Martin und Michael, letzterer arbeitet als Opernsänger, sind in ihrem Leben mit der Musik stark verbunden. Matthias Simmen kann das Haus seiner Grossmutter an der Kyburgstrasse kaufen, das aber sein Alter nicht verheimlichen kann, sodass er es abreissen und neu entstehen lässt. Dora Simmen verkauft das 100-jährige Haus an der Talackerstrasse und zieht als Bewohnerin in das neue Haus an der Kyburgstrasse, wo heute auch das Klavierbau-Geschäft von Matthias Simmen zu finden ist. Den Einzug ins neue Haus wird Arnold Simmen nicht mehr erleben, er stirbt am 1. Juni 2008 nach kurzer, schwerer Krankheit. Nun kommt für Dora Simmen die Zeit der Erinnerungen: Die Nacht auf dem Stromboli mit den tosenden Vulkanausbrüchen, der Flug mit dem Deltasegler als Passagierin und der Erkenntnis «von oben sieht alles anders aus», sowie von kürzeren und längeren Reisen nach Russland, insbesondere nach Kaluga.
Engagement in Russland
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kam es 1991 zu einer ersten kulturellen Begegnung, als der Kammerchor Kaluga in Thun mit Aufführungen zu begeistern wusste. Die Mitglieder waren bei Gastfamilien in und um Thun untergebracht. Es folgte der Gegenbesuch in Kaluga – ca. 200 Kilometer südlich von Moskau –, wo die Thunerinnen und Thuner herzlich aufgenommen wurden. Für Dora Simmen und ihren Mann blieb es nicht bei dieser einen Reise, mehrere Male hielten sie sich danach in Russland auf, brachten immer wieder Hilfsgüter mit. «Am schlimmsten», so erinnert sie sich, «war es 1992, da fehlte es an allem.» Vier lange Tage wartete Dora Simmen mit anderen Leuten aus Thun auf den Hilfstransport, der auf dem Strassenweg von der Schweiz aus nach Kaluga unterwegs war, beladen mit Lebensmitteln, Kinderkleidern, Medikamenten. «Die Thuner Bevölkerung hat damals grossartig mitgemacht. Die Dankbarkeit der Menschen über die Hilfssendung werden wir, die wir vor Ort waren, niemals vergessen.»
Kalugas Kammerchor in Thun
Nicht nur eitel Sonnenschein
In zunehmendem Mass macht sich bei Dora Simmen Polyneuropathie bemerkbar, beeinträchtigt sie mehr und mehr. «Ich konnte immer weniger weit laufen, zum Schluss half mir auch der Rollator nicht mehr.» Eine grosse Unterstützung ist ihr in dieser Zeit Enkelin Fabienne, die nebst Pflege und Betreuung auch dafür schaut, dass ihre Grossmutter eine kleine Wohnung in einem gut geführten Altersheim findet. «Mit meiner Krankheit war ich in den eigenen vier Wänden auf viel fremde Hilfe angewiesen», sagt sie, «hier im Martinzentrum fühle ich mich wohl, werde gut betreut. Und schauen Sie einmal aus dem Fenster: Eiger, Mönch und Jungfrau kann ich von hier aus sehen!»