Peter Kropf: Ende gut, alles gut? Nicht ganz.

Peter Kropf: Ende gut, alles gut? Nicht ganz.

Peter Kropf: Ende gut, alles gut? Nicht ganz.

Liebe Leserinnen und Leser, das, was Sie jetzt lesen werden, das ist auch ein Stück Schweizer Geschichte, das noch immer zu gerne verdrängt wird. Es sind nämlich keine 100 Jahre her, da wurden Kinder «von Amtes wegen» von ihren Eltern getrennt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, das sei dahingestellt. Sicher ist hingegen, dass diese Verdingkinder, wie sie genannt wurden, keine schöne Kindheit hatten. Einer, der viel zu erzählen hat, ist Peter Kropf, der heute im Martinzentrum Thun lebt und einige Jahre zuvor regelrecht «aufgeblüht» ist, wie er uns sagt. Aber lesen Sie selber.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: zvg

Die Hohle Gasse ist ein künstlich gebauter Hohlweg zwischen Küssnacht und Immensee. In der Hohlen Gasse soll Wilhelm Tell 1307 den habsburgischen Landvogt Hermann Gessler erschossen haben. In Küssnacht am Rigi, an der Unteren Hohlen Gasse, wird Peter Kropf am 22. Februar 1935 geboren. Er wird mit 14 Geschwistern aufwachsen, «sächs Buebe, dr Räscht sy Meischi gsi», rechnet er nach, zwischen 1928 bis 1945 geboren. Der Vater ist Maurer, gewohnt wird, nicht unüblich zu jener Zeit, wo der Vater gerade Arbeit findet, «är isch dr Arbeit nachgange». Peter Kropf wird nicht in der Familie aufwachsen.

 

Ein Müntschi mit auf den Lebensweg

Auf der Suche nach Arbeit landet die Familie – sie sind Schwarzenegger – in Schwarzenegg oberhalb von Thun. Der Zweite Weltkrieg bricht aus, viele Männer werden zur Generalmobilmachung befohlen, nicht so Peters Vater, der als Mineur beim Bau eines Kraftwerks mithilft. «Sie können sich vorstellen, dass es zum Leben vorne und hinten bei uns nicht gereicht hat», erinnert sich Peter Kropf. Den Vater sieht die Familie kaum, er bleibt lange weg – und kommt er nach Hause, «so hatte es in der Zwischenzeit ein zusätzliches Kind gegeben».  Alle 15 Kinder werden deshalb fremdplatziert, wie das heute heisst. Peter Kropf sagt es klar: «Ig bi mit vieri verdingt worde.» An den erzwungenen Abschied von der Mutter erinnert er sich noch genau: «Sie war ganz schwarz gekleidet und hat mir ein Abschiedsmüntschi mit auf den Weg gegeben.» Auf den Lebensweg muss man hier korrekterweise sagen. «Und Adieu hat sie mir noch gesagt.» Was sie Peter verschweigt: Kurz zuvor ist einer seiner Brüder verstorben. Peter wird seine Mutter viele Jahre nicht mehr sehen. Der vierjährige Peter kommt zu einem Bauern nach Sigriswil. Seine Frau und er haben keine eigenen Kinder, also sieht man im Kleinen vor allem eine Hilfskraft, die, je älter sie wird, je schwerere Arbeiten auf dem Hof übernehmen kann. «Nie hat mich die Frau jemals in den Arm genommen, Wärme habe ich während der ganzen Zeit nie verspürt.» In die Schule geht Peter Kropf nach Sigriswil. Auch hier ist er auf sich allein gestellt, mit einem Verdingbueb will niemand etwas zu tun haben. Auch bei den Hausaufgaben hilft ihm niemand.

Arbeit in der Käserei

Ein Berufsberater rät Peter, nach der Schulzeit in einer Käserei zu arbeiten, ohne dass er dort allerdings eine Ausbildung absolvieren könnte. So geht er in die Käserei Rüeggisberg. Der 15-Jährige ist klein gewachsen, was die Arbeit alles andere als erleichtert. «Mängisch han ig nid emau übers Chessi chönne übereluege, won ig ha müesse putze.» Er muss mit dem Käsermeister auch Käselaibe in den Keller zum Reifen bringen, die gegen 100 kg schwer sind. Peter schafft das einfach nicht mehr, er ist körperlich überfordert, sodass er Mäusegift schluckt, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Er überlebt. Fortan arbeitet Peter als Knecht in Höfen bei einem Bauern. Zwei Vormunde schauen zu ihm, ein Primar- und ein Sekundarschullehrer. Genauer gesagt: Sollten zu ihm schauen – was beide nicht tun. Mit dem Bauer ist abgemacht, dass er Peter pro Monat 82 Franken für seine harte Arbeit bezahlt. «Nie habe ich auch nur einen Rappen gesehen, die Vormunde haben weggeschaut, sie hatten vermutlich Wichtigeres zu tun. Ich konnte nirgends hingehen, hatte kein Geld.»

«Fertig! Du machsch e Lehr!»

Es kommt der Tag, an dem Peter Kropf «nach Hause» kann, denn seine leiblichen Eltern sind in ein Haus in Wannenfluh nahe Ramsei gezogen, das dem Grossvater gehört. Der Vater von Peter ist erschüttert über die Aussagen seines Buben. Und er reagiert auch: «Fertig! Du machsch e Lehr!» So beginnt er seine vierjährige Ausbildung zum Giesser in der Giesserei Oberburg. Während seiner Lehrzeit zügeln die Eltern weiter nach Welschenrohr im Solothurnischen. Peter kann bei seinem Lehrmeister in Zollbrück wohnen – bei Kost und Logis –, damit er die Ausbildung abschliessen kann. 

Zwischendurch muss er in die Rekrutenschule. Man staune: «Als Grenadier nach Losone, dr chly Kropf!», lacht er. 

Nach der Ausbildung zieht es ihn in eine Giesserei in die Ostschweiz, wo er im Akkord arbeitet, aber nicht wirklich etwas verdient, sodass er ins Bärnbiet zurückkehrt, nach Thun, wo er in der Giesserei eine Anstellung findet. Peter Kropf bekommt Lungenprobleme, muss seinen Beruf aufgeben. Er geht auf den Bau, zuerst zu Hirschi in Heimberg, dann zu Messerli in Thun, wo er beim Bau eines Kraftwerks beschäftigt wird. Schon vorher lernt er seine spätere Frau kennen, Verena Theresa. Sie ist 19, er 20, als sie heiraten wollen. «War das nicht ein bisschen sehr früh?», bekommt er vom Schreibenden zu hören. «Mir hei dänk müesse!», kommt mit einem breiten Schmunzeln zurück. Vor allem aber braucht Peter Kropf die Unterschrift seines künftigen Schwiegervaters, weil Verena damals noch nicht volljährig ist.

«Weil wir eine Familie gründen wollten, habe ich schon vorher mit diesem Argument um eine Lohnerhöhung gebeten, aber die Summe war wohl zu unverschämt.» Konkret: Peter Kropf verdient Fr. 2.10 in der Stunde, wagt sich nach drei Franken zu fragen. «Der Personalchef ist glatt durch die Decke», resümiert er, «und ich durfte mir eine neue Stelle suchen.»

Aufblühen im Alter

Die Anstellung findet er auch, bei Kanderkies in Thun, wo er auf den Beruf eines Kranführers umgeschult wird. Verena und er wohnen in dieser Zeit im «Choleweiher» Thun. Im Laufe ihrer Ehe bekommen sie drei Kinder: Roland, Barbara und Silvia, mit denen Peter Kropf heute noch eine tolle Beziehung pflegt. Nach einigen Jahren bei der Kanderkires wechselt er als Hochbaukranführer zuerst zu Hirschi Heimberg, anschliessend zum Baugeschäft Messerli in Steffisburg, wo er – die Familie inzwischen dort wohnhaft – 36 Jahre bleibt, bis zu seiner Pension. Diese Gelegenheit benutzt er, um mit seiner Frau an die Pestalozzistrasse nach Thun zu ziehen, in eine Wohnung der Genossenschaft Schönau. «So nebenbei» ist Peter Kropf auch weiter tätig, «verfährt» Beton in Oberdiessbach… 

Der frühere Verdingbueb ist Mitglied im Jodlerklub Seerose Gwatt und Flüehblüemli Oberhofen. Aber nicht nur das: Er spielt und führt Regie bei den Theateraufführungen. Diese Arbeit erfüllt ihn nun ganz, vor allem nach dem Ableben von Verena 2007. Er stürzt sich nach dieser schweren Zeit geradezu in die Arbeit, liest ein Stück nach dem anderen, auf der Suche nach Passendem für die Theateraufführungen.

Und er ist kein Amateur, das zeigt folgendes Beispiel: Gurten- und Zermatt-Regisseurin Liva Anne Richard – nicht zuletzt dank ihrer Geschichte und Inszenierung von Dällebach bekannt – hat dem Schreibenden einmal gesagt, ob ein Regisseur etwas tauge, liesse sich auch daran erkennen, ob bei Massenszenen augenfällig sei, dass die Spielenden genau wüssten, wohin sie zu gehen hätten oder sich wie ein Hühnerhaufen benehmen – jeden Tag ein bisschen anders. Peter Kropf erzählt Ähnliches: «Ich musste den Spielern klar sagen, wie sie auf der Bühne zu stehen haben und in welche Richtung sie sich bewegen müssen, alles andere ist Mumpitz.» Wie wahr. Wenn er sich für ein Stück entscheidet, liest Peter Kropf Seite für Seite das Drehbuch durch, mehrmals, macht sich auf der Rückseite der Blätter bereits erste Notizen zur Aufführung, skizziert auch Bühnenelemente, die in Frage kommen könnten. Kein Wunder also, hat er mit seiner Arbeit Erfolg, wie zum Beispiel bei der Aufführung von «Gemschelialp», von der wir einige Bilder sehen. Und er selber – hat er nie ein Theaterstück geschrieben? Doch, hat er. «Dr Vagant vor em Gricht», aber dieses Stück befindet sich in einer Schublade, verstaubt allmählich. 

Wenn Peter Kropf über diesen Lebensabschnitt erzählt, kommt er so richtig in Fahrt, man spürt eine Lebensfreude in ihm. Überhaupt ist er einer, dem der Schalk in den Augen zu sehen ist, er ist auch witzig, echt unkonventionell im Gespräch, «Gället, ig bin e Kurlige…», ein richtiger Aufsteller, wie wir über das Theater reden. Schön, das auch bei ihm zu erleben.

Im Martinzentrum

Nach dem Tod seiner Frau haushaltet Peter Kropf allein an der Pestalozzi­strasse. Aufgrund seiner frühen Leidensgeschichte meldet sich das Herz, «es het grünnt…», sodass ihm eine Herzklappe eingesetzt wird. Trotzdem kommt es vor, dass er eine Blutleere verspürt – und Unwohlsein, ein Grund, weshalb er das Autofahren aufgibt, «bevor ich noch in einen Menschen fahre». Zu Hause kommt es dann einmal zu einem schwereren sogenannten «Unfall im Haushalt», als er von einer kleinen Leiter stürzt und sich einiges an Verletzungen zuzieht: Achsel kaputt, später wird man in der Röhre auch merken, dass das Becken ebenfalls etwas «abbekommen» hat, wie er sagt.

Hat er seine Geschwister, von denen 9 der ursprünglich 15 noch leben, eigentlich nie mehr getroffen? Doch. Nach zweijähriger Suche ist es vor vielen Jahren gelungen, ein Familientreffen zu organisieren. Und, wie war das Gefühl, Schwestern und Brüder wiederzusehen? «Es war eine Zusammenkunft unter fremden Leuten, wir hatten ja nichts Gemeinsames, jeder und jede die eigene Lebensgesichte.» Seit einigen Monaten wohnt Peter Kropf im Martinzentrum – und ist sehr glücklich. Er ist ein geselliger Mensch, und ein glänzender Unterhalter, man könnte ihm stundenlang zuhören. Hoffentlich noch recht lange.

 

 

 

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