Leben im Alter: Eine einzige Zahnbürste für die ganze Familie
Leben im Alter: Eine einzige Zahnbürste für die ganze Familie
Aufgewachsen ist Yvonne Hartmann in Hilterfingen. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann, Karl Georg Niemann, im Domicil Selve Park Thun. Zwischen diesen beiden Stationen im Berner Oberland liegt eine Reihe eher ungewöhnlicher Erlebnisse im St. Gallischen …
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg
Viel unterschiedlicher könnten die beiden Lebensläufe des Ehepaars Karl Georg Niemann und Yvonne, geborene Hartmann, nicht sein. Bevor wir uns ihren gemeinsamen Zeiten zuwenden, ein Rückblick auf ihre Kindheit und Jugend.
Folgsam, auch als Volljährige
Yvonne Hartmann wird 1939 geboren, in Oberhofen, nahe der Gemeindegrenze zu Hilterfingen. Das Haus, als «Hortensie» bekannt, steht heute noch, inzwischen als «Sunneblueme». Der Vater stammt aus Porrentruy, die Mutter aus Biel, Yvonne wächst zweisprachig auf, «bilingue». Es folgt der Umzug nach Hilterfingen, an die Dorfstrasse 17, ins Haus des ehemaligen Konsums. Dort kann ihr Vater ein eigenes Atelier betreiben, als gelernter Sattler und Tapezierer, derweil die Mutter Vorhänge näht. Nach ihrer Lehre als Kaufmännische Angestellte bei «Christen» in Bern, dessen Türen bereits vor Jahrzehnten geschlossen haben – ähnlich vielen anderen Unternehmen in der Bundesstadt –, wandert sie sozusagen auf Zeit aus.
Es folgt ein Aufenthalt in London, um die Sprache Shakespeares zu erlernen. Aber nicht nur: Weil sehr interessiert, gelingt es ihr, eine Stelle als Au-pair zu bekommen, sodass Gesellschaft und Sprache miteinander einhergehen. Und eigentlich… eigentlich möchte Yvonne Hartmann noch länger als abgemacht in England bleiben. Ihr Vater aber schickt ihr das Retourticket, was nichts anderes heisst, als der Insel «farewell» zu sagen. «Ich war halt eine folgsame Tochter, auch noch als Volljährige», sagt sie heute mit einem Lächeln. Zurück in der Schweiz, nimmt sie eine Stelle bei Kölliker in Wabern an, einer Firma, die mit ihren Produkten den Bürobedarf abdeckt.
Karl Georg Niemann als Sanitätssoldat bei der Marine.
Das Haus an der Dorfstrasse 17 in Hilterfingen..
Yvonne Hartmann, damals
Eine Bekannte aus der Aupair-Zeit in London: Mary Branson mit Thomas und Simon.
Karl Georg Niemann, damals
Das Zähneputzen der Kinder wurde überwacht.
Kriegsteilnehmer
Karl Georg Niemann seinerseits wird 1926 in Vechta/Oldenburg geboren, im Oldenburger Münsterland. Der Vater ist Facharzt HNO, als Abkürzung für Hals, Nasen, Ohren. Nach dem Grundgymnasium wird Karl Georg Niemann Marinesoldat. Die Rekrutenschule bringt er als Sanitäter in Stralsund hinter sich, einer Stadt im südlichen Ostseeraum. Die Kadettenausbildung absolviert er danach auf der «Hansa». Nach verschiedenen Zwischenstationen wird er als Sanitäter an die Ostfront beordert, wo die deutschen Truppen zwischen den von Osten heranrückenden Sowjets und den von Westen her vorrückenden Alliierten in die Falle geraten. Karl Georg Niemann kommt als Kriegsgefangener auf die Insel Fehmarn und wird von den Alliierten erst 1946 freigelassen.
Als 20-Jähriger geht er wieder nach Vechta zurück – das zum Teil zerstört ist – und holt dort sein Abitur nach. Es folgt die Immatrikulation an der medizinischen Fakultät in Kiel, wo das Studium für ihn allerdings nur ein Semester dauert. Karl Georg Niemann entschliesst sich nämlich, nach Göttingen zu gehen und dort Zahnmedizin zu studieren. In Göttingen lernt er den Theologieprofessor Zimmerli kennen, der eine entscheidende Weiche im Leben des Deutschen stellt: Durch eine Familienbande weiss Zimmerli, dass in Hilterfingen der lokale Zahnarzt Füllemann einen Assistenten sucht, sodass Niemann Ende der Fünfzigerjahre von Göttingen an den Thunersee zieht.
Zahnpraxis auf vier Rädern.
1+1=2
Yvonne ist bei der Segelschule Hilterfingen keine Unbekannte, ihr Vater hilft dort oftmals bei Reparaturen an Booten und Segeln mit. Karl Georg seinerseits zieht es auch auf und an den See. Man lernt sich kennen, kommt sich näher. Der langen Rede kurzer Sinn: Am 17. Juli 1962 wird geheiratet. Und das hat einen besonderen Grund (aber vielleicht nicht jenen, den Sie jetzt vermuten): Yvonne Hartmann ist zu jener Zeit der Meinung, dass in ihrem Leben etwas «gehen» müsse: «Wir wollten weg von Hilterfingen. Aber ohne Trauschein hätte mein Vater das nie und nimmer erlaubt.» Und weil wir wissen, dass Yvonne eine Folgsame ist, tut sie wie erwartet. Während unseres Gesprächs schmunzelt Karl Georg Niemann an dieser Stelle…
Item. Weil deutscher Staatsangehöriger (inzwischen längst Schweizer Staatsbürger), kann der Zahnarzt damals nicht überall in der Schweiz praktizieren. Einen Ausweg findet er im Kanton St. Gallen, wo zu jener Zeit ein «kantonal fahrender Schulzahnarzt» gesucht wird, offiziell, von behördlicher Seite. Und so zügeln Herr und Frau Niemann nach Wattwil, wo sie während vieler Jahrzehnte wohnen werden, im Laufe der Zeit mit Familienzuwachs, mit Marc, Barbara und Martin – Yvonne Niemann als Hausfrau und Mutter, ohne dass sie nebenbei berufstätig ist.
Was ist denn Zahnhygiene?
Ein kantonal fahrender Schulzahnarzt. Wie muss man sich denn das vorstellen? Karl Georg Niemann erinnert sich: «Unsere Zahnarztpraxis auf vier Rädern – wir hatten zu Beginn ein englisches Fahrzeug, später einen schönen Mercedes – war mit allem ausgestattet, was ein Zahnarzt benötigte.» Will heissen: Röntgenapparat, Zahnarztstuhl mit entsprechenden Geräten, Kompressor und vielem anderen. Ein Geheimnis aber hat die ganze Sache, wie der heute 90-Jährige andeutet: Er selber hat nur einen Fahrausweis «bis 3½ Tonnen», das Fahrzeug indes bringt ein paar Kilogramm mehr auf die Waage … «Als wir den Mercedes erhielten, habe ich dann aber schleunigst die Lastwagenprüfung gemacht», lacht er.
Angefahren werden ausschliesslich Ortschaften ohne eigene Zahnarztpraxis. Dort werden sogleich Wasser, Abwasser und Strom ans Fahrzeug angeschlossen. In jenen Dörfern – grösstenteils in landwirtschaftlichen Gebieten – müssen die Schülerinnen und Schüler gemäss Stundenplan an diesen bestimmten Tagen ihre Beisserchen zeigen und begutachten lassen.
Karl Georg Niemann nimmt bei seinen Erinnerungen kein Blatt vor den Mund: «Zahnhygiene war in den Sechzigerjahren – vor allem auf dem Lande – mehr oder weniger ein Fremdwort, mit entsprechenden Resultaten. In vielen Haushalten gab es damals nur eine einzige Zahnbürste. So kam etwa ein Bub mit dreckigen Zähnen zur Kontrolle. Grund: ‹Mein Vater hat unsere Zahnbürste mit in den Militärdienst genommen.›»
Zelt. Klappanhänger. Wohnwagen. Das sind die Stationen, die der Familie Spring das Reisen ermöglichen.
Bessere Zähne, schlechtere Zahlen
Das Prozedere für die Zahnbehandlung ist denkbar einfach: Jedes Kind bekommt einen Zahnrapport mit den zu treffenden Massnahmen. Dieses Papier muss es zu Hause unterschreiben lassen – vielfach über Mittag –, sodass noch am gleichen Nachmittag, spätestens aber am darauffolgenden Tag mit der Behandlung begonnen werden kann. Jede Ortschaft wird einmal im Jahr aufgesucht. Dank des «kantonal fahrenden Zahnarztes» gibt es je länger je weniger zu tun, weil die Kinder einerseits wissen, wie sie ihre Zähne korrekt zu pflegen haben, und andererseits die wichtigsten Eingriffe bereits hinter ihnen liegen. Apropos Eingriffe: Wurden damals viele Zähne gezogen? «Ja, das kam schon mal vor, aber natürlich wurden Zahn und Wurzel vorher betäubt, wir waren ja nicht mehr im Mittelalter …», sagt Karl Georg Niemann.
Wer bezahlte jeweils die Kosten? «Der Kanton hat unseren Bus gekauft, die Kosten für die Behandlung der Kinder mussten die Eltern – sofern sie dazu finanziell in der Lage waren – übernehmen.»
Je besser die Zähne der Kinder, desto weniger Arbeit für die fahrende Zahnarztpraxis – und desto defizitärer. Heute gibt es keine solchen Behandlungsfahrzeuge mehr.
Nach der Pensionierung von Karl Georg Niemann überlegt sich das Ehepaar, wie es weitergehen soll. Yvonne Niemann schmunzelt: «Wir hatten schon eine Vorstellung, was wir wollten – und was nicht. Interessanterweise meldete sich unser Sohn Martin mit der Neuigkeit, dass es in Thun genau das gebe, wonach wir suchen würden – und erst noch in seiner Nähe.» Yvonne Niemann ist sich sicher, dass alle drei ihrer Kinder hinter dem Vorschlag von Martin stehen …Das Haus in Wattwil wird verkauft – Karl Georg Niemann fällt das nicht leicht – und im März 2015 zügelt das Ehepaar in den Selve Park, wo es heute von seiner modernen und hellen Wohnung im 7. Stock die Landschaft um Thun wunderbar überblicken kann.
Segeln und Wasser
Während unseres Gespräches über ihr Leben kommen Yvonne und Karl Georg Niemann immer wieder auf das Segeln zu sprechen, schliesslich haben sie sich in der Segelschule Hilterfingen kennengelernt. Die Beiden besitzen zwar den B-Schein, aber während ihrer Ferien im Ausland wird immer mit einem Skipper gesegelt, um ein Risiko auszuschliessen. «Nur einmal im Jahr zu segeln, reicht auf dem offenen Meer nicht aus, dazu fehlt die Erfahrung, vor allem in ungewohnten Situationen.»
Die Niemanns erinnern sich aber auch gerne an die Fahrten mit Hausbooten in Holland, Belgien, Frankreich und Deutschland. Sie selber haben nie ein Boot gekauft, sondern diese jeweils gemietet. «Gechartert», stellt Yvonne Niemann richtig. «Und so sind wir halt zu ‹Schleusen-Schiffern› mutiert», kommt abschliessend von ihrem Ehemann, mit weit über 1000 Schleusenaus- und -einfahrten. Und der richtigen Einfahrt vor 54 Jahren.
So kam etwa ein Bub mit dreckigen Zähnen zur Kontrolle. Grund: «Mein Vater hat die Zahnbürste mit in den Militärdienst genommen.»