Leben im Alter: Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.
Leben im Alter: Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.
«Nein», lacht Lotti Spring, sie sei «nicht fromm», was insofern kein Widerspruch sein müsste, hat die 81-Jährige, die seit etwas über einem Jahr im Alters- und Pflegeheim Sonnmatt Thun lebt, doch ihr Leben lang viel Gutes getan und sich in den Dienst vieler Mitmenschen gestellt.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, Mike Kaufmann, Skiclub Axalp, zvg
Wenn wir nach dem Grund dieser Lebenseinstellung suchen, finden wir ihn möglicherweise in Schönbühl, wo Lotti Spring – geborene Hubacher – aufwächst, am 8. Mai 1940 zur Welt gekommen. Ihr Vater ist ein hoher Offizier der Schweizer Armee, Stallmeister im Sand und für die Pferde zuständig. Er ist ein strenger, aber gerechter Mann mit einem grossen Herz, wie wir ganz zum Schluss dieser Reportage noch feststellen werden. Lotti Spring erinnert sich noch gut daran, wie sie einmal zur Strafanstalt Thorberg sozusagen zu Besuch gehen durfte, weil der damalige Direktor ein Bekannter ihres Vaters war. «Vater sagte mir, ich hätte aus Respekt alle Leute zu grüssen, die ich auf dem Thorberg sehen würde, weil man nicht als Mörder zur Welt kommt», erzählt sie uns mit ihrem vifen Blick und grossartigen Erinnerungsvermögen. Das Leben mache halt gewisse Menschen zu Mördern, die nicht das Lebensglück anderer hatten.
Schwere Unfälle in der Kindheit
Sie geht auch in Schönbühl zur Schule, bezeichnet sich als die «Dümmste» in der Familie. Der Grund verführt zu einem Schmunzeln: Vor allem ihre beiden «Brüetsche» seien hochintelligent gewesen. Aber nicht bloss das: Kaum zu Hause angekommen, hätten sie sich im Gegensatz zu Lotti in ihre Schulbücher vertieft – mit dem Resultat, dass die beiden ständig 6er mit nach Hause gebracht hätte, Lotti im Schnitt aber nur mit ... 5,8.
Dann beginnt es aus ihr herauszusprudeln, sie erzählt nicht chronologisch aus ihrem Leben, sondern berichtet über das, was ihr gerade so einfällt. Um ihr gerecht zu werden, entschliesse ich mich, ihre Vita nicht chronologisch zu ordnen, sondern Sie als Lesende in eine Welt zu entführen, die so gewöhnlich nicht ist. Zeitepochen nebensächlich.
Als Meitschi meint es das Schicksal nicht gut mir ihr: Mit «Vieri» hört sie einem Bauer nicht zu, der ihr befiehlt, sie solle in der Scheune dort auf ihn warten, wo sie gerade steht. Lotti folgt ihm unerlaubterweise in die Höhe, er übersieht und stösst sie in die Tiefe, wo sie mit einem doppelten Schädelbruch liegen bleibt. Jahre später wird sie auf dem Velo von einem rücksichtslosen Töfffahrer «über den Haufen» gefahren. Schwere, zum Teil offene Brüche sind die Folge, sie gerät in der Schule in Rückstand, macht dies aber wieder wett, weil ihr Vater will, dass sie die beiden letzten Schuljahre im Welschland verbringt, um vor allem sprachlich aufzuholen. Heisst: zwei Jahre in Les Verrières im Val de Travers. Oui, Papa.
Toni Spring aus Reutigen.
Wenn die Enkel plötzlich erwachsen sind: Ruben, Jean-Luc, Martina und Jöel.
Unter Blinden
Lotti Spring kümmert sich Zeit ihres Lebens um andere Leute. Sie ist unter anderem ausgebildete Schwimmlehrerin, betreut deshalb Blinde in ihren Ferienlagern, wo sie selber erfährt, dass man auch ohne zu sehen, vieles entdecken kann. Blindenschrift erlernen ist für sie Ehrensache. Ein Erlebnis bleibt ihr unvergesslich: Als sie einmal mit einer Gruppe von Blinden im Wald ist, erklärt sie ihnen, wie eine kleine Wiese mit «Geisseblüemli» schön gelb aussieht. Eine Frau widerspricht ihr: «Das kann nicht sein.» – «Und wieso nicht?» – «Es ist viel zu kalt, die Blumenköpfe sind bestimmt noch nicht offen.» Die Blinde hatte recht. Ein anderes Mal fragt eine Blinde, wie der Busfahrer denn aussieht, der sie herumfährt. Lotti Spring beschreibt ihn. «Und welche Augenfarbe hat er?», wird sie gefragt, kann spontan jedoch nicht antworten. «Lotti, man schaut den Leuten doch in die Augen, wenn man mit ihnen spricht…» Wie hat es doch Rick zu Ilsa im Filmklassiker «Casa- blanca» gesagt? «Ich schau dir in die Augen, Kleines.» Aber auch aus dem «Kleinen Prinzen»: Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Eine Enkelin von Lotti Spring spricht lange Zeit nicht, der Grund ist unbekannt. Einmal, beim Znacht, heisst es in Richtung des Kindes, es solle den Teller «besser ausputzen», das Modi kann sich nicht artikulieren, «nid umeghä». Und was macht Lotti Spring in dieser Situation? Sie beschliesst, die Gebärdensprache zu erlernen, um mit dem Meitli kommunizieren zu können. «Das mit dem Sprechen hat sich dann im Laufe der Zeit ergeben, heute plaudert die 25-Jährige drauflos, als ob es nie anders gewesen wäre.» Vor allem: Mit der von beiden erlernten Gebärdensprache haben die unterschiedlich alten Frauen auch eine Art ... Geheimsprache, die Aussenstehende nicht verstehen. Schön gäbig.
Ihre Berufsausbildung absolviert Lotti Spring beim «Konsum» in Schönbühl, später wechselt sie nach Thun in die Kyburg, wo sie Personalaufgaben übernehmen soll. Dazu bedarf es aber einer Ausbildung zur «Personalführerin», sodass sich die junge Frau firmenintern weiterbilden lässt – und berufsbegleitend einige Semester Psychologie an der Uni Basel belegt. Lernen fürs Leben.
Eine Familienfoto der Springs.
32 Franken pro Quadratmeter Bauland
1960 lernt sie ihren späteren Mann kennen, Toni, der aus Reutigen kommt. «Mein Vater hat mir immer gesagt, ich solle ja keinen Oberländer heiraten, die seien so engstirnig.» Aber äbe, wo die Liebe hinfällt ... Toni ist Chefmonteur bei den PTT, er verlegt Kabel, eine Präzisionsarbeit. «Das ist noch heute so. Wenn ich etwas nicht sofort wegräume, macht er mich darauf aufmerksam», lacht Lotti Spring, die 1963 in der Kirche Jegenstorf heiratet. Zuerst wohnen die Eheleute in Steffisburg, mit der Ankunft von Franziska, Christa und Marcel erweist sich die Wohnung als zu klein, sodass man in Thun eine grössere sucht, was finanziell aber nicht verkraftbar ist. Da erinnert sich Toni Spring, dass er ja Reutigen-Burger ist und man ja dort bauen könne. Mitte der 70er-Jahre ist der Quadratmeter Bauland für 32 Franken zu haben. Gedacht, gesagt, getan.
Irgendeinmal ruft eine der beiden Töchter ihre Mutter an, diese bringt aber keinen Ton heraus, lallt am Telefon nur. Mit der Ambulanz fährt man Lotti Spring subito nach Thun ins Spital, anschliessend sofort ins Inselspital, wo sie zur Verwunderung aller plötzlich wieder sprechen kann, ohne dass sie ihre Streifung mitbekommen hätte. «Ihre vielen Schutzengel, mit denen Sie sich im Laufe Ihres Lebens mit Ihren guten Taten angefreundet haben, haben Sie geschützt», meint der Professor. Und nicht nur das: Lotti Spring ist eine Wahrheitsfanatikerin, kämpft für Gerechtigkeit, sie engagiert sich auch in der Kirche, wird in einen Synodalrat gewählt – und geht auf Konfrontation mit einem Pfarrer, der eine alte Frau, die im Sterben liegt und noch einmal mit einem Pfarrer sprechen möchte, den Besuch verweigert, «weil sie nie in die Predigt kam». – «Sie sind im falschen Beruf, wenn Sie nicht auf die Menschen zugehen können», lehrt sie ihn, «von mir aus können Sie predigen, was Sie wollen, was Sie aber zu tun haben, das entscheiden wir im Kirchenrat.» Dass der Pfarrer danach seinen Platz räumen musste, folgte ebenso selbstverständlich wie das Amen in der Kirche.
16 Länder bereist
Zelt. Klappanhänger. Wohnwagen. Das sind die Stationen, die der Familie Spring das Reisen ermöglichen. Und spätestens jetzt kommt Lotti Spring in Fahrt. Mit der Familie ist man vor allem in Spanien, Italien und Portugal unterwegs. Seit der Pensionierung von Toni Spring – er verbrachte sein berufliches Leben bei der PTT, später bei der Swisscom – ist man überall in Europa unterwegs, in insgesamt 16 Ländern, von Portugal über Dänemark bis nach Albanien. Ungarn hat es den beiden angetan, vor allem Budapest, «eine der schönsten Städte Europas», wie Lotti Spring zu Recht feststellt. In Ungarn freunden sich die Springs mit vielen Leuten an, lernen Menschen aus Osteuropa kennen, wie das zum Schluss des letzten Jahrhunderts heisst, auch aus Rumänien, mit besonders prägenden Ereignissen verbunden.
Durch ihr kirchliches Engagement steht Lotti Spring auch in Kontakt mit Hilfswerken, zum Beispiel mit dem HEKS. Diese Institution fragt Lotti Spring an, ob sie die Möglichkeit hätte, zwei Lehrerinnen aus Rumänien einen sechswöchigen Aufenthalt zu ermöglichen. «Selbstverständlich war ich offen», sagt sie, «aber nicht die ganzen sechs Wochen nur bei uns. Die beiden Lehrerinnen sollten die Möglichkeit haben, auch andere Familienleben in der Schweiz kennenzulernen.» Konkret: Die beiden Rumäninnen leben die erste und die letzte Woche ihres Schweiz-Aufenthaltes bei Springs in Reutigen, dazwischen bei vier anderen Familien, aber nicht zusammen. Die Gegeneinladungen nach Rumänien lassen nicht lange auf sich warten, so dass Toni und Lotti Spring gen Osten fahren. Dort erleben sie Menschen, die in totaler Armut leben. Zwei Begegnungen sind unauslöschlich: Einmal fragt sie einen Buben, was er später einmal werden möchte. «Priester», kommt als Antwort. «Und weshalb das?» – «Priester haben immer saubere Kleider, schöne.»
Zelt. Klappanhänger. Wohnwagen. Das sind die Stationen, die der Familie Spring das Reisen ermöglichen.
Lebensmittel verdienen damals ihren Namen nicht. «Härdöpfu, wo hie Söifuetter wäre gsi, hei mir gschält und grilliert», sagt sie ziemlich deprimiert. Für frisches Wasser musste man zwei Stunden über Holperstrassen fahren und sich dann dort bei einer Quelle in langen Kolonnen anstellen, um einige Liter Wasser zu ergattern. «Mir fiel erst nachträglich auf, dass wir oftmals nicht klares Wasser zu trinken bekamen. Kunststück, es war zum Teil schon zehn Tage alt.» Und das alles zu Zeiten, als Nicolai Ceausescu, dieser wahnwitzige Diktator, sich und seiner ebenso fürchterlichen Ehefrau einen Palast mit 700 Zimmern in Bukarest erbauen liess. Grössenwahnsinnig.
Lotti und Toni Spring betreuen während vieler Jahre auch die Hütte des Skiclubs Axalp, «in einer wunderschönen Landschaft gelegen», allein schon der Schnitzlerweg hinauf ist ein Erlebnis der ganz besonderen Art.
Seit ungefähr einem Jahr lebt Lotti Spring im Alters- und Pflegeheim Sonnmatt von «Wohnen im Alter Thun», wo sie sich wohl und gut betreut fühlt. Toni, der noch immer im Haus in Reutigen wohnt, besucht sie zweimal in der Woche.
Und jetzt schliessen wir den Kreis. Zu Beginn haben wir darüber spekuliert, weshalb Lotti Spring wohl zu ihrem Engagement Mitmenschen gegenüber gekommen ist. Vielleicht hängt es mit einer Feststellung ihres Vaters Mitte der 50er-Jahre zusammen, als sie in Ausbildung steht: «Solltest du jemals ein uneheliches Kind erwarten, sagst du es uns einfach und wir stellen dann ein Gedeck mehr auf den Tisch.» Und das Mitte der 50er-Jahre. Unglaublich. Was für eine Familie! Als nachhaltig würde man das heute bezeichnen.
Im Gedenken an Lotti Spring
Kurz nach unserem Gespräch ist Lotti Spring unerwartet verstorben. Ihr Mann, Anton Spring, hat uns das Einverständnis gegeben, den Beitrag trotzdem veröffentlichen zu dürfen, im Gedenken an seine Frau. Wir danken ihm dafür und sind in Gedanken bei dieser so fröhlichen Frau.