Barbara Hirschi: «Wenn ich hier bin, bin ich mit ganzem Herzen hier»

Barbara Hirschi: «Wenn ich hier bin, bin ich mit ganzem Herzen hier»

Barbara Hirschi: «Wenn ich hier bin, bin ich mit ganzem Herzen hier»

Seit mehr als 27 Jahren führt Barbara Hirschi die Bereichsleitung Verwaltung der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft für Körperbehinderte Gwatt bei Thun. Wir sprechen mit ihr über ihre Arbeit, Jugenderinnerungen, Normalität und Teamwork und darüber, wie sie schwierige Situationen meistert. 

Text & Fotos: Diana Huber

Als Jugendliche wollte ich alles lernen, nur nicht das KV», erwidert Barbara Hirschi mit einem verschmitzten Lächeln auf die Frage nach ihrem früheren Berufsziel. Denn die KV-Grundausbildung ist es schliesslich gewesen, die sie zur WAG gebracht hat, wo sie seit Jahren ein fester Bestandteil des dreiköpfigen Leitungsteams ist. Aufgewachsen ist Barbara Hirschi an der Gwattstrasse, ganz in der Nähe der alten Bettlereiche. Nach dem Abschluss der Lehre und einem Auslandaufenthalt begab sie sich als junge Frau in ihrem Heimatort auf Stellensuche. Etwas Soziales, etwas mit Menschen habe sie machen wollen. Sie bewarb sich in Wimmis im Brodhüsi, einer Anlaufstelle für drogenabhängige Menschen, und erhielt prompt eine Zusage. In letzter Minute entschied sie sich jedoch dagegen – «ein Bauchentscheid», meint Barbara Hirschi heute. 

Kurz darauf begann ihre Laufbahn bei der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft für Körperbehinderte Gwatt. Kaum hatte Hirschi die Stelle als kaufmännische Angestellte im Verwaltungsbereich angetreten, wurde die damalige Bereichsleiterin Susanne Niederhauser schwanger. Sie schlug Barbara Hirschi als Nachfolgerin vor – und das, obwohl diese damals gerade mal 21 Jahre alt war. Barbara Hirschi ist sich bewusst: «Was sich mir da bot, war eine enorme Chance.» Der damalige Stiftungsratspräsident Heinz Matti setzte sich stark für sie ein. Er habe wahrscheinlich Potenzial in ihr gesehen, jedenfalls sage er das heute, erklärt Hirschi mit einem Augenzwinkern. Und tatsächlich, sie erhielt den Posten als Bereichsleiterin Verwaltung, den sie bis heute innehat. Wie lange sie schon bei der WAG arbeite, das dürfe sie fast nicht laut sagen, schmunzelt die sympathische Mittvierzigerin. Eintönig sei ihre Arbeit zum Glück nie gewesen. 

Keinen Jö-Bonus 

Die WAG hat sich verändert in dieser Zeit, sie beschäftigt heute mehr als doppelt so viele Angestellte als noch vor 27 Jahren, als Barbara Hirschi ihre Stelle antrat. Um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, bildet sich die Bereichsleiterin laufend weiter. Das BWL-Studium an der Höheren Fachschule in Thun begann sie mit 38 Jahren, momentan macht sie eine Weiterbildung in «Change Management», bei der sie lernt, Veränderungen zu begleiten. Eine bedeutende Veränderung war der Neubau am Hännisweg 5, der vor gut einem Jahr eröffnet wurde. Die Freude in Barbara Hirschis Stimme ist nicht zu überhören, wenn sie von diesem erfolgreichen Bauprojekt spricht. Der Neubau war eine Herzensangelegenheit, die zu begleiten sie noch immer mit Stolz erfüllt. Dabei wird die Bereichsleiterin nicht müde zu betonen, dass die WAG als Gemeinschaft, als Team dessen Umsetzung erst möglich gemacht habe. Sowieso ist Barbara Hirschi das «Miteinander» sehr wichtig, sei es betriebsintern als auch in Bezug zur Region: «Wir möchten keine isolierte Institution sein.» Die WAG ist ins Quartier eingebettet, an Anlässen sind die Nachbarn stets willkommen und das öffentliche WAGkafi ermöglicht die Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung. Auch als Arbeitgeber leistet die WAG einen wertvollen Beitrag zur Integration von körperbehinderten Menschen. In der betriebsinternen Werkstatt, die mit modernsten Maschinen ausgerüstet ist, führen die Bewohner und Bewohnerinnen der WAG präzise Bohr-, Schleif- und Gravierarbeiten durch. Deren Arbeit ist, wie Barbara Hirschi betont, der freien Marktwirtschaft ausgesetzt: «Unseren Kunden spielt es keine Rolle, wo ihre Produkte hergestellt werden, einzig das Preis-Leistungs-Verhältnis muss stimmen. Wir erhalten keinen Jö-Bonus, à la ‹das sind arme Behinderte, die diese Produkte fertigen›.» Die Angestellten der WAG sind sich dessen bewusst. Während der Führung durch die Werkstatt erklären sie ausführlich und nicht ohne Stolz, wofür die Teile, die sie bearbeiten, später einmal genutzt werden. Den Menschen hier tue es gut zu wissen, dass ihre Arbeit einem bestimmten Zweck dient und sie nicht einfach nur beschäftigt werden, damit sie beschäftigt sind. Sie möchten eine sinnvolle Arbeit leisten. Das sei ja ganz normal und bei Menschen ohne körperliche Beeinträchtigung nicht anders, stellt Barbara Hirschi nüchtern fest.

So viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich

Normalität wird in der WAG grossgeschrieben. «Normalität heisst, nicht den Rollstuhl zu sehen, nicht die Krücken oder die Behinderung eines Menschen, sondern einfach den Menschen.» Die Bewohnerinnen und Bewohner der WAG sollen trotz ihrer Behinderung ein möglichst normales Leben führen können, die WAG unterstützt sie dort, wo nötig. Das Leitmotiv der WAG «so viel Hilfe wie nötig, so wenig wie möglich» tagtäglich umzusetzen, sei nicht immer einfach. Barbara Hirschi erinnert sich noch gut an ihre erste Zeit bei der WAG. Wenn jemand mit einem Rollstuhl zu ihr wollte, sprang sie sogleich auf und hielt hilfsbereit die Tür auf. Bis sie irgendwann merkte, dass diese Personen selbst versuchen möchten, die Tür zu öffnen, und anklopfen, falls sie wirklich Hilfe benötigen. «Und dann versuchen sie es vielleicht dreissig Sekunden lang und ich muss einfach aushalten, dass sie es jetzt dreissig Sekunden lang probieren. Aber sie wollen die Türe selbst öffnen und selbst hineinkommen. Das ist die Normalität, die wir hier in der WAG zu leben versuchen.» Im Gespräch mit Barbara Hirschi wird schnell klar, dass ihre Arbeit für sie mehr als nur eine Beschäftigung ist, und zu einem wertvollen Lebensinhalt geworden ist. Auf der Führung durch Wohnbereich, Werkstatt, Küche, Atelier und Café grüsst die Bereichsleiterin Bewohner und Angestellte mit Namen und nimmt sich auch mal Zeit für einen kleinen Schwatz. Alle kennen Barbara und freuen sich, sie zu sehen. Toni Stadelmann, mit seinen 78 Jahren einer der ältesten Bewohner der WAG, begegnete Barbara Hirschi bereits als kleinem Mädchen. Er habe ihre Eltern gut gekannt und ab und zu mit ihnen geplaudert. Die WAG, so scheint es, ist eine grosse Familie. 

Umso schwerer ist es, wenn langjährige Bewohner im hohen Alter sterben. «Letztes Jahr haben wir drei Menschen verloren, eine grosse Zahl für die WAG», erzählt Barbara Hirschi und schaut nachdenklich aus dem Fenster. Das brauche viel Kraft. Loslassen und Abschied nehmen sei nie einfach, weder für das Betreuungsteam, die Angehörigen noch für die Bewohner, die ein Familienmitglied verlieren. «Hut ab vor dem Wohnbereichsteam, das unsere Bewohner in dieser Zeit begleitet», zollt Barbara Hirschi den Angestellten Respekt. Und kommt sogleich wieder auf die schönen Momente zu sprechen. Denn deren gebe es viele. Am meisten Freude mache es, wenn sich alle miteinander, eben als Team, als Crew, für etwas einsetzen und sich dann zusammen über das Resultat freuen können. Wie etwa, als die WAGmusic!, die Musikgruppe der WAG, vor fünf Jahren nach Kalifornien reiste. Barbara Hirschi strahlt, wenn sie an diesen Ausflug zurückdenkt. Die Vorbereitungen dafür seien umfangreich gewesen, vieles musste abgeklärt werden, bevor sich Betreuungspersonen, Helfer und körperbehinderte Menschen zusammen auf den Weg nach Kalifornien machen konnten. Bereits zwei Jahre im Voraus habe man zu planen begonnen. Das habe sich gelohnt. Barbara Hirschi spricht von einem einmaligen Erlebnis und resümiert rückblickend: «Manchmal muss man einfach den Mut haben, etwas zu versuchen. Und sich nicht auf die Risiken fixieren, sondern auf das Mögliche.» Ihre Arbeit bedeutet Barbara Hirschi viel. Umso wichtiger findet sie es aber auch, ihr Leben ausserhalb der WAG nicht zu vernachlässigen: «Wenn ich hier bin, bin ich mit ganzem Herzen hier. Wenn ich zu Hause bin, ist die WAG einfach die WAG. Das dünkt mich wichtig.» Beim gemütlichen Zusammensein mit Freunden und bei Ausflügen im Berner Oberland findet die Bereichsleiterin Verwaltung der WAG einen Ausgleich, sei es beim Wandern in den Bergen, beim Skifahren in Adelboden-Lenk oder bei einem Spaziergang am Thunersee. Hauptsache, sie ist draussen und kann sich bewegen. Im Diemtigtal besitzt ihre Familie ein altes Sennhüttli, ohne Strom und ohne fliessendes Wasser. Dorthin zieht sich Barbara Hirschi gern zurück. Auf Platz eins ihrer Lieblingsplätze steht aber unumstritten ihr Wohnort Thun. «Das würde ich jetzt auch sagen, wenn Ihre Zeitschrift Züriseeliebi heissen würde», lacht sie laut auf. «Nein, ernsthaft: Berge, Seen, eine wunderschöne, zentral gelegene Stadt – was will man mehr?» Nirgends kann sich die Bereichsleiterin so gut entspannen wie bei einem Spaziergang am Thunersee: «Schon nur am Anblick des Thunersees kann ich mich erholen. Ich kann dem See entlanglaufen und auf das ruhige Wasser schauen, und fühle, es tut mir gut.» Von der WAG ist es nicht weit zum See, ab und zu gönnt sich Barbara Hirschi hier über den Mittag eine kurze Auszeit. Um danach wieder mit ganzem Herzen und voller Elan zur WAG zurückzukehren. 

«Loslassen und Abschied nehmen ist nie einfach.»

 

Die WAG

Die Wohn- und Arbeitsgemeinschaft im Gwatt bietet betreute Wohnungen und geschützte Arbeitsplätze für Erwachsene mit einer körperlichen Behinderung. Die schweizerische Stiftung wurde im Jahr 1959 gegründet und hat heute rund 50 BewohnerInnen. Die WAG ist ein wichtiger Arbeitgeber: Sie beschäftigt insgesamt 160 Angestellte, davon etwa 60 Menschen mit einer körperlichen Behinderung sowie rund 100 BetreuerInnen und andere Mitarbeitende. 

 

 

 

 

 

 

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