Leben im Alter: Die Hochzeitsreise ins Militärsanatorium Montana
Leben im Alter: Die Hochzeitsreise ins Militärsanatorium Montana
Margrit Zumstein wird ein halbes Jahr vor Ende des Ersten Weltkrieges geboren. Sie, die heute im Domicil Selve Park in Thun lebt, ist eine Vertreterin jener Generation, die uns noch aus eigener Erfahrung erzählen kann, wie es «damals» war, ohne dass wir es in Geschichtsbüchern nachlesen müssen, zum Beispiel bei der unglaublichen Wohnungsnot in Thun in den 40er-Jahren.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg
«’S Tante Greti»
Weil ein Neugieriger und in der Gemeinde Wohlen wohnhaft, macht sich der Schreibende auf Spurensuche, ohne dass Frau Zumstein es weiss (sie wird es beim Lesen erfahren). Das Bauernhaus «im Altisberg» in Uettligen gibt es noch immer, heute von der Familie Zbinden bewirtschaftet. «’s Tante Greti isch d Tante vo mym Maa», erklärt uns seine Frau. Spuren gibt es auch in der Bäckerei von Andreas Zingg in Uettligen, wo Margrit Zbinden seinerzeit bei seinem Grossvater Emil ausgeholfen hat. Und zu Peter Tschannen, der den Gasthof Kreuz zusammen mit seiner Frau Doris in zwölfter Generation führt und wo Hans und Margrit Zumstein 1945 ihr Hochzeitsessen hatten.
Zurück aber zu den Erzählungen der 99-Jährigen. «Ich wäre gerne ins Seminar gegangen. Dort musste man bei der Aufnahmeprüfung in allen Fächern genügend sein. Wer, wie ich, nicht gut singen konnte, musste dafür ein Instrument beherrschen», sagt sie, «dafür durfte ich Klavierstunden nehmen – und das als Bauerntochter!» Das Schicksal will es anders. An ihrem 16. Geburtstag stirbt ihr Vater. Zusammen mit ihren Geschwistern muss sie jetzt auf dem Bauernhof mithelfen: «Mir war klar, dass damit der Traum einer Lehrerin ausgeträumt war.» Fünf Jahre bleibt sie auf dem Hof «im Altisberg». 1939 darf sie ins Tessin, nach Massagno bei Lugano, um die Sprache zu erlernen. Während dieser Zeit – Margrit Zbinden beabsichtigt, ein Jahr zu bleiben – arbeitet sie in einem Haushalt als «Mädchen für alles». Und wieder schlägt das Schicksal zu: Der Zweite Weltkrieg, Generalmobilmachung, sie muss ihren Aufenthalt im Tessin abbrechen und heimkehren, weil ihr Bruder Aktivdienst leisten muss und auf dem Hof fehlt.
Eine Frau stellt ihren Mann
Doch damit nicht genug: Weil bei der Kavallerie, muss er sein Pferd mitnehmen. Margrit bleibt nichts anderes übrig, als selber schwerste Arbeiten zu erledigen. Es ist auch die Zeit der Lebensmittelrationierung. «Es war keine einfache Zeit, die ich niemandem mehr wünsche. Aber sie gehört zur Schweizer Geschichte, auch wenn das heute unvorstellbar ist, bei dieser Fülle von Lebensmitteln.» 1942/43 kann sie eine Lehre als Verkäuferin bei der Konsum-Genossenschaft in Uettligen absolvieren. Den Kontakt mit der Kundschaft kennt und schätzt sie durch ihre Tätigkeit bei der Bäckerei von Emil Zingg: «Aus dieser Zeit bleibt mir auch die Erinnerung an die Lebensmittelmarken.»
Weil die Lebensmittel rationiert sind, erhalten die Schweizer Familien Marken, die sie berechtigen, Grundnahrungsmittel zu kaufen gegen Abgabe dieser Marken in den Geschäften. «Im Laufe der Woche kamen unzählige Marken zusammen, die ich an Sonntagen jeweils auf Bögen eingeklebt habe, denn nur durch Vorweisen und Abgabe der Marken konnten wir beim Konsum die Lebensmittel nachbeziehen.» Wie gross die Solidarität unter der Bevölkerung sein kann, belegt eine weitere Aussage von Margrit Zumstein: «Es gab Bauern, die selber das eine oder andere Nahrungsmittel nicht brauchten, weil sie zum Beispiel selber Mehl herstellten. Also haben sie uns die Marken gebracht und gesagt, wir sollten sie Familien schenken, die es nötig haben.»
Bei den Konsum-Filialen gibt es nach dem Krieg, also nach Ende der Lebensmittelrationierung, für die Kundschaft Marken im Gegenwert des Einkaufs. Ende Jahr kann man sein Markenheft vorweisen und bekommt 7 Prozent der Einkäufe in bar rückerstattet. Diese Marken sind also die Vorläufer der heutigen Superpunkte bei Coop. «Es war eine spannende Zeit während der Ausbildung», erinnert sie sich, «jede Konsum-Genossenschaft war damals selbständig, entsprechend wurde nicht zentral, sondern individuell eingekauft.» Interessant: Die damals noch kleine Konkurrentin namens Migros nimmt man im Konsum-Verein Uettligen nicht gross zur Kenntnis, weil sie nur in der Stadt Bern präsent ist.
Das Militärsanatorium Montana
Margrit Zbinden ist 1939 seit einigen Jahren Mitglied beim Gemischten Chor Uettligen, in dem auch der Schreiner Hans Zumstein aus Ortschwaben mitsingt, zwar acht Jahre älter als sie, aber ein «wunderbarer Tänzer» für Walzer, Polka oder Schottisch. Er arbeitet bei seinem Bruder in Ortschwaben, der ein Malergeschäft besitzt. Lange Vorrede, kurzer Sinn: Geheiratet wird 1945 (da das Benzin rationiert ist, fährt das Postauto mit der Festgemeinschaft mit Anhänger und Holzverbrennungsmotor vor die Kirche), womit wir zu einer ungewöhnlichen Geschichte kommen, die sich im Vorfeld abspielt und unserem Porträt über Margrit Zumstein den Titel verleiht. Wie ihr Bruder, muss auch Hans Zumstein Aktivdienst leisten. Er erkrankt und wird zuerst als Simulant bezeichnet. Als sich später herausstellt, dass er an Tuberkulose leidet, muss er 1943 zur Kur ins Militär-Sanatorium nach Montana. Dort bleibt er für ein Jahr, vorgesehen gewesen waren sechs Monate. Nach dieser Zeit wird er als «wieder zwäg» beurteilt und entlassen, mit der Auflage, sich wieder kontrollieren zu lassen.
Hans und Margrit planen ihre Heirat. Eine Auslandreise kommt wegen der Ereignisse in Europa nicht in Frage, auch wegen ihrer finanziellen Verhältnisse nicht. Also findet sie – wie damals üblich – in der Schweiz statt, allerdings nicht ganz so, wie die beiden Frischvermählten sich das vorgestellt haben. Hans Zumstein reist nämlich kurz nach der Hochzeit aufgrund eines «Marschbefehls» für eine Expertise wieder nach Montana, in Begleitung von Margrit. Dort der niederschmetternde Bericht: Er muss zum zweiten Mal zur Kur, «so schnell als möglich». Weil an diesem Tag alle Betten belegt sind, reisen die Zumsteins bedrückt retour nach Burgistein-Station, wo sie wohnen. Kurz darauf der Bescheid, dass ein Bett im Wallis frei sei.
Die Wohnungsnot in Thun
Als sich herausstellt, dass auch dieser Aufenthalt länger dauern wird und es für Frauen keine Übernachtungsmöglichkeiten im Sanatorium gibt, mietet sich Margrit Zumstein ein Zimmer bei der Köchin des Sanatoriums und macht sich bei den drei Buben nützlich, bei den täglichen Haushaltsarbeiten. Mit der Zeit spricht sich herum, dass Margrit eine geschickte Näherin ist. Diese Einkünfte ermöglichen es ihr, eine kleine 1-Zimmer-Wohnung in Montana zu mieten und ihren Unterhalt zu verdienen. Die Verantwortlichen des Sanatoriums sagen es offen: Patienten, deren Ehefrauen sich in Montana aufhalten können, genesen schneller, weil sie mehr Freiheit und Ausgang haben, weniger militärischen «Drill».
Als Hans nach einem Jahr endlich entlassen wird – Margrit ist bis zum Schluss mit ihm in Montana geblieben –, sucht er sich eine Stelle. In Thun wird er fündig, bei einer Schreinerei. Nun geht es darum, eine Wohnung zu finden, was zu jener Zeit ein Ding der Unmöglichkeit ist. «Wenn Sie nicht mindestens ein Jahr in Thun gearbeitet haben, gibt es keine Wohnung für Sie», heisst es von den Behörden.
Haus ersteigert
Hans und Margrit Zumstein wissen nicht, wie es weitergehen soll, als der Zufall zu Hilfe kommt. Sie haben kein Geld, um Eigentum zu kaufen. An einem Nachmittag läuft Hans an einem Restaurant vorbei, wo von einer Erbengemeinschaft «ein Hüsli», wie Margrit Zumstein sagt, versteigert wird. Er geht in den Saal und staunt, wie günstig die Liegenschaft angeboten wird. Also bietet er mit, ohne zu wissen, wie er das bezahlen könnte. Der Hammer fällt ein letztes Mal, die Liegenschaft an der Nünenenstrasse 6 mit Umschwung gehört fortan Hans Zumstein. Der verurkundende Notar will, dass sich Hans Zumstein ausweist, der hat aber keine Papiere dabei. Es klappt dennoch. Margrits Mutter hilft bei der Finanzierung, allerdings müssen Hans und Margrit das zur Verfügung gestellte Kapital verzinsen, «allerdings nur zum offiziellen Kassenscheinzins». Dennoch: Um das Haus halten zu können, werden drei der fünf Zimmer vermietet.
«’S Schtunggischiff»
Hans Zumstein arbeitet während der kommenden Jahre – um nicht zu sagen Jahrzehnte – in Thun als Schreiner, Margrit vor der Geburt von Martin 1955 an diversen Orten, so zum Beispiel bei Loeb. Sie will ihrem Sohn eine gute Mutter sein, sich um ihn kümmern, weshalb sie während 17 Jahren in Heimarbeit für die Krankenkasse Bern KKB tätig ist. Ihr Arbeitsplatz ist aber nicht bloss ein Tisch in der Küche, sie richtet eines der Zimmer als Büro ein, damit die Patienten dies auch als solches wahrnehmen, wenn sie Krankenscheine abholen oder ihren Rat während der Sprechstunden in Anspruch nehmen. «Das war eine abwechslungsreiche Zeit, ich hatte viel mit den Versicherten zu tun. Auch viele Jahre später, als ich nicht mehr für die KKB tätig war, wurde ich immer wieder von den Versicherten angesprochen.»
Martin (heute beim VBS als Erprobungs- und Versuchsingenieur tätig) ist ein typischer «Bueb», dem andere Sachen wichtiger sind als Schulnoten, weshalb er seine Mutter damals als eine «strenge Erzieherin» bezeichnet, was ihm später geholfen habe. An eine Besonderheit erinnert sich Margrit Zumstein mit spontanem Lachen: «Ihm gefiel das Dampfschiff Blümlisalp, wegen des seitlich angebrachten Rades sprach er immer nur vom ‹Schtunggischiff›.»
Hans Zumstein stirbt 1994. Acht Jahre verbleibt Margrit im Haus, dann wird ihr die ganze Arbeit zu viel, weshalb sie es 2002 schweren Herzens verkauft und in eine Wohnung der Wohnbaugenossenschaft Schönau zügelt. Es gefällt ihr dort gut. Deshalb die Frage, weshalb sie in den Selve Park wechselt? «Mit über 90 Jahren musste ich mir Gedanken machen, was wohl alles passieren könnte. Weil ich nicht von einem Tag auf den anderen in ein Übergangsheim wollte, habe ich mich entschieden, hierherzuziehen. Schauen Sie doch einmal, was ich für eine herrliche Aussicht von der Terrasse habe!» Entscheidend für ihre Wahl ist, dass sie zuerst zehn Tage in der Residenz «probe wohnen» kann. «Die wirklich angenehme Atmosphäre war vom ersten Tag an spürbar.»
Margrit leidet an Makuladegeneration, das Lesen ohne Lupe ist nicht mehr möglich, Fernseh-Beiträge verfolgt sie als «Hören statt Sehen». Sie mag sich nicht beklagen, das Leben habe es mit ihr «gut gemeint». Vor allem die Zeit in Montana behält sie in guter Erinnerung: «Sie hat unsere Ehe in jeder Beziehung positiv beeinflusst, diese erzwungene Zweisamkeit. Vor allem aber waren wir dankbar, dass Hans geheilt werden konnte.» Ob sie sich auf den 100. Geburtstag freut, am 27. März 2018? Sie lacht: «Darüber habe ich mir wirklich noch keine Gedanken gemacht!»