Gianna Schüpbach: Giannas Herz

Gianna Schüpbach: Giannas Herz

Gianna Schüpbach: Giannas Herz

Gianna Schüpbach aus Uetendorf musste wenige Monate nach ihrer Geburt am Herzen operiert werden. Ihr Lebenswille war wichtig, um den Eingriff zu überstehen. Und dass sie ein Down-Syndrom-Kind ist, ist für die Familie kaum noch ein Thema.

 

Gianna Schüpbach, geboren 2000, holt in ihrem Zimmer im oberen Stock noch rasch ihr dickes Zeichenheft, bevor sie sich an den Küchentisch setzt: zu ihren Eltern Sonja und Klaus Schüpbach und zu ihren jüngeren Geschwistern Nino und Rosanna. Und während die andern miteinander reden, schreibt und zeichnet sie. Sorgfältig, mit Ausdauer. Zeile für Zeile. Und seitenweise. Ihre feinen, filigranen Kritzeleien, die sie eng aneinander reiht, sind kunstvoll und geheimnisvoll. Wenn man das Heft durchblättert, fällt auf, dass Herzen zu ihren Lieblingssujets gehören. Herzen in vielen Formen und Farben.

Gianna war das erste Kind von Sonja und Klaus Schüpbach, die in ­Weier, im Emmental, das Restaurant Tannenbad führten. Sie kam im Berner Engeriedspital zur Welt – als Mädchen mit Down-Syndrom, Trisomie 21. «Als ich Gianna nach der Geburt in den Armen hielt, war mir das sofort klar», sagt Sonja Schüpbach. «Der Arzt gratulierte uns zu unserem Töchterli, dann bestätigte er es – fadegrad und doch mit Gespür», ergänzt Klaus Schüpbach. Ein paar Tage haderte er zwar damit, bedauerte das Neugeborene, sorgte sich um dessen Zukunft. Doch schon bald realisierten er und seine Frau, dass es für sie nun keine andere Möglichkeit gab, als «vorwärts zu schauen – ‹füre z luege› – das Leben so zu neh­men, wie es ist». Die vielen guten Gespräche mit Ärzten und Pflegefachfrauen hätten ihnen dabei geholfen, sagt Sonja Schüpbach: «Und die ­Bemerkung des Kinderarztes, Gianna habe sich ihre Eltern eben ausgesucht, werde ich nie vergessen. Es macht uns glücklich, dass sie uns das Vertrauen ge­schenkt hat.»

Dass Gianna möglicherweise einen Herzfehler hatte, wie das bei Trisomie-21-Kindern häufig ist, erfuhren die Eltern wenige Tage später: als der Kinderarzt bei der Austrittsuntersuchung «ein Geräusch» feststellte und riet, es abklären zu lassen. Das befolgten die Eltern auch – vor allem auch deshalb, weil Gianna zu Hause im Emmental müde und kraftlos war, schnell atmete, viel schlief, oft kaum trank und nicht an Gewicht zunahm. Knapp einen Monat nach der Geburt, nach dem Besuch beim Kardiologen Jean-Pierre Pfammatter, war klar: Es war ein schlimmer Herzfehler, Gianna muss- te operiert werden. «Da flossen viele Tränen», sagt Sonja Schüpbach, «Giannas Behinderung war nun völlig unbedeutend. Wir sorgten uns um ihr Herz – um ihr Leben.» Weil sich ihr Gesundheitszustand immer mehr verschlechterte, musste sie für längere Zeit ins Berner Kinderspital, wo man alles versuchte, um Gianna «aufzupäppeln» und für den bevorstehenden Eingriff zu stärken. Das war für Schüpbachs, deren Restaurant im Emmental gerade in diesen Herbst-Wild-Wochen ihren vollen Einsatz erfordert hätte, eine turbulente Zeit – körperlich und emotional. «Das hat uns innerlich aufgefressen», sagt die Mutter, «es flossen immer wieder Tränen.» Und auch der gut gemeinte Besuch der Spitalpfarrerin verunsicherte sie zuerst noch mehr. Die Gespräche mit ihr waren dann aber hilfreich. Und ihre Bereitschaft, Gianna vor der Operation zu segnen, half dann auch mit, sie zuversichtlich zu stimmen. Und vor allem auch «die Zusicherung, dass Professor Carrel persönlich mit seinem Team Gianna operieren wird – das gab uns Vertrauen». Zusätzliche Sorgen be­reitete ihnen aber ein Brief der Krankenkasse: Sie lehnte es nach der Trisonomie-21-Diagnose ab, Gianna halbprivat zu versichern, wie das die Eltern schon vor Giannas Geburt beantragt hatten. «Gianna wird sich also ihr Leben lang nie besser versichern können», sagt Klaus ­Schüpbach, «das ist doch traurig, dass man als Mensch mit einer Behinderung gleich nach der Geburt versicherungsmässig als Zweitklasse-Mensch abgestempelt wird.» Immerhin: Bei Giannas Herzoperation spielte das keine Rolle: Am 3. Oktober 2000 wurde sie von Carrels Team operiert. Vor dem Eingriff waren die Eltern aber auf alles vorbereitet worden. «Es kam mir so vor», sagt der Vater, «als kletterten wir alle über einen schmalen Grat, wo wir links oder rechts abstürzen konnten.» Mehrere Ärzte betonten dabei die Bedeutung von Giannas Lebenswillen: Wenn sie nun operiert werde, entscheide auch sie, ob sie leben wolle oder nicht. Sie wollte leben.

 

Während der Operation war das aber noch ungewiss. Ihre Eltern erinnern sich nur noch, dass sie damals, «an jenem prächtigen Herbsttag», zwischenhinein nach Hause fuhren, ins Emmental. «Dass Klaus den Ra­sen mähte», sagt Sonja Schüpbach, «und dass ich nicht so recht wusste, was ich tun und denken sollte. Doch dann zündete ich für Gianna eine Kerze an.» Sie klaubt einen kleinen, grünschimmernden Stein hervor, den die kleine Gianna zur Geburt vom Bruder ihres Göttis, eines Zermatter Bergführers, erhalten hatte. Ein Stein vom Gipfel des Matterhorns. «Diesen Stein habe ich am Tag der Operation immer wieder fest in die Hand genommen», sagt sie, «und als der erlösende Anruf von Herrn Carrel kam, es sei alles gut gegangen, wir könnten zu Gianna kommen – ja, dann glaube ich, dass er ganz warm geworden ist. Er ist nun Giannas Glücksstein.»


Der Anblick von Gianna auf der Intensivstation, unmittelbar nach der Operation: Das war für die Eltern dann wieder ein schwerer Moment. Eindrücklich sei aber gewesen, wie man das hilflose, kleine Wesen, das da in seinem Bettchen «an all diese Schläuche angeschlossen war», liebevoll pflegte und auch mit sanften, klassischen Klängen beruhigte. Die Ärzte und Pflegenden seien auch ihnen sehr einfühlsam begegnet. Und später habe man die Schläuche an Giannas Körper mit einem «Bébé-Body» ein bisschen verdeckt, um sie nicht unnötig zu verunsichern. «Diese Begegnungen, diese Eindrücke – und auch die satten Herbstfarben der Natur an jenen Tagen werden wir nie vergessen», sagt Klaus Schüpbach, «diese Bilder haben sich für immer bei uns eingeprägt. Und auch die Hilfsbereitschaft vom Kinderarzt, von der Mütter-Väter-Beraterin, von unseren Angestellten, Freunden, ­Nachbarn und Stammgästen vergessen wir nie. Oft brachten Lastwagenfahrer oder Rentner meine Frau nach Bern ins Spital – zu unserem Kind.»

 

Vierzehn Tage nach der Operation konnte Gianna nach Hause entlassen werden. Sie machte jeden Tag kleine Fortschritte, ihr Herz – das damals so klein war wie eine Aprikose – wurde immer kräftiger. «Und schon am 19. November», erinnert sich ihre Mutter, «war sie fit genug, um in der Kirche Affoltern i.E. getauft zu werden.» Die Ärzte hätten sie dann auch immer wieder beruhigt: Giannas Herz sei nun «repariert», voll belastbar. Regelmässige Kontrollen beim Kardiologen bestätigen dies. Medikamente benötigt sie schon lange keine mehr. «Das ist doch gewaltig», sagt Klaus Schüpbach, «wenn wir daran denken, dass unsere Tochter damals, vor der Operation, so schwach war, dass sie eine Stunde benötigte, um fünfzig Milliliter Nahrung aufzunehmen. Wir sind unendlich dankbar für all das, was Thierry Carrel und die vielen Leute um ihn herum mit diesem kleinen, kranken Herzen machen konnten. Für uns ist es ein Wunder.» 

 

Die Familie wohnt seit einigen Jahren in Sonjas Elternhaus in Uetendorf. Gianna hat zwei Geschwister, Nino und Rosanna, mit denen sie eng ver­bunden ist. Sie besucht die Heilpädagogische Schule der Region Thun in Steffisburg. Sie fährt Velo, spielt gerne Fussball, beim FC Thun – in einer Gruppe, in der auch Kinder mit einer Behinderung willkommen sind. Zusammen mit Nino ist sie sogar schon den Thuner Stadtlauf gelaufen: 750 Meter – ohne anzuhalten. Sie hilft gerne beim Kochen und Backen. Sie bastelt, singt, musiziert, schreibt und zeichnet gerne. Eben hat sie sich wieder hingesetzt, zeichnet weitere wundersame Zeichen ins Heft. So, als schreibe sie sich etwas von der Seele.

 

 

Hintergrund: Carrels Kommentar

Gespräche mit Eltern eines herzkranken Kindes am Tag vor dem Eingriff sind sehr spezielle, manchmal schöne, manchmal belastende Erlebnisse. Ich will mich ja mit meinem Team voll für das kranke Kind einsetzen, das Le­ben eines kleinen Wesens retten und langfristig verbessern. Aber vor einem Eingriff müssen alle Eventualitäten besprochen werden. Dabei gibt es auch schwierige Themen wie mögliche Komplikationen oder sogar das Versterben nach dem Eingriff, wenn das Herz sich nicht erholen würde. Glücklicherweise ist das Sterben nach einer Operation sehr selten geworden. Aber es belastet das ganze Team fast noch mehr, weil unsere Medizin den Eindruck erweckt, alles sei immer möglich, es dürfe nie etwas Schlimmes auftreten.  

Giannas Herz wies die typische Missbildung auf, die bei Trisomie-21-Kindern vorkommen kann: ein kompletter atrioventrikulärer Kanal. Bei diesem angeborenen Herzfehler fehlt ein grösserer Teil der Trennwand zwischen den Vorhöfen und auch zwischen den Kammern. 

Dazu gehört meistens eine Undichtigkeit der Mitralklappe (die Eingangsklappe zur linken Kammer). Nach einer zu Beginn problemlosen Entwicklung zeigte Gianna relativ schnell Zeichen einer Herzinsuffizienz und gedieh nicht mehr. Ihr Gewicht nahm nicht mehr zu, sie hatte Mühe, sich zu ernähren. Vor dem Eingriff musste sie einige Medikamente zur Behandlung der Herzschwäche einnehmen. Trotz dieser Behandlung wurde der Allgemeinzustand nicht besser. Das Gewicht blieb bei knapp drei Kilo stehen.

Beim Eingriff wurde eine Total-Korrektur vorgenommen. Das kleine Herz wird dabei durch eine Herz-Lungen-Maschine entlastet. Vorerst wurde die Mitralklappe, die einen typischen Spalt aufwies, repariert. Danach wurde die offene Verbindung zwi- schen beiden Kammern und jene zwischen den beiden Vorhöfen mit je einem Kunststoffflicken aus Gore-Tex verschlossen. Am Schluss des Eingriffs nahm das kleine Herz wieder die ganze Kreislauffunktion auf und Gianna wurde während vier Tagen auf der Intensivstation betreut. Nach zwei Wochen konnte sie das Kinderspital verlassen. Sie hat sich seither sehr gut entwickelt, die letzte Ultraschalluntersuchung ergab 15 Jahre nach dem Eingriff ein perfektes Resultat. Ich bin jedes Jahr gerührt, wenn ich am Tag des Eingriffs Post von Familie Schüpbach erhalte: eine Art Jahres­zusammenfassung mit allen Projekten, Fortschritten und Neuigkeiten um Gianna. Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal zwei Tage in Zermatt ver­brachte, geschah etwas Unerwartetes: Mitten im Dorf kam mir und meiner Frau eine Familie entgegen und grüsste sehr freundlich – es war die Familie Schüpbach mit Gianna. Was für ein Zufall und eine Freude, sich mal ausserhalb des Spitals zu begegnen. Wir alle konnten unsere Emotionen kaum beherrschen.

Mehr zum Thema…

… finden Sie im Buch «Von Herzen – Thierry Carrel»

Autor: Walter Däpp, 
ISBN 978-3-85932-762-7,
CHF 39.–  
Erhältlich im www.werdverlag.ch oder im Buchhandel

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