Winterwunder am Wendelsee
Winterwunder am Wendelsee
Der Zeitraum zwischen der Wintersonnenwende und Anfang Januar galt in der Volkstradition seit jeher als besonders bedeutsam und heilig, weil sich nach alter Anschauung in diesen tiefen, stillen Nächten die Lebenskräfte im Verborgenen auf die neue Jahresrunde vorbereiten. Im Gespräch am Herdfeuer zwischen einer alten Frau und ihrer Enkelin erfahren wir mehr über diese magischen Nächte.
Text: Andreas Sommer | Fotos: Andreas Sommer, zvg
Beat Künzi, im Juli wird für Sie ein Kindheitstraum wahr. Sie spielen im Musical-Klassiker CATS mit, der vom 12. Juli bis 24. August auf der Thuner Seebühne aufgeführt wird. Warum ist CATS ein Kindheitstraum?
Ganz einfach: CATS war eines der allerersten Musicals, die ich als Jugendlicher gesehen habe. Ich kannte ja bereits die Musik – insbesondere der Hit «Memory», den die alte Katze Grizabella singt, begleitete mich viele Jahre. Nun selbst in diesem für mich so prägenden Musical auf der Bühne stehen zu dürfen, ist toll! Als Laie in einer professionellen Produktion mitwirken zu dürfen, macht mich sehr stolz. Die Bühne – und insbesondere die Thuner Seebühne – bringt eine riesige Faszination mit sich. Das Gefühl, vor einem so grossen Publikum im Rampenlicht zu stehen, ist einmalig. Und macht süchtig (lacht).
Welche Rolle spielen Sie in CATS?
Ich bin als Chormitglied Teil des Ensembles. Welchen Charakter meine Katze haben wird, wird sich bei den Proben herausstellen. Ich bin sicher, dass sich unsere Regisseurin und Choreografin Kim Duddy etwas Tolles ausgedacht hat.
Geduldiges Warten
«Grossmutter, warum kann es nicht das ganze Jahr hindurch warm und hell sein wie im Sommer?» Das Mädchen mit dem blassen Gesicht warf der alten Frau am knisternden Herdfeuer einen betrübten Blick zu. «Ich habe Hunger.» Unbändig heulte der Wind durch den Rauchfang. Die Schneelast auf dem Dach liess die alten Schindeln knacken. Wie ein riesiger kristallener Spiegel breitete sich vor dem eisblumenverkrusteten Fenster die gefrorene Fläche des Wendelsees am Fuss der wolkenverhangenen Berge aus. «Warum gibt es überhaupt den Winter? Es ist so eine strenge Zeit.» Der Blick der Kleinen wirkte verzweifelt. Die alte Frau legte ihre faltigen Hände in den Schoss und schenkte dem Kind ein tröstliches Lächeln. «Weisst du, meine Liebe, auf unserer Welt hat alles seine Zeit», erklärte sie begütigend. «Wenn wir tagsüber genügend Kraft haben wollen, um arbeiten zu können, müssen wir nachts gut ruhen und uns erholen. So ist es auch mit dem Jahr. Im Sommer versprüht es allenthalben seine Fülle und überschäumende Lebendigkeit. Die Tage sind dann lang und lieblich. Aber nichts und niemand kann immer nur tätig sein und sich verausgaben. Das Leben würde sich selbst ausbrennen, wenn es sich als Ausgleich nicht ebenso regelmässig zur Ruhe begeben könnte. Deshalb folgt auf jeden Tag die stille Nacht. Und auf jeden Sommer der Winter.» «Dann müssen wir jetzt schlafen und uns ausruhen?»«So lebt es uns die Natur vor. Schau nur, wie still und starr draussen alles ist. Das Leben hält sich verborgen und wartet geduldig auf die kommenden Austage.»
Zwölf Nächte
«Fürchtet sich denn Onkel Johann vor dieser Stille? Oder warum sagt er, dass man in den Raunächten nicht aus dem Haus gehen soll?» «Diese Stille verlangt von uns, dass wir uns ihr ganz und gar hingeben. Dass wir uns in sie hineinsinken lassen und auf die wohlwollende Kraft der unsichtbaren Welt vertrauen. Deshalb, meine Liebe, haben unsere Vorfahren stets geraten, jegliche Arbeit während der Raunächte ruhen zu lassen. Kein Spinnrad durfte sich drehen. Keine Wäsche gewaschen werden. Kein Holz gefällt und nichts verrichtet werden, was nicht wirklich notwendig war. Möglicherweise fällt es Onkel Johann deshalb schwer, diese Zeit zu ertragen. Zumal er beim besten Willen nichts daran ändern kann.» «Aber es ist doch wirklich langweilig, so lange herumzusitzen und einfach nur zu warten, findest du nicht auch, Grossmutter?» «Untätig sein heisst nicht, nichts zu tun, Kind. Der Mensch ist in dieser Zeit zwischen den Jahren angehalten, wachsam zu lauschen und zu schauen. Auf die Zeichen zu achten, welche sich hier und dort offenbaren. In den Träumen. In den Erscheinungen der Natur. In Begegnungen mit anderen Menschen. In Ahnungen und Eingebungen.» «Hat Mutter deshalb die Zwiebeln aufgeschnitten? Weil sie die Zukunft daraus lesen will?» «Ganz genau, meine Kleine. Dies ist ein alter Brauch. Die Bäuerin schneidet an Mittwinter ein halbes Dutzend Zwiebeln auf und bestreut sie mit einer Prise Salz. Jede Zwiebelhälfte steht für einen Monat im kommenden Jahr. Diejenigen Zwiebeln, welche feucht bleiben, künden einen regnerischen Monat an, diejenigen, die austrocknen, deuten auf einen dürren Monat hin. Nach einer anderen Überlieferung entsprach jede der zwölf Raunächte einem Monat des anbrechenden Jahres. Was sich im jeweiligen Zeitabschnitt zeigte, verwies auf ein mögliches Geschick im zugeordneten Monat.» «Kann ich denn auch etwas über meine Zukunft erfahren, wenn ich gut aufpasse? Vielleicht, ob ich nächstes Jahr endlich ein weisses Zicklein bekomme?» «Manche Vorwitzige schleichen nachts in den Stall, um zu horchen, was die Tiere reden. Denn es heisst, dass die Tiere in den Raunächten unsere Sprache sprechen. Mancher soll daraus Kunde darüber erhalten haben, was das neue Jahr bringt. Einige haben angeblich sogar ihr Glück gemacht und von verborgenen Schätzen erfahren. Mir ist aber auch die Geschichte von einem Bauern zu Ohren gekommen, der aus einem solchen schicksalhaften Tiergespräch von seiner eigenen Beerdigung vernommen hat. Wer in die Zukunft blicken will, darf sich nicht vor ihr fürchten.» «Dann soll ich heute Nacht lieber nicht im Stall schlafen?» «Verlasse dich auf dein Gefühl, mein Kind. Die zwölf heiligen Nächte sind eine Zeit des feinen Fühlens und nicht des zwanghaften Grübelns. Wenn dich etwas in den Stall ruft, dann folge diesem Wink. Aber nimm genügend warme Decken mit, ja?» «Ich glaube, ich bleibe lieber bei dir, Grossmutter, denn ich fürchte mich zu sehr vor Onkel Johanns heulenden Wintergeistern.» «Vor der Wilden Jagd brauchst du keine Angst zu haben, meine Liebe. Vor undenklich langer Zeit galt der Wilde Jäger nämlich als Gefährte der guten Winterfrau, die in ihrer Höhle tief unter dem Berg den ganzen Winter hindurch über die schlafenden Lebenskeime wacht. Er vertrieb alles, was den Frieden der heiligen Nächte störte, und reinigte das Land vor allem Übel, welches das verstrichene Jahr hervorgebracht hatte. Leider ist es ihm letztlich gleich ergangen wie so vielen Mächten und Gestalten der alten Überlieferung. Ursprünglich eine Kraft, welche dem Fortgedeihen des Lebens und dem heilsamen Wandel diente, wurde er durch den Volksmund unheilvoll verzerrt und umgedeutet.» «Dann entführt der Wilde Jäger gar keine unartigen Kinder?» «Die Wilde Jagd erscheint immer im Geleit von Sturm und Schneegestöber. Es ist sicher besser, bei solchem Wetter die schützende Obhut des Hauses nicht voreilig zu verlassen. Aber nein, ich glaube nicht, dass der Wilde Jäger den Menschen Böses will.»
Die Königin der Schicksalsfäden
«Genauso wenig wie die gute Königin Bertha, welche in den Raunächten mit ihrem Gefolge über Land reitet und die Schicksalsfäden spinnt.» «Königin Bertha? Ist sie denn nicht längst tot? Sie hat doch vor vielen Hundert Jahren die zwölf Kirchen6 rund um den Wendelsee bauen lassen?» «Ja, so wird es berichtet. Sie hat unsere Vorfahren weiland vor vielen Gefahren geschützt, und sie liebte ihr Land und dessen Bewohner so sehr, dass sie es auch nach ihrem Tod weiter behüten wollte. In den Raunächten kann man sie angeblich auf den höchsten Türmen ihrer einstigen Schlösser stehen sehen, wie sie mit voller Futterschwinge die Saaten für das neue Jahr über das Land streut. Wer weiss, ob sie nicht einfach eine neue Form jener uralten Muttergöttin ist, welche unseren Ahnen so wichtig war.» «Grossmutter, kann ich Königin Bertha denn sehen, wenn ich heute Nacht nach Spiez zum alten Schloss hinüberblicke?» «Gewiss kannst du sie erblicken, falls sie sich dir zeigen will. Offenen Menschenaugen zeigen sich viele Wunder in den Raunächten. So wie jenem Handwerksgesellen, welcher mitten in einer sternenklaren Raunacht einst auf den Schlossberg zu Thun hochstieg. Er hat von dort oben beobachtet, wie ein langer Umzug von Zwergen und Elbischen, mit Sack und Pack beladen, aus dem Mittelland heraufzog und in den kristallenen Sälen unserer Berge Zuflucht suchte.»
Quatemberkinder
«Zu allen Zeiten vermochten Quatemberkinder und Hellsichtige derartige Geschehnisse zu schauen. Ganz besonders in den zwölf heiligen Nächten zwischen den Jahren. Denn in dieser Zeit ist der Schleier zwischen den Welten viel durchlässiger als sonst.» «Sind denn die Zwerge und alle diese wundersamen Wesen nun im Berginnern verschwunden?» «Ich glaube nicht, dass sie gänzlich aus der Welt gewichen sind. Vielleicht sind sie bloss vorsichtiger und scheuer geworden, weil das Treiben der Menschen sie verunsichert. Ich habe letzthin gehört, dass eine alte Kräuterfrau aus Merligen in einer Mittwinternacht zu einer Höhle im Wyssental berufen wurde, um in einer Zwergenstube Kindbettdienste zu leisten. Als Lohn erhielt sie von den Erdleutchen eine Handvoll Kohlen, die sich über Nacht in lauteres Gold verwandelten. In den Raunächten ist eben alles möglich. Die Dinge sind dann nicht, wie sie scheinen.» «Grossmutter, warum sagt man eigentlich Raunächte? So rau und garstig sind sie doch gar nicht, nach allem, was du gerade erzählst.» «Bezeichnungen und ihre Bedeutung wandeln sich mit der Zeit, mein Kind. Vielleicht haben die Raunächte nichts mit Rauheit zu tun, sondern vielmehr mit dem Raunen, dem geheimnisvollen Wispern jener unsichtbaren Stimmen, welche der Mensch jetzt besonders deutlich in seiner Seele vernehmen kann. ‹Raunen› leitet sich vom alten Wort ‹Runa› her – und bedeutet ‹Geheimnis› . Du weisst nun, dass diese Jahreszeit die Wiege aller Geheimnisse ist. Womöglich hiessen die zwölf heiligen Nächte früher aber auch Rauchnächte, weil in dieser Zeit traditionellerweise mit reinigenden Kräutern wie Wacholder und Beifuss geräuchert wurde, um Heim, Hof und Stall für das neue Jahr vorzubereiten und einzusegnen.» Die Grossmutter streute mit ruhiger Hand einige getrocknete Blätter auf die Glut und wedelte dem Mädchen den wohlriechenden Rauch zu. Genüsslich schloss die Kleine die Augen und seufzte tief. «Danke, Grossmutter», hauchte sie mit einem seligen Lächeln im entspannten Gesicht. «Jetzt weiss ich, dass es sich lohnt, die Hoffnung niemals aufzugeben.» Die Grossmutter nickte und öffnete die Ofenklappe. Der betörende Duft von frisch gebackenem Lebkuchen vermischte sich mit dem würzigen Kräutergeruch, der sich über dem glosenden Herd kräuselte.
Wendelsee:
Alter Name für den Thunersee. Seine Herleitung ist ungewiss. Vielleicht stammt er von einer alten keltischen Seegöttin her. Andere Deutungen führen den Begriff auf den Heiligen Wendelin zurück oder auf den Volksstamm der Vandalen, welcher zur Zeit der Völkerwanderung durch unsere Gegend zog (lacus vandalicus).
Austage / «Ustage» (Schweizerdeutsch):
alte Bezeichnung für den Frühling.
Wintersonnenwende, Mittwinter:
kürzester Tag des Jahres am 21. Dezember (Thomastag).
Raunächte, auch Losnächte, Zwölften, zwölf heilige Nächte:
besonders bedeutungsvoller Zeitraum zu Mittwinter von 12 bzw. 15 Nächten Dauer. Je nach Auslegung erstreckten sich die Raunächte vom 21. Dezember bis zum 3. Januar bzw. bis zum 6. Januar (Dreikönigstag).
Hardergeist oder Hardermann:
ein launischer Berggeist aus der Sage, dessen versteinertes Gesicht immer noch von Interlaken aus in der Flanke des Harderhügels zu sehen ist.
Zwölf Kirchen am Wendelsee:
Nach der Sage liess Königin Bertha von Burgund im 10. Jahrhundert aufgrund eines Traumes zwölf Kirchen rund um den Thunersee errichten: Aeschi, Amsoldingen, Einigen, Frutigen, Hilterfingen, Merligen, Leissigen, Ringgenberg, Scherzligen, Sigriswil, Spiez, Wimmis. Angeblich stehen sie alle auf ehemaligen Kultplätzen der keltischen Ureinwohner.
Quatemberkinder:
Kinder, welche in den Quatembertagen geboren wurden, den heiligen Tagen in den vier Jahreszeiten (um die Sonnwenden und Tag-Nacht-Gleichen angeordnet), und denen eine besondere Hellsichtigkeit nachgesagt wird.