Sommerferien für arme Thuner Kinder
Sommerferien für arme Thuner Kinder
Eine amerikanische Baronin baut in Hünibach ein neues Schloss und wendet sich wegen eines übergriffigen Bischofs von der katholischen Kirche ab. Sie schreibt ein Buch gegen die Doppelmoral der katholischen Kirche und spendet kurz vor ihrem Tod viel Geld, damit arme Thuner Kinder im Sommer an die frische Luft kommen und an Gewicht zulegen.
Text: Anita Egli | Fotos: Burgerbibliothek Bern, Historische Sammlung Krebser, Ernst Philipp Sistus, Stadtarchiv Thun, zvg
Am 8. Mai 1896 kam Sohn Waldemar zur Welt, im Juni wurde mit dem Bau des Schlosses begonnen. Am 18. August des gleichen Jahres starb Ehemann Carl von Zedtwitz bei einem Segelunfall. Die nun verwitwete Baronin stellte den Schlossbau vorerst ein und überlegte sich wohl, wie und wo sie nun weiterleben sollte. Offenbar war sie gewillt, am Thunersee zu bleiben, denn ab 1900 wurde weitergebaut und 1902 war das neue Schloss fertiggestellt. Die alte Chartreuse liess die Baronin abreissen.
Dann nahm das Leben der katholischen Wohltäterin eine weitere Wendung. 1901 war ihre Schwester Mamie schwer erkrankt; halb gelähmt enthüllte sie Lina ein Geheimnis mit Sprengkraft: Sie hatte, seit sie 19 war, mit Bischof Spalding eine intime Beziehung. Es darf angenommen werden, dass diese Beziehung nicht in gegenseitigem Einvernehmen begonnen hatte. Aus heutigem Blickwinkel jedenfalls liest sich die Geschichte von einem 19-jähringen, reichen katholischen Mädchen mit einem 43-jährigen Bischof doch eher wie ein unerwünschter Übergriff des Bischofs, der seine Machtposition ausnützt.
Die zwei Schwestern gelangten an die Vorgesetzten von Spalding, als dieser Bischof von Chicago werden wollte. Es gab eine vertuschte Untersuchung, die schliesslich die Karriere von Spalding beendete. Dies allerdings, ohne dass die Vorwürfe publik wurden. Beide Schwestern traten aus der katholischen Kirche aus. Mamie tat dies öffentlich (New York Times 16.11.1904), ohne aber die genauen Gründe zu nennen. Schliesslich war sie eine verheiratete Frau und hatte einen Ruf zu verlieren. Papst Leo XIII versuchte sie in einer Privataudienz vom Austritt abzuhalten, sie hatte ja vor 20 Jahren eine Ehrenmedaille von ihm erhalten.
Die Baronin war empört darüber, wie die Kirche alles unter den Teppich kehrte. Sie war in der katholischen Kirche gross geworden, ihr Porträt hing in der katholischen Universität Washington, zu deren grössten Spenderinnen sie mit ihrer Schwester gehörte. Sie verlangte ihr Porträt zurück, ihre Schwester ebenso. Zudem schrieb sie sich ihre Enttäuschung über die Doppelmoral der katholischen Kirche in einem Buch von der Seele, allerdings ohne den Bischof konkret des Missbrauchs zu bezichtigen: The Double Doctrine of the church of Rome. Das Buch erschien 1906 in New York. Damit hatte die Baronin mit der katholischen Kirche endgültig abgeschlossen.
Schloss Chartreuse wurde 1965 abgerissen und das Land überbaut.
Themen- aber nicht Ortswechsel: Seit 1897 organisierte ein Damencomitee in Thun mehrere durch Spenden finanzierte Ferienkolonien für arme und schwächliche Kinder. Die Kinder reisten im Sommer jeweils 20 Tage in die umliegenden Hügel, zum Beispiel nach Oberdiessbach, Aeschi, Diemtigen oder Linden in ein gemietetes Haus, Mädchen und Buben getrennt. Erklärtes Ziel der sogenannten «Ferienversorgung» war es, schwächliche Kinder aufzufüttern. In ihren Jahresberichten legte das Damencomitee unter anderem Rechenschaft darüber ab, wie viel Gewicht die Kinder zugenommen hatten: Im Durchschnitt waren es zwei Kilogramm in zwanzig Tagen.
wohnte im Sommer zusammen mit ihrem Sohn, dem es materiell an nichts mangelte, in einem grossen, leeren Schloss mit Blick auf den Thunersee. Vermutlich sah sie ab und zu arme Kinder oder war vom Damencomitee um Spenden angefragt worden. Sie hatte immer für wohltätige Zwecke gespendet, aber die katholische Kirche kam für ihre Spenden nun nicht mehr in Frage. So bot sie der Stadt Thun an, ein eigenes Ferienheim für die Ferienversorgung zu finanzieren. In Walkringen auf dem Bühl plante und baute die Stadt Thun schliesslich ein Ferienheim mit angeschlossenem Erholungsheim für erholungsbedürftige Kinder. Dazu gehörten zum Beispiel Kinder mit «Blutarmut» oder solche, die an Tuberkulose oder Scharlach gelitten hatten und sich nun erholen sollten. Die Baronin bezahlte 85 000 Fr. (heute rund 1 Million Franken) für den Bau und 3000 Fr. (heute rund 30 000 Fr.) jährliche Betriebskosten. 1908 wurde das Ferienheim eröffnet, im Juli 1909 besuchte die Baronin die Mädchenkolonie und spendete Stoff für die Kleider der Kinder. Kurz darauf starb sie, Ende 1910, mit 45 Jahren.
Die Baronin von Zedtwitz ist neben ihrer Schwester in Louisville, Kentucky (von wo die Familie ursprünglich stammte), begraben. Es handelt sich um ein pompöses und betont nichtreligiöses Grabmal. Ein Jahr zuvor hatte die Baronin es beim Tod ihrer Schwester in Auftrag gegeben. Auf dem Grab steht: «Know the truth and the truth shall make you free» – Kenne die Wahrheit, und die Wahrheit wird dich frei machen.
In ihrem Testament hinterliess die Baronin der Burger- und Einwohnergemeinde Thun 10 000 Dollar zu Gunsten armer Kinder in Thun. Mit diesem Geld baute Thun 1921 eine Kinderkrippe an der Schlossmattstrasse als Ersatz für die zwei Zimmerchen an der Hinteren Gasse bei der Stadtmauer.
Der Bischof Spalding starb 1916. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung, denn er wurde nie öffentlich verurteilt.
Der Erbe der Baronin, Waldemar von Zedtwitz, verkaufte die Chartreuse und verbrachte sein Leben als Bridgespieler.
Schloss Chartreuse wurde 1965 abgerissen und das Land überbaut. Heute erinnert eine Bushaltestelle an die zwei ehemaligen Schlösser.
1979 verkaufte die Stadt Thun das Ferienheim Walkringen. Der Ort war als Feriendestination immer mehr aus der Mode gekommen und die Anmeldungen gingen kontinuierlich zurück. Auch der Schlafsaal für 50 Kinder war nicht mehr zeitgemäss, und das Auffüttern von Kindern war schon lange nicht mehr Ziel der Ferienkolonie.
Das Geld aus dem Verkauf des Ferienheims wurde in den Zedtwitzfond eingespiesen. Noch heute unterstützt die Stadt Thun aus diesem Fond Organisationen, die Ferienlager für Kinder aus schwierigen finanziellen Verhältnissen organisieren.