Franziska Möllinger daguerreotypierte im Berner Oberland

Franziska Möllinger daguerreotypierte im Berner Oberland

Franziska Möllinger daguerreotypierte im Berner Oberland

Eine Reise mit Stativ und Dunkelkammer: Eine junge Frau bereist in den 1840er-Jahren via Thun und Interlaken die bekannten Fremdenorte im Berner Oberland. 

Text: Anita Egli  |  Fotos: Anita Egli, zvg

Ihr Gepäck ist etwas ungewohnt: Sie führt unter anderem eine Fotokamera, beschichtete Kupferplatten und eine mobile Dunkelkammer mit sich, dazu etliche chemische Substanzen wie etwa Quecksilber. Es ist Franziska Möllinger, und sie daguerreotypiert von den ersten Fotografien der Schweiz. 


Als Franziska Möllinger 1843 zu ihrer Berner-Oberland-Reise aufbrach, war sie noch keine 30 Jahre alt. Sie hatte in Solothurn bereits erste Erfahrungen mit Daguerreotypien gemacht, einer ganz neuen Methode, die Welt abzubilden: nicht mehr mit Pinsel oder Stichel wie beim Aquarell oder Kupferstich, sondern mit Licht und Chemie.

In Bern, der ersten Reisestation, entstanden drei Bilder, dann reiste die Fotografin wohl mit einer Kutsche weiter nach Thun, wo sie die klassischen Sujets festhielt: Schloss und Kirche, der schöne Ausblick vom Kirchhof und der Blick auf Hofstetten. Das eben, was vor ihr bereits etliche Kupferstecher wiedergegeben hatten. 

Doch was ist denn das? Schauen wir etwas genauer ins Bild mit Schloss und Kirche. Rechts neben dem Pulverturm – oder schwarzen Turm – hängt Wäsche. Offenbar war gerade Waschtag in Thun, als Franziska Möllinger ihre Kamera am «Zinggen» aufbaute und das Bild einfing, das sich ihr und der Kamera bot. Wir sehen deutlich lange Beinkleider und Hemden an der Leine hängen. Ja, entlang dem Aarequai hing 1843 Wäsche, gar bis 1870, dann verbot die Polizeikommission des Gemeinderates von Thun bei einer Busse von Fr. 50.– im Widerhandlungsfall «das Aufhängen von Wäsche vom Tröckneplatz des Lauitor-Waschhauses längs der Aare bis zur Sinnebrücke und von da unterhalb längs dem neu erstellten Quai.» (Thuner Woche 5.2.1870). 

Nachdem die Bahn 1859 Thun erreicht hatte, wollte Thun den Tourismus ankurbeln und errichtete an der Aare eine Flaniermeile. Da war es vorbei mit dem Unterhosen-Aufhängen am neu erstellten Quai, die Fremden sollen ein sauberes Thun zu sehen bekommen, wenn sie dem Quai entlang spazierten. Doch 1843, als Franziska Möllinger ihr Stativ aufbaute, flatterten die langen Beinkleider noch im Wind. 

Nach dem Fotostopp in Thun ging die Reise weiter nach Unterseen, vielleicht mit dem Dampfschiff, das ja seit 1835 das eine See- Ende mit dem anderen verband. 

Und vielleicht reiste sie ja auch nicht allein, sondern wurde von ihrem Bruder Otto begleitet, mit dem zusammen sie in den letzten Jahren mit Daguerreotypien experimentiert hatte. Otto Möllinger war Mathematikprofessor in Solothurn und publizierte auch einige Artikel zum Thema Daguerreotypie, während Franziska begann, ihre Umwelt mittels der neuartigen Technik festzuhalten. 

Die Stationen der Reise lassen sich an den später publizierten Lithografien ablesen: Bern, Thun, Interlaken, Faulhorn, Grindelwald, Reichenbachfälle usw., die klassischen Reiseziele des 19. Jahrhunderts. Sie war mit ihrer Kamera sicher eine auffällige Erscheinung, aber es sind keine Berichte darüber erhalten, wie die Einheimischen auf die junge Frau reagierten, die zwar ein Stativ aufbaute, aber nicht malte. 

Fotografien waren etwas ganz Neues, kaum jemand hatte schon eine solche gesehen, kaum jemand wusste wohl, was die Frau hinter dem Stativ tat. 

Interlaken entwickelte sich eben zum Fremdenort, als Franziska Möllinger ihre Fotokamera nach Hochbühl an der Harderpromenade schleppte – oder schleppen liess – und Richtung Unterseen ausrichtete. In der Mitte des Bildes sehen wir die noch unkorrigierte Aare, die beidseitig weit ausgreift und zwei Inseln umfliesst. Die Ziege im Vordergrund hat wohl der Lithograf hinzugefügt. Oder hat sich die Ziege dort so fotogen hingestellt?

Daguerreotypien lassen sich nicht kopieren. Zurück in Solothurn liess Franziska Möllinger deshalb die Fotografien von J.F. Wagner lithografieren, also auf Stein zeichnen. Damit löste sie auch das Problem der seitenverkehrten Originale: die Lithografien wurden seitenrichtig kopiert. Von 1844 bis 1845 erschienen unter dem Titel «Daguerreotypierte Ansichten der Hauptstädte und der schönsten Gegenden der Schweiz» vier Mappen mit je vier Lithografien. Diese Mappen bot die Fotografin per Inserat zum Verkauf an, war damit aber nicht sehr erfolgreich, weshalb von den ursprünglich geplanten 30 Lieferungen zu vier Ansichten nur vier Lieferungen erschienen.

Interlaken entwickelte sich eben zum Fremdenort, als Frau Möllinger ihre Fotokamera an die Harderpromenade schleppte.

Das mag an Folgendem liegen: Zwar beruhen die Lithografien auf Daguerreotypien, einer 1845 wahrhaft revolutionären Methode, die Umwelt wiederzugeben. Aber das Publikum sah wohl in den Lithografien keinen grossen Unterschied zu den schon bekannten Kupferstichen der Landschaften der Schweiz. Das Revolutionäre der Technik sieht man den Blättern nur an, wenn man weiss, worauf man achten soll: sie sind ein getreues Abbild der Umwelt, nicht durch das Auge eines Künstlers interpretiert. Ausser, er lithografiert noch eine Ziege ins Bild hinein…

Gerne würde ich hier ein Bild von Franziska Möllinger zeigen – doch von der ersten Fotografin der Schweiz ist bis heute kein Bild bekannt. 

Nach den erfolglosen Versuchen mit den Lithografien gab sie das Daguerreotypieren auf, die Fotografie entwickelte sich weiter, Glasplatten ersetzten die Metallplatten und Papierabzüge wurden möglich. Und all das ist heute, da die digitale Fotografie die analoge abgelöst hat, eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten. 

Franziska Möllinger starb 1880 in Zürich an einer Lungenkrankheit, vielleicht als Folge der Quecksilberdämpfe, denen sie beim Entwickeln der Fotoplatten ausgesetzt war.

Entlang dem Aarequai hing 1843 Wäsche, gar bis 1870, dann verbot die Polizeikommission des Gemeinderates von Thun das Aufhängen von Wäsche.

Die Erfindung der Fotografie

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts experimentierten in Frankreich mehrere Männer mit Chemie und Licht mit dem Ziel, ein getreues Abbild der Umwelt auf einer Metallplatte festzuhalten. 1837 hatte Louis Jacques Daguerre ein solches Verfahren entwickelt und publiziert. Daguerre setzte eine mit Silberiodid beschichtete Metallplatte einfallendem Licht aus, entwickelte das so auf der Platte entstandene Bild mit Quecksilberdämpfen und fixierte es mit einer warmen Kochsalzlösung. Auf der Oberfläche der Metallplatte erschien ein kopfüber stehendes und (in der Draufsicht) zudem seitenverkehrtes Bild. Die so entstandene Fotografie wurde Daguerreotypie genannt, sie war nicht reproduzierbar, das heisst, man konnte keine Abzüge davon machen, sie war also ein Unikat.