Mit Alexandre Dumas auf dem Thunersee anno 1832

Mit Alexandre Dumas auf dem Thunersee anno 1832

Anfang des 19. Jahrhunderts gestaltete sich die Reise über den Thunersee mit Ruderbooten nicht immer nur idyllisch und heiter, sondern manchmal auch abenteuerlich oder gefährlich. Der französische Schriftsteller Alexandre Dumas (1802–1870) berichtet in seinen Reiseerinnerungen von einer stürmischen Fahrt über den Thunersee. 

Text: Karin Rohrbach |  Fotos: zvg

Der junge Mann blinzelt gegen die Sonne, als er das Hotel Freienhof in Thun verlässt. Es ist ein schöner Spätsommertag des Jahres 1832, gegen halb zehn Uhr morgens. Er steigt in das leicht schaukelnde Postschiff, das an der Ländte direkt unterhalb des Hotels auf Passagiere wartet. Das geräumige Ruderboot soll ihn in gut dreieinhalb Stunden zur Station Neuhaus nahe Interlaken bringen. Von dort aus will er per Kutsche und zu Fuss ins malerische Lauterbrunnental reisen. Der soeben zugestiegene Fahrgast heisst Alexandre Dumas. Der 30-jährige Franzose wechselt ein paar höfliche Worte mit der Besatzung und den anderen Gästen und setzt sich hin. Dumas hat sich in seiner Heimat einen Namen als Verfasser von Theaterstücken gemacht. Er steht erst am Anfang seiner Karriere. Später wird man ihn als den produktivsten Schriftsteller der französischen Romantik bezeichnen. Dumas’ Lebenswerk wird einige hundert Werke umfassen – darunter historische Dramen, Gedichte und Romane wie «Die drei Musketiere», «Der Mann mit der eisernen Maske» oder «Der Graf von Monte Christo».

Politische Differenzen mit der Regierung des französischen Königs Louis-Philippe I. und die in Paris ausgebrochene Cholera haben Alexandre Dumas zu einer Reise in die Schweiz bewogen. Die Westschweiz und das Wallis hat er schon besucht, nun geht es über das Berner Oberland und Brig weiter in die Innerschweiz. Nach einem Abstecher in die Nordostschweiz wird er über den Jurabogen nochmals nach Brig reisen und die Tour in Norditalien beenden. Seine Reiseeindrücke hält Dumas in seinen Memoiren fest. Witzig, detailliert und pointiert erzählt er in den 1833/34 publizierten «Impressions de voyage» von seinen Erlebnissen in der Schweiz. Vor Alexandre Dumas bereisten schon andere ausländische Schriftsteller die Thunerseeregion und berichteten darüber wie etwa Goethe (1779) und Heinrich von Kleist, welcher sich im Frühsommer 1802 in einem Landhäuschen auf der Oberen Aareinsel bei Thun aufhielt. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bildete das Berner Oberland eine feste Station jeder Schweizerreise. Mit der aufkeimenden Naturverbundenheit im Zuge der Aufklärung war die Schweiz zu einem gefragten Reiseland geworden. Das Gedicht «Die Alpen» des Berner Universalgelehrten Albrecht von Haller (1729) und weitere Publikationen idealisierten im Geiste des Genfer Gelehrten Jean-Jacques Rousseau das Landvolk und dessen Natürlichkeit und stellten die Schweiz als idyllisches Sehnsuchtsland dar. Literatur und Kunst der Romantik malten dieses Bild im 19. Jahrhundert weiter aus. Zeit und Geld für längere Reisen hatten damals aber nur wohlhabende Bürger, Adlige und Gelehrte, welche aus Abenteuerlust oder aus wissenschaftlichem oder künstlerischem Interesse die Welt bereisten. 


Obwohl die Schönheit des Thuner- und Brienzersees vielfach angepriesen wurde, genossen die beiden Oberländer Seen bei den meisten literarisch interessierten Gästen zu jener Zeit nicht denselben Status wie der Vierwaldstättersee oder der Genfersee, die mit Schillers «Wilhelm Tell» beziehungsweise Rousseaus «Julie oder Die neue Héloïse» verbunden waren. Auch Alexandre Dumas mass der Stadt Thun und der Reise auf dem See keine spezielle Bedeutung bei. Er war vor allem an neuen Geschichten interessiert: Da Thun ausser der Artillerieschule nichts Bemerkenswertes bietet und wir nicht in die Schweiz kamen, um zuzusehen, wie Kanonen abgefeuert werden, belegte ich einen Platz nach Interlaken in einem Postschiff, nicht etwa, weil dieses Transportmittel das angenehmste wäre; vielmehr hoffte ich, während der Überfahrt aus den Mitreisenden etwas herauszuholen, was über die Vorgeschichte dieser Gegend Auskunft geben könnte.

Es ist ein schöner Spätsommertag des Jahres 1832.

Die Überquerung des Sees mit segelhissenden Post- oder Marktschiffen (grössere Ruderboote zum Transport von Waren und Personen mit mindestens vier Mann Besatzung), mit Barken oder mit Privatruderbooten war bis zum Beginn der Dampfschifffahrt ab 1835 der bequemste und schnellste Weg, um nach Interlaken zu gelangen. Das dauerte je nach Transportmittel und Windverhältnissen zwischen drei bis fünf Stunden. Dem Seeufer entlang konnte man zu Dumas’ Zeit nur zu Fuss oder mit dem Pferd reisen. Für Kutschen waren die Wege zu wenig gut ausgebaut. Es sollte noch sechs Jahrzehnte dauern, bis 1893 die linksufrige Thunerseebahn von Thun-Scherzligen nach Därligen verkehrte und weitere 20 Jahre, bis die Strassenbahn am rechten Ufer (Steffisburg–Thun–Interlaken) 1913/ 1914 ihren Betrieb aufnahm. 

Doch zurück zu Alexandre Dumas. Die Ruderknechte haben das Boot inzwischen die Aare hinauf zum See gefahren, wo es nun seit einiger Zeit unterwegs ist. Der Franzose ist zufrieden. Wie erhofft haben ihm die Mitreisenden lokale und schweizerische Sagen, Legenden und Geschichten erzählt. Später wird er diese vertieft recherchieren und damit mehrere Seiten in seinen Reiseerinnerungen füllen. Es sind Wolken aufgezogen, doch der Schriftsteller macht sich keine Sorgen. Fasziniert beschreibt er das Wolkenspiel am Niesen: Der Tag hatte sich verdunkelt, Wolken senkten sich mehr und mehr und verhüllten die weissen Gipfel der Blümlisalp und der Jungfrau, lagerten sich auf die Bergkette halber Höhe, die den zweiten Höhenzug im Gemälde bildet, schnitten den Bergen die Gipfel ab und gaben ihnen die eigentümlichsten und unbekanntesten Formen. Besonders der Niesen, diese prächtige Pyramide, die sich in makellosen Proportionen bis zu einer Höhe von 5000 Fuss erhebt, schien sich mit vollkommenem Wohlbehagen dem phantastischen Spiel dieser launenhaften Kinder der Luft hinzugeben. Zuerst nur ein Gewölk, im Fluge aufgehalten an seinem spitzen Gipfel, setzt es sich dort fest, lässt sich auf seinen breiten Schultern nieder und nimmt schliesslich die wellige Form einer Perücke à la Louis XIV. an. Dann spiralförmig sich verbreiternd, senkt sich das Gewölk bis zu seinem Fuss, vereinigt sich wieder auf seiner Brust und verknotet sich wie eine Krawatte. Schliesslich verdichtet sich diese halbdurchsichtige Masse, senkt sich allmählich, trennt das Haupt dieses Riesen vollständig vom Rumpf und macht aus seinem mächtigen Unterbau eine Tafel, auf der das Tischtuch ausgebreitet scheint für eine Mahlzeit, zu der Micromégas [den] Gargantua eingeladen hätte [zwei riesenhafte Gestalten aus Erzählungen].

Dumas‘ Schilderung der Seeüberfahrt legt nun an Dramatik zu, denn bald zieht ein Sturm auf: Ich war noch ganz mit der Beobachtung all dieser Einzelheiten beschäftigt, als eine Art sichtbar gewordener Nordwind, der die Erde kahl zu fegen schien, aus dem gegenüberliegenden Tal herangestürmt kam, tausendmal schneller als ein Rennpferd. Was ihn sichtbar machte, war nichts anderes als Pulverschnee, den der Wind von den Berggipfeln, von denen er herunter sauste, mitführte. Ich machte unsern Steuermann darauf aufmerksam. Er aber, ohne sich umzukehren, antwortete kurz und brummig, so sehr nahm ihn das Steuerrad in Anspruch: «Ja, ja, ich sehe schon. Ihr könnt euch sicher sein, das wird noch eine heisse Jagd geben, falls wir keine Zeit mehr haben, hinter diesen Felsen dort Schutz zu suchen. Vorwärts, meine Kinder», rief er den Ruderknechten zu, «je zwei an jedes Ruder, jetzt müssen wir schneller fahren!» Die Ruderer legten sich sogleich in die Riemen und unser kleines Boot flitzte über die Wasserfläche dahin wie eine Schwalbe, die nur mit den Flügelspitzen die Wellen berührt. 

Gleichzeitig streifte uns ein erster Windstoss, ein Vorbote des kommenden Sturms, und trug den Hut des Steuermanns davon. Dieser gab sich unbeeindruckt, so dass ich annehmen musste, er hätte es gar nicht bemerkt. «He, Meister!», rief ich ihm zu und wies mit der Hand in die Richtung, wo der Filz auf dem See schwamm wie ein kleines schiffbrüchiges Boot. «Sehen Sie denn nicht?» «Doch, doch», antwortete er, immer noch ohne hinzuschauen. «Na gut, aber Ihr Hut?» «Die Verwaltung muss mir halt einen andern geben; dieser Fall ist im Vertrag vorgesehen. Ohne diese Klausel würde mein Gehalt nicht ausreichen; das ist der fünfte Hut in diesem Jahr!» «Nun denn, du alter Filzhut, gute Reise!» Gleich darauf schien sich der Hut mit Wasser vollgesogen zu haben und verschwand in den Fluten. 

Während ich dem Schiffbruch des armen Filzes zuschaute, fiel mir auf, wie unser Fahrzeug an Schnelligkeit einbüsste. Ich drehte mich um, um die Ursache zu erfahren: Zwei unserer Ruderknechte hatten ihre Ruder fahren lassen und rollten hastig das Segeltuch zusammen, mit dem unser Boot überdacht gewesen war. Dieses Manöver entlockte den mitfahrenden Damen gewaltige Schreckensrufe, denn sie sahen den Regen mit ungeheurer Schnelligkeit herannahen und hatten damit gerechnet, unter dem Tuch Schutz zu finden. Der Steuermann wandte sich zu ihnen um: «Wollt ihr, dass es euch ergeht wie meinem Hut? Nicht? Also, lasst uns machen und verhaltet euch ruhig.» In der Tat war es offensichtlich, dass wir den Schutz, den die Felsen uns boten, nicht mehr rechtzeitig erreichen würden, obwohl wir nur noch an die 50 Fuss von ihnen entfernt waren; der Wind hatte uns an Schnelligkeit überflügelt. Mit durchdringendem Sausen und Pfeifen meldete er sich an und hauchte uns die ersten Schneewirbel ins Gesicht. Unser kleines Boot hüpfte auf dem Wasser wie ein Kieselstein, den ein Kind über das Wasser gleiten lässt. Wir waren inmitten des Or- kans; unser kleiner Ozean gab sich alle Mühe, uns ein richtiggehendes Donnerwetter zu bieten. […]


Es sind Wolken aufgezogen, doch der Schriftsteller macht sich keine Sorgen. 

Dass wir keine Chance auf Rettung hatten, gab mir der Steuermann zu begreifen, als er mich mit halblauter Stimme fragte: «Können Sie schwimmen?» Ich begriff vollkommen und, unter dem Vorwand, mein einziges Kleidungsstück sei eine Bluse und ich wolle sie nicht nass werden lassen, zog ich diese aus und hielt mich auf alles gefasst. Wir kamen indes mit dem blossen Schrecken davon. Unser Boot, beständig vom Winde vor sich hergetrieben, erhielt plötzlich Seitenwind, schien zuerst umkehren zu wollen, um dann schliesslich den See in seiner ganzen Breite zu durchqueren, und landete schliesslich ohne jeden Unfall an der Spitze der Nase [in den See ragendes Felsvorgebirge des Beatenbergs zwischen Beatenbucht und Sundlauenen], unterhalb der Grotte des Heiligen Beatus. 

Sobald ich wieder festen Boden unter den Füssen hatte, dankte ich dem Sturm, statt ihm zu grollen. Denn ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich nun eine Pilgerfahrt zur Beatushöhle unternehmen konnte, die zu besuchen ich sonst keine Gelegenheit gehabt hätte. Ich bezahlte meine Überfahrt und teilte dem Steuermann mit, dass ich den Rest des Weges zu Fuss gehen würde, da nur noch anderthalb Meilen bis Neuhaus zu bewältigen seien, wo ich eine Kutsche nach Interlaken nehmen konnte.

Der Sturm hielt noch ungefähr eine halbe Stunde an. Wir fanden währenddessen Unterschlupf in einer am Fusse des Felsens errichteten Hütte. Die Zeit verstrich und schliesslich hellte der Himmel sich wieder auf. Auch der See hörte auf zu kochen und das Boot machte sich von neuem auf den Weg, während ich mit dem Aufstieg begann in Begleitung eines Jungen, der sich mir als Führer angeboten hatte.

Mit diesen Worten endet Dumas‘ Bericht über seine Fahrt auf dem Thunersee. Auch andere Schriftsteller erlebten stürmische Überfahrten und hielten diese in Gedichten, Memoiren und Erzählungen fest. Dazu gehören der dänische Dichter Jens Baggesen (1789) oder Johann Rudolf Wyss d. J., dessen 1827 publizierte Erzählung «Der böse Rath» thematisiert, wie eine Gesellschaft während eines Gewitters über dem See in derselben Hütte wie später Dumas Zuflucht findet und dort eine Verlobung feiert. «Böser Rath» übrigens deshalb, weil es nach Wyss für die Schiffer im Sturm «fast eben so schlimm gerathen ist, hier vorüber zu schiffen, als eine Landung zu wagen.» Realere Berichte von Sturmfahrten auf dem Thunersee sind vom Grindelwaldner Pfarrer Friedrich Lehmann (1805) oder vom deutschen Theologen und Pfarrer Carl von Kapff (1829) überliefert.

Es darf angenommen werden, dass Monsieur Alexandre Dumas sein abenteuerliches Erlebnis auf dem Thunersee seinem Naturell und Talent entsprechend leicht dramatisiert und ausgeschmückt hat. Ganz so, wie es in seinen berühmten Abenteuerromanen nachzulesen ist: Tapfere, edle Helden, welche alle Hindernisse und Gefahren mutig und tatkräftig meistern.

Porträt von Alexandre Dumas um 1832.


Dumas’ Fahrt auf dem Thunersee ist im zweiten Band seiner Schweizerreise festgehalten, hier in der Neuauflage der «Impressions de voyage» von 1853.

«Wollt Ihr, dass es euch wie meinem Hut ergeht?», Illustration aus Dumas’ «Impressions de voyage» (Neuauflage 1853). Der Steuermann kämpft sich durch den Sturm auf dem Thunersee.