Ischig – Eisgewinnung am Thunersee und an den Grindelwaldgletschern

Ischig – Eisgewinnung am Thunersee und an den Grindelwaldgletschern

Ischig – Eisgewinnung am Thunersee und an den Grindelwaldgletschern

Titelbild: Der Untere Grindelwaldgletscher mit der Lütschine und dem Mättenberg, Gemälde des Schweizer Hochgebirgsmalers Caspar Wolf (1735 bis 1783).

Wenn wir an einem heissen Sommertag eine Glace aus dem Gefrierfach nehmen, in einem Restaurant sitzend ein gekühltes Getränk geniessen oder im Supermarkt ein Rindsfilet in den Einkaufswagen legen, ist das für uns nichts Besonderes. Doch vor über 100 Jahren waren Kunsteis und Kühlaggregate noch keine Selbstverständlichkeit. Zur Kühlung wurde Natur­eis verwendet, abgebaut an Weihern, Seen oder Gletschern.

Text: Karin Rohrbach  |  Fotos: zvg

Anfang der 1870er-Jahre begann der gewerbsmässige Eisabbau in Thun-Dürrenast zwischen dem Lachengraben (Schiffswerft BLS) und dem Gwattlischenmoos entlang des See- ufers. Zu diesem Thema haben insbesondere Louis Hänni («Strättligen») und der frühere Thuner Stadtarchivar Dr. Jon Keller geforscht. Die Burgergemeinde Strättligen legte in den 1880er-Jahren von der Schiffswerft bis zum Pfaffenbühl südlich des heutigen Strandbads mehrere eigens ausgehobene Gruben als Eisweiher an. Diese waren etwa vier Meter tief und vor direktem Wellenschlag geschützt. Das Eis wurde dicker und kompakter als auf dem offenen See und konnte früher geerntet werden. Der Burgerrat der Burgergemeinde Strättligen erhob eine Gebühr pro weggeführte Wagenladung Eis und ernannte sogenannte Eisausbeuter, welche die Bestellungen entgegennahmen und für die geordnete Eisentnahme verantwortlich waren. Nach Erstellung des Lachenkanals 1892/93 wurde dort ebenfalls Eis geerntet, was wie andernorts zu einem Betretungsverbot führte, damit die Eisfläche sauber und kompakt blieb. Was das Gewerbe freute, ärgerte Kinder und Jugendliche, denen damit die Schlittschuhbahn verkleinert wurde.

Nicht nur am Thunersee, sondern auch am Amsoldingersee und am Brienzersee – etwa am Burgseeli in Goldswil bei Ringgenberg – wurde eifrig «geischt». Hauptabnehmer für das Eis vom Brienzersee waren die Spediteure Sommer & Cie., welche ein Bierdepot in Interlaken betrieben. Die Bierbrauereien pachteten zumeist einen eigenen Weiher, um diesen in Eigenregie auszubeuten. Die Interlakner Brauereien sägten ihr Eis im erwähnten Burgseeli, und die Thuner Bierbrauerei Feller – zuerst unter Jakob Feller, dann unter seinem Sohn Gottfried (1839–1900) – versorgte sich an einem eigenen Eisweiher am Thunersee. Das Eis lagerte die Brauerei in den von Jakob Feller um 1860 angelegten Felsenkellern im Thuner Schlossberg, zugänglich über die Burgstrasse. Nebst Brauereien waren auch Restaurants, Hotels, Metzgereien, Confiserien, Spitäler und die obere Gesellschaftsklasse (für ihren Privatbedarf) Abnehmer von grösseren Mengen Natureis. 

Zumeist erfolgte die Eisausbeutung im Dezember und Januar. Weil immer mit Föhn- oder Tauwettereinbrüchen zu rechnen war, wurde bei guter Witterung tagelang durchgearbeitet. Beim arbeitsintensiven Eis­abbau – Ausbrechen, Verladen, Transport und Einkellern – waren bis zu 100 Mann gleichzeitig beschäftigt. Volkswirtschaftlich war die Eisgewinnung von grosser Bedeutung, weil sie insbesondere Landwirten und Bauarbeitern, die in den Wintermonaten kaum Arbeit hatten, einen willkommenen Verdienst brachte.

Die Eisdecke musste für den sicheren Abbau des Eises mindestens zehn Zentimeter dick sein. In strengen Wintern wurden über 20 Zentimeter Eisdicke gemessen. Der Eisabbau folgte einem genauen Ablauf, der bei Louis Hänni detailliert nachzulesen ist. Kurz gesagt wurde die Eisfläche zuerst mit einem Pflug in die gewünschten Stücke vorgeritzt, bevor man mit einer Art Fuchsschwanzsäge Blöcke in der Grösse von etwa 80 × 70 Zentimetern aussägte. Jeder Block wog gegen 50 Kilogramm. Die Blöcke wurden mit Haken auf das feste Eis gezogen, blank gewischt und auf die Fuhrwerke verladen.

Pro Tag wurden am Thunersee je nach Dicke des Eises zwischen 40 und 100 Fuder (Wagenladungen) abgeführt, das heisst bis zu 4000 Zentner (200 Tonnen) Eis. Im Vergleich zu dem für das «Ischen» berühmten Glarner Klöntalersee war das wenig. Dort baute man – auch für den Export – täglich 500 Tonnen Eis ab. 

Mit zweispännigen Pferdewagen wurden die Eisplatten entweder direkt in die Keller der Kunden geliefert oder in speziell isolierten Eishäusern zwischengelagert. Dort hielt sich das Eis, mit Sägemehl oder Moos bedeckt, den ganzen Sommer über. 

Der Eisbedarf steigerte sich im Zuge der Industrialisierung, der hohen Nachfrage des Gewerbes und des aufkommenden Tourismus von Jahr zu Jahr, was den Siegeszug von Kunsteis und Kühlmaschinen beschleunigte. 1876 liess der deutsche Ingenieur und Erfinder Carl von Linde seine Kompressionskältemaschine patentieren und legte damit den Grundstein für die Entwicklung der Kühlschränke. Diese wurden jedoch erst in den 1950er-Jahren zu einem Massenprodukt. Die Brauerei Felsenau gründete 1891 die erste Kunsteisfabrik in Bern, weitere Eisfabriken folgten. Die letzte grössere Eisausbeute am Thunersee fand 1931/32 statt. Doch es wurde weiterhin in kleineren Mengen Natureis abgebaut, etwa während des Zweiten Weltkriegs im Januar 1940, als laut Oberländer Tagblatt «die Arbeiter eines Bierdepots auf einem Eisweiher im Dürrenast die kristallklaren Platten heraussägten».

Die Eisdecke musste für den sicheren Abbau des Eises mindestens zehn Zentimeter dick sein.

In milden Wintern mit geringer Eis­ausbeute oder bei ausgehendem Eisvorrat im Sommer musste Eis von anderen Seen zugekauft werden, etwa vom Davosersee. Als Alternative bot sich Gletschereis an, das vorwiegend in den Kantonen Bern, Wallis und Graubünden gewonnen wurde.

Der Schweizer Schriftsteller, Jurist und Politiker Franz Krutter (1807–1873) unternahm im Sommer 1834 einen Ausflug ins Berner Oberland. Er kam in Grindelwald vorbei und hörte, «dass ein Engländer dort kürzlich eine starke Ladung Gletschereis um einen mässigen Preis an sich gekauft, und nach London abgeführt habe, um Gefrorenes damit zu verfertigen, und dass er durch den Verkauf eines so merkwürdigen Produkts, als glaces véritables oder authentiques de Grindelwald, grosse Fortüne zu machen hoffe».

Bevor mit der Klimaerwärmung der allgemeine Gletscherschwund einsetzte, hatten die Gletscher Mitte des 19. Jahrhunderts, gegen Ende der Kleinen Eiszeit (circa 1300 bis 1850), nochmals ihre höchste Ausdehnung erreicht. Der Obere und Untere Grindelwaldgletscher galten seit dem 18. Jahrhundert als eine der grössten Sehenswürdigkeiten der Schweiz und zogen zahlreiche Touristen und Forschende an. Die Eismassen dehnten sich fast bis ins Dorf Grindelwald aus, was europaweit einzigartig war. Der Untere Grindelwaldgletscher wurde zum meistbesuchten Gletscher des gesamten Alpen- raums und gilt heute als der bestdokumentierte Alpengletscher. 

Die kommerzielle Eisgewinnung, von der Grindelwald mit den Konzessionsgebühren profitierte, begann am Unteren Grindelwaldgletscher um 1850, am Oberen Gletscher um 1900. Der Abbau endete gegen 1920. Auch wenn das regionale Gewerbe wie die Interlakner Brauerei Indermühle (später Rugenbräu) oder die Hotellerie Gletschereis bezogen, war der Abbau stark exportorientiert. Die Ausfuhren erfolgten vorwiegend in die Rheingegenden und ins Elsass. Nicht nur Hotels, Brauereien und Confiserien erwarben Gletschereis. Laut zeitgenössischer Presse soll das Gletschereis in Zeiten des Russisch-Türkischen Krieges (1877/78) in bulgarischen Spitälern und Lazaretten verwendet worden sein. 

Die Berner Firma Schegg & Böhlen lieferte zwischen Februar und Juni 1863 rund 736 Tonnen Grindelwaldner Gletschereis über Basel ins Ausland nach Mainz, Wiesbaden, Strassburg, Paris und in andere Städte. Weitere Firmen stiegen ebenfalls ins Gletschereisgeschäft ein, darunter Spediteur A. Tremp, der 1874 einen Eiskeller in Interlaken errichtete. 

«Vue des glaciers supérieurs et inférieurs du Grindelwald. Canton de Berne.» Druckgrafik 19. Jh., kolorierte Aquatinta. Maler unbekannt. (Schweizerische Nationalbibliothek).

In den 1870er-Jahren sprach die Presse begeistert von einem «kolossalen Aufschwung» der Gletschereisexporte. Mehrere Grindelwaldner Hoteliers schlossen sich zu jener Zeit mit der bedeutendsten Eishandlung der Schweiz zusammen, der Firma C. A. Bauer in Zürich, und gründeten die «Eis-Export-Gesellschaft von Grindelwald». Diese liess eine zwei Kilometer lange Rollbahn («Gletschereis- Bahn») von Grindelwald-Grund an die Zunge des unteren Gletschers bauen. Die Rollbahn hatte im unteren Teil, auf einer Länge von etwa 1,8 Kilometern, eine Steigung von drei bis fünf Prozent; «dann steigt die Anlage mit einer ziemlich grossen Curve mit 45–50 % gegen den Gletscher hinauf, um dann wieder ziemlich eben denselben zu erreichen. Zwei grosse Drehscheiben, um welche das Drahtseil zweimal umläuft, dienen als Bremsvorrichtung. Gefahr ist keine vorhanden, namentlich nicht für Menschenleben, da die beladenen Wagen, je einer nach dem andern, ohne Begleitung bergab gelassen werden. Der beladene, abwärts fahrende Wagen zieht den ­leeren auf dem zweiten Geleise aufwärts.» 

Wie in einem Steinbruch leisteten gegen 60 Arbeiter Schwerstarbeit und brachen das Eis in kubische Blöcke, vor allem in den wärmeren Jahreszeiten. Jeder Block hatte ein Gewicht von 50 bis 75 Kilogramm. Um 1870 wurden täglich zwischen 10 und 15 Tonnen Eis (circa 200 Blöcke) abgebaut und verladen, in späteren Jahren waren es deutlich mehr. 

Wie risikoreich die Arbeit am Gletscher war, ist dem Thuner Wochenblatt vom 1. Januar 1873 zu entnehmen: «Letzten Donnerstag verunglückten hier beim Eisbrechen zwei Arbeiter mit Namen Rubin und Roth. Durch den mehrere Tage anhaltenden Föhn wurde das Gletschereis stellenweise weich und zerbröckelte. Infolge dessen fielen gewaltige Eisstücke von der Höhe herunter auf die beiden Arbeiter und wurden dieselben furchtbar zugerichtet, so dass Rubin, der einzige Sohn einer Witwe, ein wohlbeleumdeter junger Mann, bald nach diesem Vorfalle starb. Roth wurde ebenfalls schwer verletzt, so dass man um sein Leben besorgt ist. Andere Arbeiter konnten glücklicherweise noch rechtzeitig der Gefahr ausweichen.»

Weil Grindelwald erst 1890 bahntechnisch erschlossen wurde (Schmalspurbahn Berner-­Oberland-Bahn BOB von Interlaken Ost nach Grindelwald), musste das Eis anfänglich mit Fuhrwerken nach Därligen an den Thunersee transportiert werden. Im Sommer verlor ein Eisblock während des Transports etwa ein Drittel seiner Masse. Dennoch blieb der Eishandel ein lohnendes Geschäft. Von ­Därligen aus erfolgte der Bahnverlad nach Interlaken via Bödelibahn oder die Umladung auf ein Trajektdampfschiff (Eisenbahnfähre) nach Thun–Scherzligen. Von hier aus wurde das Gletschereis mit der Eisenbahn Richtung Bern–Basel spediert.

«Letzten Donnerstag verunglückten hier beim Eisbrechen zwei Arbeiter mit Namen Rubin und Roth.»

Die Bödelibahn war die erste Eisenbahn im Berner Oberland. Sie fuhr ab 1872 als Normalspurbahn zwischen Därligen und Interlaken und ab 1874 von dort aus weiter bis nach Bönigen am Brienzersee. Bekannt war sie vor allem für die doppelstöckigen Personenwagen und die drei Lokomotiven Bise, Föhn und Zephir. Die Bödelibahn übernahm den gesamten Güterverkehr auf dem Thu­nersee. Das erste Trajektdampfschiff fuhr 1873, ein weiteres kam 1886 hinzu. Auf dem circa 40 Meter langen und über sechs Meter breiten Deck befand sich ein Geleis, auf dem vier bis fünf beladene Eisenbahnwagen Platz fanden. Transportiert wurden hauptsächlich Lebensmittel für die Interlakner Hotel­lerie, aber auch Baumaterialien, Holzskulpturen oder eben Gletschereis. 

Die Trajektschifffahrt Thun–Scherzligen–Därligen endete 1893, als die ersten Züge auf der neuen Linie Interlaken–Spiez–Thun verkehrten (Thunerseebahn). 1899 fusionierte die Bödelibahn mit der Thunerseebahn. Das Unternehmen übernahm den ­gesamten Dampfschiffbetrieb auf dem Thuner- und Brienzersee und wurde 1913 von der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) übernommen.

Auch wenn der kommerzielle Abbau und Export von Grindelwaldner Gletschereis im Verlauf der 1890er-Jahre mit dem aufkommenden Kunsteis und neuen Kühlmöglichkeiten immer unbedeutender wurde, griff das inländische Gewerbe nachweislich bis in die 1930er-Jahre weiterhin auf Gletschereis zurück. 

Seit Beginn der Eisausbeutung am Unteren Grindelwaldgletscher um 1850 verlor dieser im Zuge der Klimaerwärmung rund 30 Prozent seiner Fläche. Gesamtschweizerisch ist die Gletscherfläche in der gleichen Periode um rund die Hälfte zurückgegangen. Die Bilder und Berichte von der Eisgewinnung an den beiden Grindelwaldgletschern werden bei zukünftigen Generationen wohl grosses Staunen auslösen. 

Schliesslich sei noch angemerkt, dass man in Grindelwald vor über 150 Jahren ebenfalls mächtig staunte, nämlich um 1865, als der Untere Grindelwaldgletscher ein kleines Geheimnis preisgab: In den Schuttablagerungen des sich zurückziehenden Gletschers fand der Wirt der Gletscherhütte einen grossen, sorgfältig behauenen und mit «L. 150» beschrifteten rötlichen Marmorblock. Wie sich nach einigem Rätseln herausstellte, war an dieser Stelle seit den 1730er-Jahren ein Marmorsteinbruch betrieben worden, der jedoch wegen des Gletschervorstosses um 1760 aufgegeben werden musste. Die von diesem Fund angestossene erneute Marmorgewinnung in Grindelwald ab den 1890er-Jahren endete bereits um 1903 und war damit bei Weitem nicht so bedeutend wie der Abbau von Gletschereis, der über zwei bis drei Generationen hinweg erfolgte.