Heinrich von Kleist: mit Fischern auf dem Thunersee

Heinrich von Kleist: mit Fischern auf dem Thunersee

Heinrich von Kleist: mit Fischern auf dem Thunersee

Viel Prominenz hat sich im Laufe der Jahrzehnte in Thun und am Thunersee für kürzere oder längere Zeit aufgehalten: Musiker wie Johannes Brahms oder der Operettenkönig Ralph Benatzky, Maler wie Ferdinand Hodler oder William Turner, Dichter wie Johann Wolfgang von Goethe oder Rainer Maria Rilke und gekrönte Häupter wie Kaiser Napoleon III. oder König Feisal von Irak. In diese Reihe berühmter Persönlichkeiten gehört auch der deutsche Dichter Heinrich von Kleist, der 1777 in Frankfurt an der Oder geboren wurde und 1811 in Potsdam bei Berlin seinem Leben durch Suizid ein Ende setzte.

Text: Jon Keller  |  Fotos: zvg

Seine zeitlosen Werke, etwa «Der zerbrochne Krug» oder «Penthesilea», sind heute so aktuell wie damals und werden noch immer häufig in Theatern gespielt. Einige Wochen im Sommer 1802 und einige Tage im Jahre 1803 weilte Heinrich von Kleist in Thun auf der Oberen Aareinsel, die heute Kleist-Inseli heisst, in einem gemieteten kleinen Haus.

Kleist auf der Suche nach einem Bauerngut

Zu Beginn des Jahres 1802 befasste sich Kleist mit dem Gedanken, in der Schweiz ein Bauerngut zu kaufen und als Grundherr einen Landwirtschaftshof zu betreiben. Er glaubte, sich in bäuerlicher Stille und Abgeschiedenheit besser seinen dichterischen Vorhaben widmen zu können. So plante Kleist, im Gwatt einen Bauernhof zu erstehen. Diesen Wunsch konnte er sich jedoch nie verwirklichen. Deshalb beschloss er, in Thun Wohnsitz zu nehmen, um von hier aus weiter nach einem passenden Objekt zu suchen. Über ein in der Folge gefundenes Mietobjekt, ein kleines Häuschen auf der Oberen Aareinsel, steht in einem Brief, den Kleist am 2. März 1802 einem befreundeten Schriftsteller sandte: «Ich habe mir eine Insel in der Aare gemietet, mit einem wohleingerichteten Häuschen, das ich in diesem Jahre bewohnen werde, um abzuwarten, wie sich die Dissonanz der Dinge auflösen wird. Ich werde in einigen Wochen einziehen.»

Kleist auf der Aareinsel 1802

Es ist anzunehmen, dass Kleist Ende April 1802 in sein Inselhaus einzog. Von Thun aus schrieb er am 1. Mai 1802 an seine Schwester Ulrike in Deutschland: «Mein liebes Ulrikchen, ich muss meiner Arbeit einmal einen halben Tag stehlen, um Dir Rechenschaft zu geben von meinem Leben. […] Jetzt leb’ ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluss des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, ¼ Meile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemietet und bewohne es ganz allein. Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirtschaft führt; ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli. Mit der Sonne stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu Euch; dann essen wir zusammen; sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, und nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiss ich von der ganzen Welt nichts mehr.»

Zweiter Aufenthalt 1803

Kleist lebte auf der Aareinsel von Ende April bis Juni 1802. In dieser Zeit verwarf er auch den Plan, ein Bauerngut in der Schweiz zu kaufen. Die napoleonischen Wirren und Besetzungen in der Schweiz und in Europa versetzten Kleist in einen Zustand der Angst und Sorge, denn als ehemaliger preussischer Offizier war er kein Freund von Frankreich. Ende Juni 1802 erkrankte Kleist in Thun. Daraufhin reiste er nach Bern zur Heilung und Rekonvaleszenz. Im folgenden Jahr 1803 weilte Kleist zusammen mit einem Freund erneut in der Schweiz. Zweimal hielt er sich dabei für kurze Zeit in Thun auf, im August und im September 1803.

Fruchtbare Schaffensperiode Kleists in Thun

Die Frühsommerwochen 1802, die Kleist auf der Aareinsel verbrachte, waren eine Phase intensiven Schaffens. Kleist befasste sich mit der Fertigstellung des Dramas «Familie Schroffenstein», er konzipierte die Komödie «Der zerbrochne Krug» und er begann, sich unter grosser Anstrengung mit dem Drama «Robert Guiskard» auseinanderzusetzen und erste Teile niederzuschreiben. Das Drama erzählt von der tödlichen Pest. Leider sind uns heute nur Fragmente dieses Werks überliefert, denn Kleist verbrannte Teile des Manuskripts in Paris. 

Kleists Haus steht heute nicht mehr 

Während Jahrzehnten verwahrloste das Kleisthaus auf der Oberen Aareinsel zunehmend, sodass eine Renovierung der immensen Kosten wegen nicht mehr möglich war und es 1940 abgerissen werden musste. An der Stelle, wo einst das Kleisthaus stand, wurde eine Tafel angebracht, die an Kleist erinnert. Gut sichtbar ist sie von den Thunerseeschiffen aus, welche den 1926 eingeweihten Thuner Schiffskanal passieren. Auf der Tafel steht zu lesen: «Auf dieser Insel wohnte der Dichter Heinrich von Kleist 1802–1803.» Diese Inschrift ist allerdings nur bedingt richtig, denn Kleist weilte ja, wie dargelegt, bloss einige Sommerwochen anno 1802 und einige Tage im Jahre 1803 im Inselhaus. Eine Beschreibung des Sigriswiler Schriftstellers Adolf Schaer-Ris über das Interieur des Kleisthauses aus dem Jahr 1927 lässt einen Blick in die Vergangenheit zu. Schaer-Ris schreibt: «Wir treten durch das niedere Türchen. Ein schmaler Gang und bloss zwei Meter hoch. Eine Küche, drei auf drei Meter im Geviert. Ein schmaler Wohnraum im Westflügel, fünf auf drei Meter. Ebenso im ersten Stock. Hier sind einige Wappen in die winzigen Fensterscheiben gekritzt, von einem orthographisch unsichern Handwerker auf Bestellung wohl, und alle tragen dieselbe Jahreszahl 1760.»

Während Jahrzehnten verwahrloste das Kleisthaus auf der Oberen Aareinsel zunehmend, so dass eine Renovierung der immensen Kosten wegen nicht mehr möglich war und es 1940 abgerissen werden musste.