Schlimmer als Corona: Die Grippe-Pandemie von 1918 in Thun

Schlimmer als Corona: Die Grippe-Pandemie von 1918 in Thun

Schlimmer als Corona: Die Grippe-Pandemie von 1918 in Thun

Die weltweite Coronapandemie mit den unzähligen Erkrankungen und vielen Todesfällen ist noch allgegenwärtig, auch wenn momentan davon ausgegangen werden kann, dass der Höhepunkt der Coronapandemie-Erkrankungen hinter uns liegt und das Schlimmste überstanden ist. Was heutigen Zeitgenossen kaum bekannt ist: Derartige Epidemien und Pandemien sind in vergangenen Zeiten immer wieder aufgetreten. 

Text: Dr. Jon Keller, Historiker |  Fotos: Stadtarchiv Thun, zvg

Erwähnt sei beispielsweise der sogenannte «Schwarze Tod», Pestepidemien, die in Europa vorab vom 14. bis ins 17. Jahrhundert auftraten. Kaum hundert Jahre ist es her, dass die sogenannte Spanische Grippe 1918, aber auch noch 1919 und 1920 weltweit wütete und enorm viele Todesopfer forderte, namentlich auch bei Menschen der Alterskategorie von 25 bis 45 Jahren. Hervorgerufen wurde sie durch das Influenzavirus A/H1N1. Festzuhalten ist, dass diese Grippepandemie im Bezug auf die damalige Bevölke- rungszahl bedeutend mehr Todesopfer forderte als die Coronapandemie. Die Weltbevölkerung umfasste 1918 ungefähr 1,8 Milliarden Menschen und gezählt wurden rund 40 Millionen Grippetote. Genaue Statistiken, wie sie heute üblich sind, wurden damals nicht geführt. Rechnet man diese 40 Millionen Tote auf die heutige Weltbevölkerung von rund 8 Milliarden Menschen um, ergäbe das eine Anzahl von rund 177 Millionen Toten, also, wie oben bereits dargelegt, weit mehr Tote als Coronatote in unserer Zeit. 


Vermeiden von Menschenansammlungen

Die Hauptmassnahmen in der Grippebekämpfung in der Stadt Thun zielten dahin, grosse Menschenansammlungen zu vermeiden, um die Gefahr von Ansteckungen zu bannen. Zeitweise waren damals verboten: Konzerte, Theatervorstellungen, Kinos, Gottesdienste, Leichenfeiern (öffentliche, private waren gestattet), Vereinsversammlungen, Feste, Märkte mit Ausnahme der Lebensmittelmärkte. Geschlossen waren zeitweise auch die Schulen. Den Schülern wurden Hausaufgaben gestellt, die in einer vorgeschriebenen Frist gelöst und dann beim Lehrkörper abgegeben werden mussten, denn E-Mails waren damals natürlich noch unbekannt. Die Gaststätten wurden nie ganz geschlossen, mussten jedoch zeitweise um zehn Uhr abends schliessen. Diese Verbote traten dabei zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Kraft und wurden auch stufenweise wieder ausser Kraft gesetzt.


Spezialärzte zu allgemeiner Praxisführung verpflichtet

konnten behördlich sofort geschlossen werden, falls sich dort an Grippe erkrankte Personen befanden. Thuner Spezialärzte wurden vom Gemeinderat zur allgemeinen Praxisführung verpflichtet, und abwesende Ärzte, beispielsweise wegen Ferien, wurden zu Beginn der Pandemie aufgefordert, in ihre Arztpraxen zurückzukehren. Das Thuner Stadtbauamt war für eine intensive Strassenbespritzung und -reinigung besorgt. Das Spital Thun teilte in den Lokalzeitungen mit, dass Besuche bei oder durch Grippekranke verboten und nur in seltenen Ausnahmefäl- len erlaubt waren. Ferner teilte die Stadtpolizei Thun mit, dass Einwohner sich im Spital Thun verpflegen lassen sollten, falls zu Hause eine genügende Isolierung Grippekranker (Ansteckung durch infiziertes Essen) nicht gewährleistet war. 

Impfeffizienz bezweifelt Die Frage einer allfälligen Impfung, namentlich von Schülern, wurde zwar eifrig diskutiert, schliesslich wurde jedoch davon abgesehen, da man von der medizinischen Effizienz nicht überzeugt war. Noch erwähnenswert: In den Tageszeitungen wurde immer wieder und mit Nachdruck auf die notwendige Selbstdisziplin der Bevölkerung hingewiesen, ohne die das weitgehendste Versammlungsverbot wenig taugen konnte. So wurde beispielsweise postuliert, das oft überfüllte Thuner Tram, das damals von Steffisburg über Gunten nach Interlaken führte, zu meiden, ebenso natürlich überfüllte Lokalitäten. 118 Todesopfer in der noch kleinen Stadt Thun 118 Tote, eingerechnet verstorbene Wehrmänner, die auf dem Waffenplatz Thun ihren Dienst absolvierten, waren eine erschreckend grosse Anzahl, angesichts der damaligen Einwohnerzahl in Thun von 14000 Personen (heute zählt die Stadt Thun 44000 Einwohner). Neuerkrankungen durch Grippe wurden damals durch das Polizeiinspektorat gemeldet und in der Tagespresse veröffentlicht: Über 300 Neuerkrankungen pro Woche waren dabei keine Seltenheit.


Impfeffizienz bezweifelt

Die Frage einer allfälligen Impfung, namentlich von Schülern, wurde zwar eifrig diskutiert, schliesslich wurde jedoch davon abgesehen, da man von der medizinischen Effizienz nicht überzeugt war. Noch erwähnenswert: In den Tageszeitungen wurde immer wieder und mit Nachdruck auf die notwendige Selbstdisziplin der Bevölkerung hingewiesen, ohne die das weitgehendste Versammlungsverbot wenig taugen konnte. So wurde beispielsweise postuliert, das oft überfüllte Thuner Tram, das damals von Steffisburg über Gunten nach Interlaken führte, zu meiden, ebenso natürlich überfüllte Lokalitäten. 118 Todesopfer in der noch kleinen Stadt Thun 118 Tote, eingerechnet verstorbene Wehrmänner, die auf dem Waffenplatz Thun ihren Dienst absolvierten, waren eine erschreckend grosse Anzahl, angesichts der damaligen Einwohnerzahl in Thun von 14000 Personen (heute zählt die Stadt Thun 44000 Einwohner). Neuerkrankungen durch Grippe wurden damals durch das Polizeiinspektorat gemeldet und in der Tagespresse veröffentlicht: Über 300 Neuerkrankungen pro Woche waren dabei keine Seltenheit.


Drei Notspitäler 

Die grosse Anzahl von Neuerkrankungen liess das Thuner Krankenhaus (wie das Spital Thun damals offiziell hiess) bald einmal an seine Kapazitätsgrenzen kommen, weshalb Notspitäler eingerichtet werden mussten, vor allem auch deshalb, weil sehr viele Angehörige der Armee an Grippe erkrankten. Ein Notspital wurde im zweiten Stock des Aarefeldschulhauses installiert, das gegenüber dem heutigen Thuner Bahnhof stand. Die Verpflegung war durch die Volksküche gewährleistet. In den Zeitungen wurde ein Aufruf an die Öffentlichkeit erlassen, die gebeten wurde, Wäsche (namentlich Kinder- und Frauenwäsche) zu spenden. Als sehr willkommen wurde auch Honig in Empfang genommen, aber auch Biskuits, Konfitüre, Zwieback, Eier, Äpfel, Lindenblüten und Stärkungsmittel, man höre und staune, wie Rotwein und Cognac, schliesslich auch sanitäre Artikel wie Urinflaschen und Spucknäpfe. Der Waffenplatz seinerseits richtete zwei Notspitäler in der Pension Itten an der Länggasse (hier steht heute das Oberstufenschulhaus Länggasse) und in der Kaserne Thun ein.


Fräuleins aus besser situierten Kreisen

Die Notspitäler erforderten natürlich viel zusätzliches Pflegepersonal. Mit öffentlichen Aufrufen von Behörden und Samaritervereinen wurde versucht, freiwillige Pflegerinnen zu rekrutieren, was oft Probleme verursachte, nicht zuletzt auch angesichts der Entlöhnung, die sehr schlecht war. Geschäftsinhaber wurden gebeten, Frauen und Töchter für den Krankenpflegedienst zu dispensieren. Nicht ohne Bitterkeit wurde in der Tagespresse festgehalten: «Immer sehe man aber noch Fräuleins aus besser situierten Kreisen untätig herumbummeln.»


Wundermittelchen 

Krankheitspandemien rufen die pharmazeutische Industrie, aber auch Hersteller von nicht rezeptpflichtigen Heil- und Wundermittelchen auf den Plan, wobei viele derartige Angebote als Scharlatanerie bezeichnet werden mussten. So wie in Thun und im Berner Oberland die Grippefälle zunahmen, vermehrten sich in den Zeitungen von damals die Annoncen für derartige Mittel und für heilversprechende Apparaturen. Die meisten wollten dabei eine Ansteckung durch Grippeviren verhindern. Andere sollten Genesenden wieder neue Kräfte schenken. Diese Mittel waren kaum von grossem Nutzen, stifteten aber immerhin keinen zusätzlichen Schaden. Der Kuriosität wegen sei eine Auswahl von derartigen Heilmitteln angeführt. Zur Vorbeugung und während der Erkrankung wurde Dixa empfohlen, ein Influenzatee gemäss der Broschüre «Chrut u Uchrut» des damals äusserst populären Pfarrer Künzle. Grippsano sollte vor Ansteckung beim Telefonieren schützen. Grippsano konnte in einer Tasche mitgetragen werden, um dann während des Sprechens auf den Sprechtrichter des Telefons gehängt zu werden. Ein Grippeschutzbeitrag besonderer Art ging von einem Berner Arzt aus, nämlich der Vorschlag, einen Maulkratten zu tragen, um eine Ansteckung verhindern zu können. Das Thuner Tagblatt schrieb dazu: «Das allgemeine Tragen des Maulkrattens wird einen grotesken Zug ins öffentliche Leben bringen. Die Einbusse, die dabei die Menschenwürde wird zu erleiden scheinen, wird aber mit Humor zu ertragen sein, meint unser Mitarbeiter. Derjenige Teil der Menschheit, der sich so emphatisch der schönere nennt, wird wohl nicht derselben Ansicht sein.» 

Die Grippepandemie brachte in vielen Ländern, und so auch in der Schweiz, massive volkswirtschaftliche Schwierigkeiten und Einbussen. Der Ausfall von Arbeitskräften, aber auch finanzielle Aufwendungen für Medikamente, Krankenpflege, Ärzte usw. wogen schwer. Im Thuner Tagblatt vom 17. Oktober 1918 stand dazu zu lesen: «Mit jedem dieser Todesfälle erlischt eine wertvolle Arbeitsmaschine und die Produktionskosten dieser Arbeitsmaschine sind ein direkter Verlust für die Volkswirtschaft.» Der Mensch als Arbeitsmaschine … ein heute kaum mehr tolerierter Ausdruck!