Das Thuner Seefeldquartier – Gruss aus dem Fin de Siècle

Das Thuner Seefeldquartier – Gruss aus dem Fin de Siècle

Das Thuner Seefeldquartier – Gruss aus dem Fin de Siècle

Wer in unseren Tagen den Bahnhof Thun durch den südwestlichen Ausgang Richtung Mönchstrasse ver­lässt, trifft auf ein ganz besonderes Thuner Quartier, das durch grosszügige, fächerförmig angelegte Strassen, attraktive Alleen und viele grösstenteils erhaltene, jahr­zehntealte Gebäude und nur wenige moderne Häu­ser gekennzeichnet ist: das Thuner Seefeld, ein Villenquartier, das seit den 1870er-Jahren überbaut wurde und das auch heute noch an die Belle Époque und das Fin de Siècle erinnert. Es ist ein Quartier, das eine interessante und vielfältige Geschichte aufweist.

Text: Dr. Jon Keller, Historiker |  Fotos: Christine Hunkeler, Stadtarchiv Thun

«Wer heute das Seefeldquartier durchstreift, nimmt das Gebiet durchaus als «grüne Lunge» mit üppigem Grün wahr.»

Das heutige Stadtquartier Seefeld (die Flur hiess früher Esel­matte) befindet sich südlich des Bahnhofs Thun und wird eingegrenzt durch die Mönchstrasse, die Frutigenstrasse und die Schadaustrasse, wobei festgehalten werden muss, dass das Seefeld einst ein viel grösseres Areal umfasste, denn der 1923 eröffnete Thuner Bahnhof mit seinen zahlreichen Gleisen wurde auf Seefeldboden erstellt, sodass viele Wohnbauflächen verlorengingen. Wer heute das Seefeldquartier durchstreift, nimmt das Gebiet durchaus als «grüne Lunge» mit üppigem Grün wahr. Die oft grossflächigen Privatgärten weisen einen schönen Bestand an Bäumen verschiedenster Sorten und an Sträuchern vor. Zusätzlich sind auch die Alleen zu nennen, welche die Strassen säumen. Das dominierende Grün war schon immer ein Charakteristikum des Seefelds, denn bereits 1876 stand in der damaligen Tagespresse zu lesen: «Im Seefeld gedeihen die Baumanlagen um die Wette.»

Dreifelderwirtschaft

Vor 1870 sah das Seefeld noch ganz anders aus. Anstelle der heutigen Gebäude und Strassen bestanden grosse Gemeinschafts­ackerfluren, auf denen damals die Dreifelderwirtschaft durchgeführt wurde. Seit dem 14. Jahrhundert sind in Urkunden drei grosse Zelgen südlich von Thun erwähnt. Abwechslungsweise wurde Sommergetreide und Wintergetreide angepflanzt, und dann wurde die Zelge für eine Periode zur Regenerierung brach gelassen. Das Thuner Seefeld lag in der «Obren Zelg», wie in einer Urkunde von 1349 vermerkt ist. Die Dreifelderwirtschaft verpflichtete die Land­wirte einst zu einem gewissen Flurzwang, da Pflügen, Aussäen und Ernten gemeinschaftlich und ungefähr zur gleichen Zeit vorgenommen werden mussten.

Motto «Hebung Thuns als Fremdenort»

Wie ist es zur Überbauung des Seefelds gekommen? 1872 wurde die Baugesellschaft Thun, eine Aktiengesellschaft, gegründet, die sich als Ziel die «Hebung Thuns als Fremdenort» setzte, ein Marketingprojekt jener Zeit. Die Baugesellschaft erwarb damals von der Stadt Land auf dem heutigen Seefeldareal, das mit Strassen und Alleen erschlossen wurde, in der Hoffnung, Investoren würden hier Hotels errichten. Dieser Wunsch erfüllte sich nicht, weshalb die Baugesellschaft in der Folge selbst ein Hotel errichtete, das Luxushotel Thunerhof, das aber nicht auf dem Seefeld, sondern in Thun-Hofstetten erbaut wurde. Das Seefeld wurde dann parzelliert und Privatpersonen zur Erstellung von herrschaftlichen Wohnhäusern angeboten. Die Parzellierung der 1870er-Jahre sah sehr grossflächige Parzellen vor, die kaum einen Käufer fanden. Aus diesem Grund wurden in den 1890er-Jahren die Parzellen in kleinere aufgeteilt, weshalb sie in der Folge sehr gut verkauft werden konnten. Die Überbauung des Seefelds ab den 1870er-Jahren erfolgte gleichsam jahrringartig und fächerförmig vom Kern (dem heutigen Bahnhofsgelände) aus über die Innere, Mittlere und Äussere Ringstrasse Richtung Süden zur Schadaustrasse, wo damals das Gebiet der ehemaligen Einwohnergemeinde Strättligen begann. Ganz am Rande sei hier noch erwähnt, dass im äus­seren (südlichen) Seefeld in vergangenen Jahrhunderten der in Urkunden vermerkte «Allmendingen Kilchweg» verlief, den die Bewohner von Allmendingen benutzten, um einst den Gottesdienst in der Kirche Scherzligen zu besuchen.

Infrastruktur einer modernen Stadt

Für die zahlreichen Neubauten im Seefeld musste natürlich auch eine dazugehörende, städtischen Massstäben genügende Infrastruktur geschaffen werden. So beschloss 1900 die Versammlung der Einwohnergemeinde Thun (der Thuner Stadtrat, das Parlament, wurde erst 1919 eingeführt), das Seefeld der zentralen Kanalisation mit einem Sammelkanal entlang dem Weg bei der Thuner Mühle anzuschliessen. Zur heutigen Infrastruktur gehört auch eine geordnete Kehrichtabfuhr. In der Gegenwart eine Selbst- verständlichkeit, aber das war nicht immer so. Eine wöchentliche Kehrichtabfuhr wurde im Seefeld erst 1903 eingeführt. Die elektrische Strassenbeleuchtung, welche die Gasbeleuchtung ablöste, wurde immer wieder erneuert und auf den neusten technischen Stand gebracht, letztmals 1991 mit einem Aufwand von zwei Millionen Franken.

Lehmgewinnung für Ziegeleien

Bis in die 1920er-Jahre wurde auf dem Seefeld Lehm in diversen Lehmgruben aus­gebeutet. Eine rund 50 Zentimeter umfassende Schicht von dunkelgrauem Lehm erlaubte es den Firmen Schrämli in Thun- Hofstetten und König in Steffisburg-Glockental, Lehm zu gewinnen, der dann zu Dach- und Mauerziegeln verarbeitet wurde. Die Lehmförderung begann um 1850 und dauerte bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges, als Lehmgruben in einem attraktiven Villenquartier als störend angesehen wurden, zeitigten die Gruben doch unangenehme Nebeneffekte und Schattseiten. Restwasser in den Gruben zogen Schwärme von Mücken an und verursachten üble Gerüche. Oft wurden die Gruben auch als unrechtmässige Abfalldeponien missbraucht. Die schweren Pferdefuhrwerke schliesslich, die den Lehm abtransportierten, verursachten Schäden an Strassen, Trottoirs und Alleebäumen.

Architekten-Prominenz

Namhafte Architekten waren es, die im Seefeld am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts markante Villen und Wohn­häuser erbauten. Architekten, die auch in anderen Teilen der Stadt Thun wichtige und prägnante Bauten erstellten. Genannt seien auswahlsweise Alfred Lanzrein, Johann Matdies, Friedrich Hopf, Hans Tschaggeny und Jacques Wipf, Namen, die in der Thuner Chronik immer wieder auftreten und die auch heute nicht vergessen sind.

Jugendstil, Heimatstil, Klassizismus

Zahlreich sind die Baustile, die bei den um 1900 erstellten Bauten auszumachen sind: beispielsweise Klassizismus, Jugendstil und Schweizer Heimatstil mit chaletartigen Bauten. Das zeigt sich auch bei den zahlreichen Ornamenten mit Glas-, Holz- und Eisenarbeiten, weshalb jedem Gebäude ein besonderes Charakteristikum eigen ist. 

Parkanlage für die Öffentlichkeit

Im Seefeld stehen heute etliche Gebäude, die von der Öffentlichkeit genutzt werden. Zu nennen ist das Gymnasium Thun (Standort Seefeld), das in einem Gebäude einquartiert ist, das 1921/22 als staatliches Lehrerinnenseminar im palastartigen, neubaro- cken Heimatstil erbaut wurde, mitten in einer sehr attraktiven Parkanlage, die der Bevölkerung als grüne Lunge offensteht. Im Laufe der Zeit wurden diverse Erweiterungsbauten erstellt, so eine Turnhalle und ein Verwaltungstrakt. Einige Neubauten indessen wussten nicht allen zu gefallen, sprach doch der Seefeld-Leist 1986 von «kraftwerkähnlichen Betonklötzen». Weiter ist zu nennen die 1972 erstellte Gewerbeschule Thun, die heute Berufsbildungszentrum IDM Thun heisst. Daneben steht die 1947/48 erbaute ehemalige Gewerbeschule, die dann als Kaufmännische Berufsschule diente und heute als Wirtschaftsschule Thun bezeichnet wird. 1989 bis 1991 wurde das Gebäude renoviert und mit einem Anbau auf der Nordseite erweitert.

Repräsentative Bauten

Wer in unseren Tagen das Seefeld durchstreift, ist beeindruckt von zahlreichen grösseren und kleineren Villen mit gross­zügigen Gartenanlagen. Zwei von ihnen sollen kurz betrachtet werden. Ein sehr re­präsentativer Bau ist die Villa Séquin an der Niesenstrasse 10, in der heute Gymna­siumsklassen unterrichtet werden. Erbaut wurde sie 1907 durch den Zürcher Architekten L. Hauser für den Bauherrn und Besitzer Oberleutnant Carl Séquin, der Chef der Sektion Schiessversuche in der Kriegstechnischen Abteilung auf dem Waffenplatz Thun war. Charakteristisch für diese Villa im Jahrhundertwendestil sind das Knickwalmdach, der Treppenturm, ein Verandazimmer und ein Erker, garniert mit dekorativen Jugendstilelementen. Auch die Villa Lüthi an der Mittleren Ringstrasse 8A wird heute vom Gymnasium Thun zu Unterrichtszwecken benutzt. Sie wurde 1912 durch den renommierten Thuner Architekten Alfred Lanzrein erbaut und hiess damals «Sonnmatt». Besitzer war der Thuner Chirurg Dr. Albert Lüthi, der vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg chirurgischer Chef­arzt im Thuner Bezirksspital (wie es damals hiess) war.