100 Jahre Neubau Bahnhof Thun

100 Jahre Neubau Bahnhof Thun

100 Jahre Neubau Bahnhof Thun

Im Jahr 1923, vor genau 100 Jahren, wurde der neue Zentralbahnhof Thun eingeweiht, was zur Aufhebung der Bahnhöfe Thun-Stadt (heutiger Güterbahnhof) und Thun-See (Scherzligen) führte.

Text: Dr. Jon Keller, Historiker |  Fotos: Stadtarchiv Thun, zvg

Gut Ding will Weile haben» sagt ein Sprichwort. Für den neuen Bahnhof Thun, der vor 100 Jahren eröffnet wurde, hat der Sinnspruch seine absolute Berechtigung. Denn bereits 1893, also 30 Jahre vor Inbetriebnahme des neuen Bahnhofs, stand in der Thuner Tagespresse zu lesen: «Schön wäre es, wenn man sich in Thun einig würde, wo der neue Bahnhof überhaupt stehen soll.» 1859 wurde die Eisenbahnline von Bern nach Thun eröffnet mit dem damaligen Thuner Bahnhofsgebäude an der heutigen Gewerbestrasse. 1861 wurde dann die Bahnlinie bis Scherzligen verlängert, was ein bequemes Umsteigen von der Eisenbahn auf die Dampfschiffe des Thunersees ermöglichte. Der damalige Bahnhof Thun erreichte indessen schon bald seine Kapazitätsgrenze. 1859 waren es rund 46 000 Personen, die den Bahnhof während des ganzen Jahres frequentierten, 1870 waren es 61 000 Personen und 1920 331 000 Personen. Eine Vergrösserung des Bahnhofs war unbestritten. Schon bald nach Beginn der Planung eines mehr Kapazität aufweisenden neuen Thuner Bahnhofs wurde auch die Frage diskutiert, ob es nicht sinnvoll wäre, einen Thuner Zentralbahnhof zu erstellen und die bisherigen Bahnhöfe Thun und Scherzligen aufzuheben.

Bauverzögerung wegen Schiffhafens

Die Situation mit zwei Bahnhöfen in Thun und Scherzligen war zudem und nicht zuletzt auch deshalb unbefriedigend, weil drei Ländten der Thunerseeschifffahrt zu bedienen waren. Thun-Hofstetten, Thun-Freienhof (diese Ländte wurde 1904 aufgehoben) und Thun-Scherzligen. Ein zentraler Bahnhof mit einem Schiffshafen in unmittelbarer Nähe war deshalb bald einmal das allseits bevorzugte Wunschprojekt (wir haben darüber berichtet in der ThunerseeLiebi Nr. 1/2022). Zum Projekt des neuen Thuner Bahnhofs mussten sehr viele politische Gremien und kommerzielle Unternehmungen konsultiert werden: der Thuner Gemeinderat, der Stadtrat und die Gemeindeversammlung als Vorgängerin des Thuner Stadtrates, der kantonalbernische Grosse Rat und der Regierungsrat, aber auch Bundesrat sowie National- und Ständerat, weiter aber auch die SBB (und die Centralbahn, die 1901 in den SBB aufging), die Burgdorf-Thun-Bahn (1899 gegründet), die Gürbetal-Bern-Schwarzenburg-Bahn (1901), die Rechtsufrige Thunerseebahn (STI, 1913) und schliesslich die BLS (1913). Aber auch die Dampfschifffahrtsgesellschaft des Thunersees und der Verkehrsverein Thun wollten natürlich ein Wörtchen mitreden. Gutachten und Gegengutachten wurden zuhauf ausgearbeitet.

Einweihungsfeier und Volksfest

1919 war es dann endlich so weit: Die definitiven Pläne von Theodor Nager, Chefarchitekt der SBB, und von Baumeister Josef Merz (Thun) wurden genehmigt, und im Herbst 1920 konnte mit ersten Arbeiten, namentlich Aushubarbeiten von Erdreich, begonnen werden. Am 30. Mai 1923 fand schliesslich eine Einweihungsfeier in kleinerem Rahmen statt, und am 1. Juli 1923 folgte ein eigentliches Volksfest zur Einweihung des neuen Bahnhofs und der neu erstellten Bahnhofbrücke. Musikkorps, einige Männerchöre und ein Chor der Thuner Schuljugend präsentierten Musik- und Gesangsvorträge. Zudem fand ein Festumzug statt, an dem die Musikkorps und die Thuner Kadetten teilnahmen. Diverse Festredner würdigten den Neubau des Bahnhofs, ohne die jahrzehntelange Entstehungsgeschichte auszublenden. Der damalige Stadtpräsident Paul Kunz sprach gar von einer «Leidensgeschichte», aber betonte auch die Wichtigkeit des neuen Bahnhofs für den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt. Der alte Thuner Bahnhof an der heutigen Gewerbestrasse wurde sorgfältig demontiert und nach Olten transferiert, wo er teilweise weiterverwendet wurde.

Der neue Bahnhof: palastartig und monumental

Der Stil des neuen Thuner Bahnhofs, der ja mächtig wirkt wie ein Palast, wird in der Fachsprache als neubarocker Heimatstil bezeichnet. Das Innere wurde 1923 auch künstlerisch ausgeschmückt. Mit Wandgemälden, die zum Teil auch heute noch vorhanden sind. So ein Reklame-Wandgemälde des Basler Künstlers Alfred Heinrich Pellegrini (1881–1958) von den Schweizerischen Metallwerken Selve in Thun. Ein weiteres Wandgemälde stammt vom Thuner Maler Werner Engel (1880–1941). Es stellt ein Marktschiff von ehedem dar, auf dem eine Bäuerin mit landwirtschaftlichen Frischprodukten auf dem Thunersee Richtung Thun fährt.

Neue Bahnhofstrasse

Der Neubau des Thuner Bahnhofs hatte auch grosse räumliche Folgen für das gesamte dortige Gebiet. So musste die alte Scherzligbrücke einer neuen und viel breiteren Bahnhofbrücke, wie sie nun geheissen wurde, mit einer etwas veränderten Linienführung weichen. Zudem entstand die heutige, breit angelegte Bahnhofstrasse. Die alte, mit Alleen umsäumte Bahnhofstrasse beim ehemaligen Thuner Bahnhof, wo heute der Güterbahnhof liegt, wurde in Gewerbestrasse umbenannt. Für die Anlage der zahlreichen Geleise musste auf Terrain des Villenquartiers Seefeld zurückgegriffen werden, mit Abbruch von diversen Häusern. Anstelle von vier Niveauübergängen mit Barrieren, die oft geschlossen waren, wurden die heutigen, sehr stark frequentierten Unterführungen errichtet.

Alter Wartsaal und einstiges Bahnhofbuffet aufgehoben

Seit seiner Eröffnung 1923 erfuhr der Thuner Bahnhof immer wieder und in schöner Regelmässigkeit Umbauten und Änderungen organisatorischer Art. So wurde beispielsweise, ein Kuriosum aus heutiger Sicht, 1926 auf Perron 2 ein Billettautomat für Schnellzugszuschläge aufgestellt. 1924 wurde das Verkehrsbüro, Vorgänger des heutigen Thun-Thunersee Tourismus, von der Hofstettenstrasse in den neuen Bahnhof verlegt. 1989 wurde der althergebrachte Wartsaal aufgehoben, weshalb heute die grosse, zentrale Bahnhofhalle als Warteraum dient. Einen zusätzlichen Ersatz bilden auch die Wartehallen auf den Perrons, die seit 1983 Reisende vor Regen und Kälte schützen, was die Zugpassagiere sehr zu schätzen wissen. Auch das traditionsreiche Bahnhofbuffet, das ein gehobenes Speiselokal mit gaumenschmeichelnder Küche darstellte, wurde 2014 aufgehoben, gemäss den SBB wegen mangelnder Nachfrage. An der Stelle, wo sich das Buffet befand, sind Schnellimbiss-Lokale und Cafeterien entstanden. Auch diverse Verkaufsgeschäfte mit Artikeln des täglichen Gebrauchs haben in der jüngeren Vergangenheit Platz im Bahnhof gefunden. 1997 wurde zudem eine saubere, aber kostenpflichtige WC-Anlage eröffnet.

Dienstmänner … ein Beruf von ehedem

Da der Bahnhof Thun auch von Feriengästen und Touristen frequentiert wurde, gehörten einst auch Dienstmänner zum alltäglichen Bild. Sie transportierten Koffer von der Eisenbahn zu den Schiffen, zum Tram, zu Bussen oder zu Taxis. Dank Rollkoffern und Trolleys ist der Dienstmann heute überflüssig geworden. Auch im technischen Sektor sind in den vergangenen Jahrzehnten Änderungen und Neuerungen eingetreten. So arbeitet seit 1965 der Rangiermeister nicht mehr mit Hornsignalen, sondern mittels Funkgeräten. Auch der Abfahrtsbefehl durch den Souschef mit der Kelle in der Hand wird seit 1957 mit Lichtsignalen geregelt. 2004 wurde ein neues Stellwerk in Betrieb genommen, aber der Schienenverkehr wird heute elektronisch ferngesteuert. Nicht zuletzt dank dieser elektronischen Steuerung und Überwachung sind Entgleisungen in unseren Tagen selten geworden, ganz im Gegenteil zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, als Entgleisungen viel häufiger zu verzeichnen waren, zumeist mit geringen negativen Folgen. Ein viel beachtetes Novum waren 1969 die ersten Billettautomaten, die im Thuner Bahnhof aufgestellt wurden.

Könige im Bahnhof Thun …

Den Duft der grossen weiten Welt und Europas bringen in unseren Tagen internationale Züge nach Thun, so der deutsche ICE, die italienische Trenitalia, und zeitweise war auch der französische TGV in Thun zu sehen. Dass auch viel Prominenz im Laufe der Jahrzehnte den Thuner Bahnhof frequentierte, wird nicht erstaunen. Beispiele gefällig? 1860 war es König Maximilian II. von Bayern, 1897 König Chulalongkorn Rama V. von Siam oder 1929 König Fuad I. von Ägypten.