Das Velschenhaus – historisches Bauwerk mit modernem Inhalt
Das Velschenhaus – historisches Bauwerk mit modernem Inhalt
Zu einem schönen Dorf- oder Stadtzentrum gehören gepflegte Häuser. Auch der Thuner Rathausplatz lebt von wunderbar sanierten Gebäuden. Das Velschenhaus an der Gerberngasse ist eines von ihnen – es gehört zu den ältesten der Stadt.
Text und Fotos: Beat Straubhaar
Gemäss Dokumentationen der Denkmalpflege des Kantons Bern und historischen Publikationen wurde die Thuner Unterstadt um 1250 als Erweiterung des Stadtgebiets aufgebaut. Das Gebäude Gerberngasse 1 ist nach dem Thuner Historiker und Burgerarchivar Peter Küffer erstmals 1358 im Udelbuch erwähnt. Die ersten Besitzer waren Heinrich von Velschen und sein Sohn Werner.
Bewegte Geschichte
In den seither vergangenen über 650 Jahren erlebte das markante Eckhaus an der Gerberngasse 1, direkt neben dem Thuner Rathaus, viele Besitzer und Nutzungen. Die geschichtlich interessanteste Figur dürfte Anna von Velschen im 14. Jahrhundert gewesen sein. Ihr Vater hatte sie als Einzelkind durch die Mönche im Predigerkloster ausbilden lassen, wie wenn sie ein Junge gewesen wäre. So lernte sie Sprachen, konnte rechnen und war auch in musischer Hinsicht vielen Zeitgenossinnen voraus. Anna von Velschen heiratete 1393 Petermann von Krauchtal, den Schultheissen in Thun und später in Bern. Nach seinem Tod im Jahre 1425 versteuerte sie das grösste Vermögen in der Stadt Bern und wurde reichste Bernerin. Sie hatte offenbar ein grosses Herz: Der Kirche Scherzligen spendete sie einen Bildteppich und vor ihrem Tod schenkte sie ihre Besitzungen, auch das Velschenhaus, dem Kartäuserkloster Thorberg.
Als Verwaltungsgebäude
Weil das Haus im Besitz des Klosters war, kam in Thun die Meinung auf, die Stadt verfüge nun über ein Kloster. Auf alten Postkarten ist das Velschenhaus mit dem Text «Ehemaliges Kloster» abgebildet. Das Kloster nutzte das Gebäude jedoch als Sitz für die Verwaltung. In dieser Zeit durchgeführte Bauarbeiten reichen bis in die heutige Zeit. Die Jahrzahl 1512 auf dem Fenstersturz im ersten Stock ist der Beweis dafür. Ob die auffallenden gotischen Fenster zu dieser Zeit eingebaut und von der damals abgebrochenen St. Niklauskapelle stammen, bleibt auch für den Historiker Küffer eine offene Frage. Bekannt ist, dass damals der Rindermarkt durch Abbruch mehrerer Häuser im Umfeld zum heutigen Rathausplatz erweitert wurde. Bei der Reformation eingangs des 16. Jahrhunderts gingen alle Klostergüter an den Staat Bern. Die Berner sahen im Velschenhaus keinen Nutzen mehr und liessen es durch den Schultheissen in Thun verkaufen.
Arbeitsstätte und «Wirtschaft»
Seither befand sich das Haus während fast 500 Jahren in Privatbesitz. Einst diente es einem Kupferschmied und einem Gerber als Arbeitsstätte, im Stall neben dem Haus hausten Schweine. In alten Schriftstücken taucht 1878 erstmals zum Wohnhaus auch der Begriff «Wirtschaft» auf. Dreizehn Jahre später kaufte der Spanier Don Joachim Albareda, ein Thuner Weinhändler, das Gebäude. Auf alten Fotos ist die übergrosse Werbetafel «Spanische Weinhalle» an der Ecke zum Rathausplatz ersichtlich. 1928 erstanden Juan und Theresa Barba das Haus und ihr Sohn Juan und seine Gattin Marianne liessen es 1964 umbauen. Vier Jahre später wurde im ersten Stock ein Speisesaal, der sogenannte «Rittersaal», eingebaut. Über 30 Jahre hatte das «Casa Barba» einen klingenden Namen und gehörte zu den ersten Gastronomie-Adressen der Stadt.
Der Rindermarkt wurde durch Abbruch mehrerer Häuser zum heutigen Rathausplatz erweitert.
Schwierige Gesamtsanierung
Im Juli 2001 ersteigerte der erfolgreiche Unternehmer Paul Jenni das denkmalgeschützte Gebäude mit regionaler Bedeutung. Der heute in der Toskana lebende gelernte Uhrmacher begann seine Geschäftstätigkeit mit der Gründung zweier Firmen in Heimberg und Uetendorf. So gehörten recht schnell auch Immobilien zu seinem Tätigkeitsgebiet. Eine stach ihm besonders ins Auge – das Velschenhaus, sein Lieblingsobjekt. Nach Expertisen und Abklärungen der Archäologie und der Denkmalpflege entschied sich der neue Besitzer – zur Erhaltung des Gebäudes – für eine Gesamtsanierung. Die Böden und der Dachstock hatten Einsturzpotenzial. In den Jahren 2003/04 verbaute Paul Jenni sechs Millionen Franken im historischen Gebäude – es entstand das Hotel-Restaurant Rathaus. Beim Umbau half seine Tochter Irene Lüthi-
Jenni als Hochbauzeichnerin tatkräftig mit. Sie ist heute die rechte Hand des Vaters und seine Liegenschaftsverwalterin. «Der Platz, die Lage und der Blick zum Schloss sind einmalig», schwärmt sie. Und auf den sehr teuren Umbau angesprochen meint die Sigriswilerin: «Für meinen Vater wäre eine oberflächliche Sanierung schade gewesen.»
Imposanter Dachstuhl
Das Hotel Rathaus erhielt beim Umbau einen Keller, in dem heute die Küche untergebracht ist. Im ersten Stock wurden vier Hotelzimmer und eine grosszügige Suite eingebaut, die über einen abgeschlossenen Aufgang erreichbar sind. Das Deckenholz im Restaurantbereich des Parterres ist zwar immer noch original, aber nur noch dekorativ und nicht mehr tragend. Gerade bei den Decken musste dem Gebäude mehr Stabilität gegeben werden. Der komplett erhaltene Dachstuhl, in dem früher mit grosser Wahrscheinlichkeit Häute getrocknet wurden, war bis vor dem Umbau offen. Die meisten der jahrhundertealten Balken befanden sich in gutem Zustand. Mit Hilfe moderner Sicherungstechnik, Verglasungen und neuem Unterdach konnte der Dachboden zu einem imposanten, stimmungsvollen Bankettsaal, dem Velschensaal, umgebaut werden. «Altehrwürdig und modern», dieses Motto wurde beim gesamten Umbau durchgezogen, erklärt Irene Lüthi-Jenni. Unter diesem Aspekt sei auch der aareseitige Anbau als Wintergarten entstanden.
Das Restaurant mit italienischer Küche wird seit acht Jahren erfolgreich geführt durch Alex Ipavec. Davor war dieser während 25 Jahren im «Pizzicata» im Bälliz zu finden, bis er wegen des anstehenden Hausverkaufs ausziehen musste.