Äquilibristik zwischen Kraft und Zerbrechlichkeit
Äquilibristik zwischen Kraft und Zerbrechlichkeit
Vor fast zwei Jahrzehnten hat es der Spiezerin Anna Schmid an einem Skulpturen-Kurs im Tessin den Ärmel reingezogen. Das Kreativitätsgen hatte sie aber schon vorher: ob als angehende Kindergärtnerin am Kindergärtnerinnenseminar in Spiez oder als Schauspielerin in einer freien Theatergruppe in Bern, Lausanne und Genf. Schlussendlich war es aber das Holz, das die Bildhauerin künstlerisch ange- zogen und nie mehr losgelassen hat.
Text: Renate Hodel | Fotos: Michael Meier, Thun
Seit sich Anna Schmid die Holzbildhauerei fast ausschliesslich autodidaktisch beigebracht hat, entstehen in ihrem Atelier vor allem zerbrechlich und bemerkenswert filigran wirkende Skulpturen aus Holz.Die Bildhauerei als traditionelle Form der Kunst hat Anna Schmid schon vor siebzehn Jahren in ihren Bann gezogen. Damals besuchte sie zum ersten Mal einen Holzbildhauer-Kurs in der Scuola di Scultura in Peccia im Tessin und ist dem Arbeiten mit Holz seither treu geblieben. Inzwischen sind noch mehr technische und gestalterische Kurse und vor allem viele konstruktive Begegnungen mit anderen, dem Holz verfallenen Menschen dazugekommen. Der ständige Austausch sei eine Spezialität von «Holzleuten», sagt Anna Schmid. Schon öfters haben Förster, Schreiner, Zimmermänner und -frauen ihr Wissen mit ihr geteilt und ihr ab und zu auch schon den einen oder anderen Tipp geben können. Dieses Miteinander ist aussergewöhnlich und für Anna Schmids Schaffen von unschätzbarem Wert.
«Kunst zeigt uns, dass die Welt nicht nur aus Alltag besteht», sagt Anna Schmid – trotzdem ist es ihr wichtig, den Bezug zum Alltag und Alltäglichen nicht zu verlieren. Gerade im Alltag und in der Gesellschaft holt sie sich auch die Inspiration für ihre Skulpturen und Installationen. Zum Teil ganz elementare Dinge wie die Strömungen des Wassers, Türme, Tore, aber auch Anstösse aus der Palliativmedizin können Anna Schmid zu einer ganzen Reihe von Kunstwerken inspirieren.
Anna Schmid ordnet ihre Holzskulpturen in künstlerische Themenkreise mit klingenden Namen wie «Equilibre», «Colonna» oder «Silence». Dass die gewählten Bezeichnungen nicht nur hübsch klingen und von ungefähr kommen, zeigt sich dem Betrachter spätestens, wenn er die fragilen Wunderwerke sieht: Rhythmus und Gleichgewicht stehen bei Anna Schmids Arbeit im Fokus. Die Künstlerin schafft es, aus dem währschaften und beständigen Material Holz Formen zu kreieren, die so unglaublich zerbrechlich wirken, dass man meinen könnte, sie würden beim kleinsten Windhauch in sich zusammenfallen. Da ist es doch äusserst faszinierend und für den Betrachter kaum zu glauben, dass Anna Schmid vorwiegend mit einer brachialen Motorsäge arbeitet und so packende Kunstwerke schafft, die – widersprüchlich – vor Kraft und Fragilität gleichzeitig strotzen.
Anna Schmid liebt das Verhältnis zwischen dem Widerstand und Kampf der physischen «Büez» und dem grazilen Schönen, das aus der Auseinandersetzung zwischen Material, Werkzeug und Künstler entstehen kann. Äquilibristisch sind also nicht nur ihre Skulpturen, nein, die Holzbildhauerin wird gleich selbst zur Gleichgewichtskünstlerin. Man stelle sich vor, was für ein ohrenbetäubender Lärm in ihrem Atelier herrschen muss, wenn sie mit der groben Kettensäge gerade an einer neuen Skulptur arbeitet, und welche fast schon beengende Stille und Anmut diese dann ausstrahlen kann, wenn sie einmal fertig ist.
So vielseitig, lebendig und dynamisch wie das Material selbst, so vielseitig ist auch Anna Schmids Arbeit, bis zu den fertigen – ebenso vielseitigen – Werken.
Meist arbeitet Anna Schmid mit Lindenholz, dies sei ein äusserst gutmütiges, neutrales Holz mit relativ wenig Spannung. Trotzdem kommt es öfters vor, dass das Holz die Form einer Skulptur bestimmt. Äste, Maserung oder eben die Spannung des Holzes können sehr entscheidend Einfluss auf die Entstehung eines Kunstwerkes nehmen. Holz «arbeitet» fortwährend, deshalb sind Anna Schmids Skulpturen in der Regel drei Monate vor einer Ausstellung fertig, damit sie sehen kann, wie das Holz sich verhält: «Sollte es sich doch einmal spalten, stört das bei den meisten Werken nicht, es sind ja organische Werke, und bei manchen Skulpturen will ich es sogar.»
Wenn Anna Schmid nicht mit ihren Skulpturen beschäftigt ist, findet man sie draussen in der Natur, wo sie eindrucksvolle und fingerzeigende Installationen mit hohem assoziativem Wert aus Möbeln und Alltagsgegenständen baut.
Anna Schmids Kunst macht aufmerksam, testet Grenzen, verbindet und berührt. Ob Skulpturen oder Installationen – die Leidenschaft von Anna Schmid ist bei all ihren Werken spürbar: «Es ist eine grosse Freiheit, Kunst machen zu dürfen, aber man muss das Alleinsein ertragen können.»