Von Klangholz und Bettelhörnern
Von Klangholz und Bettelhörnern
Hoch oben über Interlaken im kleinen, malerischen Dorf Habkern steht das Chalet, in dem der Alphornbauer Heinz Tschiemer seine Instrumente herstellt. Vor zwölf Jahren hat er das Bernatone-Geschäft übernommen, ohne je ein Alphorn gebaut zu haben – ein Schritt ins Ungewisse, der sich gelohnt hat.
Text: Lena Kissóczy | Bilder: zvg
Während der Bildhauer früher hauptsächlich Vorlagen für seine Plastiken skizzierte, entstanden ab 1987 eigenständige kreative Zeichnungen.
Mit Holz kennt sich Heinz Tschiemer dank dem Familienbetrieb aus – der Alphornbau war aber völliges Neuland für ihn, als er das Bernatone-Geschäft vor zwölf Jahren übernahm. Gelernt hat er das Handwerk, indem er einfach damit begonnen hat, denn «es gibt keine Ausbildung als Alphornbauer», wie er erklärt. Bis man den Dreh raus hat, kann es gut einige Jahre dauern – mittlerweile arbeiten seine Hände aber wie von selbst. Es ist eine erdende, meditative Arbeit, genau das, was Heinz Tschiemer bei seiner früheren Arbeit als Produktmanager einer grossen Firma vermisst hatte. Trotzdem war die Entscheidung, ins kalte Wasser zu springen und den Alphornbetrieb ohne jegliche Vorerfahrung zu übernehmen, gewiss keine einfache. «Jugendlicher Übermut», erklärt Tschiemer seinen Entschluss. Das Risiko hat sich aber gelohnt – heute läuft das Geschäft hervorragend. 50 bis 60 Alphörner produziert Heinz Tschiemer mittlerweile pro Jahr – so viele wie kein anderer Alphornbauer in der Schweiz.
Trotzdem stellt er alle Hörner selbst her – nur die mächtigen CNC-Maschinen, die in seiner Werkstatt stehen, helfen ihm dabei. Trotz Maschinen ist jedes einzelne Alphorn mit noch einmal über 50 Stunden Handarbeit verbunden. Pro Monat schafft er es, eine Serie mit etwa vier bis sechs Hörner herzustellen. Die Kunden, die ein Horn vorbestellt haben, können dann in der Werkstatt vorbeikommen und sich das passende Horn aussuchen. Dieser Aussuchungsprozess ist bei Instrumenten extrem wichtig, denn nicht jedes Horn passt zu jedem Menschen. Jedes Stück hat einen anderen Charakter und eine andere Klangfarbe, und so ist es extrem individuell, welches Instrument zu welchem Spieler passt. Das Zielpublikum setzt sich aus verschiedensten Gruppen zusammen; ein Teil der Hörner landet beispielsweise im Ausland, bei Leuten, die ihre Schweizer Wurzeln entdecken und diesen gerne näherkommen wollen. Und was gibt es dafür Besseres als den Kauf eines Schweizer Alphorns? Der Grossteil der Hörner bleibt aber in der Schweiz. Mittlerweile, durch die Mechanisierung des Herstellungsprozesses, sind Alphörner viel zugänglicher, sodass sie in jeder Bevölkerungsschicht gespielt werden. Das Alphorn hat in den letzten Jahren einen richtigen Beliebtheitsboom erlebt – die Zukunft für das langstielige Instrument, das so tief in unserer Kultur verwurzelt ist, sieht also rosig aus. Die Geschichte des Alphorns reicht tatsächlich weit zurück: Früher nutzten Alphirten das Horn, um miteinander zu kommunizieren. Das Instrument wurde aus dem Material geschnitzt, das vor Ort verfügbar war, also Holz von Nadelbäumen. Da die Stämme am Hang wuchsen, hatten sie eine natürliche Biegung und gaben so dem Alphorn die unverkennbare geschwungene Form. Diese Biegung blieb dem Alphorn bis heute erhalten, der Becher des Horns war damals allerdings viel kleiner, und statt des warmen, runden Klangs, der heute aus einem Berner Horn ertönt, trötete es scharf und hart. Erst später wurde der Becher vergrössert, und das aus einem weniger romantischen Grund. Das Horn wurde nämlich vor allem von verarmten Alpbauern als Bettelhorn genutzt, wobei die gesammelten Münzen in den Becher geworfen wurden, weshalb die Öffnung mit der Zeit vergrössert wurde. Da das Getröte und Geblase der Bettelhörner aber bald allen auf die Nerven ging, wurde das Horn schliesslich Mitte des 18. Jahrhunderts verboten. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Alphorn wieder hervorgeholt, zum Anlass des Unspunnenfests, dessen Ziel es war, den Stadt-Land-Gegensatz zu überbrücken und die Schweizer Alpentraditionen zu feiern. Das Horn wurde nicht nur im Inland zu einem wichtigen Symbol der Alpenkultur, sondern spielte auch schon früh im Tourismus eine wichtige Rolle: Auf einem Foto aus Interlaken von 1883 ist ein Junge zu sehen, der Touristen vor einem Souvenirladen das Horn vorspielt. In diesen Läden wurden kleine Alphörner verkauft, die über den Winter von den Bauern geschnitzt wurden, um zusätzlich Geld zu verdienen. Aber auch heute gilt das Alphorn immer noch als Innbegriff der Schweizer Kultur – wer an die Schweiz denkt, dem schwebt sogleich das grosse, gebogene Holzhorn mit seinem riesigen Trichter vor Augen. Veranstaltungen wie Jodlerfeste helfen dabei, die Tradition am Leben zu erhalten. Aber natürlich braucht es dazu nicht nur Alphornspieler, sondern auch Alphornbauer wie Heinz Tschiemer, die ihr Herzblut in die Herstellung der schönen Hörner stecken. Sie sind wahre Kunstwerke, die Holzinstrumente, die in unterschiedlichen Produktionsstadien überall in Heinz Tschiemers Werkstatt stehen. Es geht eine magische Anziehungskraft von ihnen aus, der man sich fast nicht entziehen kann. Einem Mann, der mit der welschen Touristengruppe gekommen ist, geht es ebenso. Er schleicht sich noch einmal in die Werkstatt, nachdem die Gruppe sie bereits verlassen hat, und streicht bewundernd über ein geschnitztes, ungehobeltes Holz, das bereits die typische Hornform innehat. «Magnifique», bemerkt er beeindruckt zu Heinz Tschiemer. «Beau travail. Très beau.»
Und schön sind sie wirklich, diese kuriosen Instrumente. Auch Heinz Tschiemer haben die Instrumente in den Bann geschlagen, er verbringt fast jeden Tag von früh bis spät in der Werkstatt. Aber wenn Arbeit keine Arbeit ist, sondern pure Leidenschaft, gibt man gerne seinen Sonntagnachmittag dafür her. Und solange diese Leidenschaft noch anhält, macht Heinz Tschiemer weiter mit dem Alphornbau.